Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Erklärungen
Leitsatz (NV)
Geht aus einem an das Finanzamt gerichteten Schreiben hervor, dass der Berater noch die Rechte seiner Mandanten wahren will, kann dieses Schreiben, um einen möglichst angemessenen Rechtsschutz zu gewähren, als Einspruch auszulegen sein.
Normenkette
AO 1977 §§ 347, 351, 365 Abs. 3 S. 1; FGO § 42
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind miteinander verheiratet. Für die Veranlagungszeiträume 1991 bis 1993 wurden die Kläger zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Nach einer Außenprüfung fertigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) unter dem 18. Juni 1996 Einkommensteueränderungsbescheide, für die Veranlagungszeiträume 1991 und 1993 gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), für den Veranlagungszeitraum 1992 gemäß § 164 Abs. 2 AO 1977. Die Bescheide waren an den Rechtsanwalt Wirtschaftsprüfer Steuerberater X adressiert. Mit Schreiben vom 19. Juni 1996 (Eingang 21. Juni 1996) teilte X mit, dass er die Kläger nicht mehr vertrete. Dem Schreiben waren die Bescheide beigefügt. Die zuständige Sachbearbeiterin vermerkte auf dem Schreiben des X: "Zustellvollmacht gelöscht; Bescheide stornieren + erneute Bekanntgabe".
Unter dem 31. Juli 1996 erließ das FA erneut Einkommensteuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 1991 und 1993, die es den Klägern bekannt gab. Unter dem 3. September 1996 erließ das FA einen Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 1992. Gegen die Bescheide legten die Kläger unter dem 15. August und dem 11. September 1996 jeweils Einspruch ein. Das FA wies die Einsprüche als unbegründet zurück.
Die Kläger haben den Änderungsbescheid für 1992 vom 5. März 1999 und die am 7. August 2000 geänderten Bescheide für 1991 und 1993 zum Gegenstand des Klageverfahrens gemacht.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage nur in geringem Umfang statt. Es hielt die Klage wegen Einkommensteuer 1991 und 1993 für unzulässig. Die Bescheide vom 18. Juni 1996 seien wirksam bekannt gegeben worden; sie seien bestandskräftig geworden und damit unanfechtbar. Unter Beachtung des § 42 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 351 AO 1977 könne daher über die Bescheide vom 31. Juli 1996 in der Sache nicht mehr entschieden werden, soweit die Bestandskraft bereits eingetreten sei. Die Klage wegen Einkommensteuer 1992 sei zulässig, da der Bescheid vom 18. Juni 1996 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gestanden habe. Sie sei aber nur teilweise begründet.
Das FG ließ die Revision "im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Fragen im Bereich der Zulässigkeit der Klage" gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zu.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts. Im Hinblick auf den Veranlagungszeitraum 1992 machen die Kläger geltend, dass Einkünfte aus Kapitalvermögen unzutreffend angesetzt seien.
Unter dem 3. November 2000 ist für den Veranlagungszeitraum 1992 ein Änderungsbescheid ergangen, den die Kläger zum Gegenstand des Verfahrens gemacht haben.
Die Kläger beantragen,
1. unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Einkommensteuerbescheid 1992 vom 3. September 1996, geändert durch die Bescheide vom 5. März 1999 und vom 3. November 2000, dahin gehend zu ändern, dass die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit mit … DM und die Einkünfte aus Kapitalvermögen mit 0 DM angesetzt werden, wobei der "Auslagenersatz" in Höhe von 10 000 DM nach § 34 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu versteuern sei,
2. das FG-Urteil wegen Einkommensteuer 1991 und 1993 aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, hilfsweise die Einkommensteuer 1991 auf … DM und die Einkommensteuer 1993 auf … DM festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Revision wegen Einkommensteuer 1992 als unzulässig zu verwerfen und im Übrigen als unbegründet zurückzuweisen.
1. Die Revision wegen Einkommensteuer 1992 sei unzulässig. Die begrenzte Zulassung der Revision auf verfahrensrechtliche Fragen führe dazu, dass die Revision nur hinsichtlich des abtrennbaren Teils des Streitgegenstandes zulässig sei. Das Streitjahr 1992 liege außerhalb der Zulassungsbeschränkung, da das FG hier die Zulässigkeit der Klage bejaht und in der Sache entschieden habe.
2. Hinsichtlich Einkommensteuer 1991 und 1993 sei die Revision unbegründet. Die Bescheide vom 18. Juni 1996 seien wirksam bekannt gegeben worden; sie seien nicht aufgehoben worden. Der Stornovermerk sei eine verwaltungsinterne Maßnahme.
Entscheidungsgründe
II. 1. Für die streitigen Einkünfte aus Kapitalvermögen des Veranlagungszeitraums 1992 ist nach dem Geschäftsverteilungsplan der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) zuständig (vgl. Geschäftsverteilungsplan für 2002 Teil A, VIII. Senat, Nr. 1 Buchst. b i.V.m. Teil A, Ergänzende Regelungen, II. Nr. 2 und III. Nr. 2). Nach den Ergänzenden Regelungen des Geschäftsverteilungsplans des BFH, I. Nr. 4 war daher insoweit das Verfahren abzutrennen und an den VIII. Senat abzugeben.
2. Bezüglich der Veranlagungszeiträume 1991 und 1993 ist die Revision begründet. Das FG-Urteil wird insoweit gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen.
Entgegen der Auffassung des FG war die Klage insoweit nicht unzulässig. Die Bescheide vom 18. Juni 1996 sind nicht bestandskräftig geworden, da das Schreiben des Beraters vom 19. Juni 1996 ―der Aufgabe der Gerichte entsprechend, einen möglichst angemessenen Rechtsschutz zu gewähren (vgl. BFH-Urteil vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201)― als Einspruch auszulegen ist. Aus dem Schreiben geht hervor, dass der Berater noch die Rechte seiner Mandanten wahren wollte. Er hat ausdrücklich betont, die Bescheide zu seiner Entlastung zurückgeben zu wollen. Aus dieser Formulierung wird deutlich, dass es ihm darauf ankam, für seine Mandanten keine Rechtsnachteile eintreten zu lassen und ihre Rechte wahren zu wollen. Die Bescheide vom 31. Juli 1996 sind gemäß § 365 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 Gegenstand des Einspruchsverfahrens geworden. Die gegen diese Bescheide gerichtete Klage hätte das FG nicht gemäß § 351 AO 1977, § 42 FGO als unzulässig behandeln dürfen. Die Sache war daher an das FG zurückzuverweisen, damit es die materielle Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide prüfen kann.
Fundstellen