Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlängerung der Dreitagesfrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermuteten Bekanntgabe bis zum nächsten Werktag
Leitsatz (NV)
Die Dreitagesfrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermuteten Bekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977) verlängert sich, wenn das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt, bis zum nächstfolgenden Werktag.
Normenkette
AO 1977 § 108 Abs. 3, § 122 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte den Erlass der für 1992 bestandskräftig festgesetzten Einkommensteuer aus persönlichen Billigkeitsgründen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) lehnte den Erlassantrag ab. Der nachfolgende Einspruch blieb ebenfalls erfolglos. Die Einspruchsentscheidung vom 7. Mai 1998 (Donnerstag) wurde mit einfachem Brief an den Prozessbevollmächtigten des Klägers bekannt gegeben. Die dagegen erhobene Klage ging am 12. Juni 1998 beim Finanzgericht (FG) ein. Die Klageschrift enthielt den Hinweis, die Einspruchsentscheidung sei dem Prozessbevollmächtigten erst am Montag, dem 11. Mai 1998, zugegangen. Der 11. Juni 1998 war in Nordrhein-Westfalen ein Feiertag (Fronleichnam).
Das FG wies ―nach Vernehmung einer Mitarbeiterin des Prozessbevollmächtigten als Zeugin― die Klage als unzulässig ab, weil sie verspätet erhoben sei (Urteil vom 23. August 2000 5 K 4463/98, Entscheidungen der Finanzgerichte 2001, 470). Die Einspruchsentscheidung gelte gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) am Sonntag, dem 10. Mai 1998, als bekannt gegeben. Zwar sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sowie nach dem vorgelegten Original der Einspruchsentscheidung und dem Fristenkontrollbuch des Prozessbevollmächtigten davon auszugehen, dass die Einspruchsentscheidung tatsächlich erst am Montag, dem 11. Mai 1998, in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten abgegeben worden sei. Darauf könne sich der Kläger aber nicht berufen; denn sein Prozessbevollmächtigter habe mit den jeweiligen Postboten vereinbart, eingehende Sendungen nicht am Samstag, sondern erst am Montag zuzustellen. Es sei nicht auszuschließen, dass ohne diese Absprache die Einspruchsentscheidung bereits am Samstag, dem 9. Mai 1998, zugegangen wäre.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie die Einspruchsentscheidung und den Ablehnungsbescheid des FA aufzuheben und die Einkommensteuer 1992 in vollem Umfang zu erlassen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es hält die Vorentscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FG hat die Klage unter Verstoß gegen § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 zu Unrecht als verspätet abgewiesen; es hat die Begründetheit der Klage nicht geprüft. Dies muss es nachholen.
1. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
a) Es kann offen bleiben, ob das FG diese Vorschrift schon deshalb unzutreffend angewendet hat, weil es die Zugangsvermutung, nach der die Einspruchsentscheidung dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, nach bisheriger Rechtsprechung also am Sonntag, dem 10. Mai 1998, als bekannt gegeben galt, nicht als erschüttert angesehen hat, obwohl es aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme festgestellt hatte, dass die Einspruchsentscheidung tatsächlich erst am Montag, dem 11. Mai 1998, beim Prozessbevollmächtigten eingegangen war.
b) Die Vorentscheidung ist im Ergebnis jedenfalls deshalb mit § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 unvereinbar, weil die in dieser Norm geregelte Frist zwischen Aufgabe zur Post und vermuteter Bekanntgabe gemäß § 108 Abs. 3 AO 1977 erst am Montag, dem 11. Mai 1998, geendet hat.
Gemäß § 108 Abs. 3 AO 1977 endet, wenn das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend fällt, die Frist mit dem Ablauf des nächstfolgenden Werktages. Wie der Senat mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 14. Oktober 2003 IX R 68/98, unter Änderung der Rechtsprechung entschieden hat, ist derDreitageszeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 eine "Frist" in diesem Sinne. Danach verlängert sich die Dreitagesfrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermuteten Bekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977), wenn das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt, bis zum nächstfolgenden Werktag, im Streitfall also bis zum Montag, dem 11. Mai 1998. Wegen der Begründung wird auf das Urteil IX R 68/98 Bezug genommen.
2. Da die Vorentscheidung auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, ist sie aufzuheben. Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Sie ist rechtzeitig erhoben, da die Einspruchsentscheidung erst am 11. Mai 1998 als bekannt gegeben gilt, der 11. Juni 1998 ein Feiertag war und die Klage am 12. Juni 1998 beim FG eingegangen ist (vgl. § 47 Abs. 1 Satz 1, § 54 FGO, § 222 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat die ablehnende Entscheidung des FA über den auf persönliche Billigkeitsgründe gestützten Erlassantrag des Klägers bisher nicht in der Sache überprüft und dazu auch keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Das ist im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
Fundstellen