Entscheidungsstichwort (Thema)
Korrektur eines nicht endgültigen Steuerbescheids
Leitsatz (NV)
1. Ein Bescheid, der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht, erfährt durch einen während des Klageverfahrens erlassenen Abhilfebescheid (anders als durch ein Gerichtsurteil -- BFH vom 7. 2. 1990 I R 145/87, BFHE 161, 387, BStBl II 1990, 1032) keinen verstärkten Bestandsschutz, eine (weitere) Korrektur nach § 164 Abs. 2 AO 1977 infolgedessen keine Beschränkungen.
2. Die Frage, ob dauernde Berufsunfähigkeit i. S. des § 16 Abs. 4 S. 3 EStG a. F. gegeben ist, unterliegt grundsätzlich der uneingeschränkten Sachaufklärungspflicht, die allerdings durch Verletzung von Mitwirkungspflichten eingeschränkt werden kann.
Normenkette
AO 1977 §§ 164, 172 Abs. 1 S. 1; FGO §§ 76, 96, 110; EStG § 16 Abs. 4a. F
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der 1941 geborene Kläger, der an der X-KG als Komplementär beteiligt war, verkaufte im Oktober 1987 seine Beteiligung an dieser Gesellschaft zum Preis von ... DM.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) gewährte den Klägern in dem nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) mit einem Vorbehalt der Nachprüfung versehenen Einkommensteuer-Bescheid für 1987 zwar die Tarifvergünstigung nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 34 Abs. 1 und Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG), nicht aber den außerdem begehrten erhöhten Freibetrag wegen dauernder Berufsunfähigkeit nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG in der bis einschließlich 1995 geltenden Fassung.
Zur Begründung des hiergegen eingelegten Einspruchs legten die Kläger eine ärztliche Bescheinigung vom 14. November 1988 vor, in der dem Kläger attestiert wird: "Zur Zeit ist er nicht fähig, als Geschäftsführer eines mittleren Betriebes zu arbeiten." Diesen Nachweis hielt das FA für unzureichend, weil er nichts über den Gesundheitszustand des Klägers zum Zeitpunkt des Verkaufs aussage, und wies den Einspruchs als unbegründet zurück.
Im anschließenden Klageverfahren trugen die Kläger ergänzend vor, mehrere Erkrankungen im Streitjahr hätten die Leistungsfähigkeit des Klägers derart beeinträchtigt, daß es ihm nicht mehr möglich gewesen sei, seine bisherige Tätigkeit in der Gesellschaft als alleingeschäftsführender Gesellschafter weiter auszuüben. Dies sei der Grund für die Anteilsveräußerung gewesen. Zum Nachweis legten die Kläger einen ärztlichen Bericht vom 18. März 1987 vor sowie eine ärztliche Bescheinigung vom 5. Februar 1990, derzufolge die Leistungsfähigkeit des Klägers "deutlich abgenommen" habe. -- Außerdem machten die Kläger nunmehr unter Berufung auf anhängige Verfassungs beschwerden Verfassungswidrigkeit der Regelung des Grundfreibetrags, der Kinderfreibeträge sowie des § 10 Abs. 3 EStG geltend.
In einem -- weiterhin unter Vorbehalt der Nachprüfung gestellten -- Änderungsbescheid vom 20. März 1992 erklärte das FA die streitige Steuerfestsetzung hinsichtlich des Grundfreibetrags und der Kinderfreibeträge nach § 165 AO 1977 für vorläufig und berücksichtigte den begehrten erhöhten Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG a. F., korrigierte diese Entscheidung jedoch unter Berufung auf § 164 Abs. 2 AO 1977 in einem weiteren Bescheid vom 6. Mai 1992 wieder.
Die Kläger machten daraufhin beide Änderungsbescheide gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Klageverfahrens, sprachen dem FA hinsichtlich des Bescheids vom 6. Mai 1992 die Änderungsbefugnis ab und beharrten außerdem auf vollständigem Abzug ihrer Vorsorgeaufwendungen.
Das Finanzgericht (FG) folgte diesem Klagebegehren in formell-rechtlicher Hinsicht und hob den Änderungsbescheid vom 6. Mai 1992 mit der Begründung auf, durch die vorausgegangene Änderung habe das FA einen Vertrauenstatbestand geschaffen, der dem nach Eintritt der Rechtskraft eines entsprechenden Urteils vergleichbar sei, wies aber die Klage i. ü. -- durch Saldierung der begehrten Vorsorgeaufwendungen mit dem zu Unrecht gewährten Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG a. F. -- ab, weil die Kläger "weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht" hätten, daß der Kläger infolge Invalidität nicht mehr fähig gewesen sei, den Betrieb "so wie bisher fortzuführen". Den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen könne man das nicht entnehmen. Daher seien die Kläger durch den (ersten) Änderungsbescheid vom 20. März 1992 selbst dann nicht beschwert, wenn -- was offenbleiben könne -- aus verfassungsrechtlichen Gründen uneingeschränkter Abzug der Vorsorgeaufwendungen geboten sei.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung formellen und materiellen Rechts: Die Korrektur sei sowohl nach § 129 als auch nach § 164 Abs. 2 AO 1977 gerechtfertigt gewesen. Zur Prüfung der erstgenannten Berichtigungsvorschrift habe das FG den Vortrag in der mündlichen Verhandlung nicht berücksichtigt; außerdem hätte es die Finanzamtsakten beiziehen müssen, dann wäre offenbar gewesen, daß dem FA bei Erlaß des ersten Änderungsbescheids ein Fehler weder in der Tatsachenwürdigung noch in der Rechtsanwendung unterlaufen sei.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Zu Unrecht ist das FG zu der Ansicht gelangt, das FA hätte den während des Klageverfahrens erlassenen Abhilfebescheid nicht wieder aufheben dürfen.
a) Solange -- wie unstreitig hier -- ein Vorbehalt der Nachprüfung i. S. des § 164 Abs. 1 AO 1977 wirksam ist, erwächst der mit einer solchen Nebenbestimmung versehene Steuerbescheid nicht in Bestandskraft (s. § 172 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) und kann nach § 164 Abs. 2 AO 1977 grundsätzlich ohne weitere Voraussetzungen ganz oder teilweise, auch mehrmals, korrigiert werden. Von dieser Änderungsbefugnis hat das FA durch Erlaß des Bescheids vom 6. Mai 1992 Gebrauch gemacht.
b) An dieser Beurteilung ändert der Umstand nichts, daß mit der vorhergegangenen Änderung zugleich dem Klagebegehren abgeholfen wurde: Zwar war es damit zunächst zur Erledigung des Rechtsstreits gekommen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 31. Oktober 1990 II R 45/88, BFHE 162, 215, BStBl II 1991, 102, unter 1 b; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 138 Rz. 22; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 138 FGO Tz. 2 f. und 48, jeweils m. w. N.). Einen verstärkten Bestandsschutz jedoch hatte der -- wiederum mit Nachprüfungsvorbehalt versehene -- Änderungsbescheid durch diese Nebenbestimmung nicht erhalten.
c) Mit der Rechtskraftwirkung (§ 110 FGO), die ausnahmsweise auch einem Bescheid i. S. des § 164 Abs. 1 AO 1977 erhöhten Bestandsschutz verleihen kann (vgl. BFH-Urteil vom 7. Februar 1990 I R 145/87, BFHE 161, 387, BStBl II 1990, 1032), ist die hier zu beurteilende, allein durch Erlaß eines Änderungsbescheids geschaffene Rechtslage deshalb nicht vergleichbar, weil hier die (partielle) Bestätigung der in dem angefochtenen Steuerverwaltungsakt getroffenen Einzelfallregelung durch ein Gerichtsurteil fehlt und damit ein Entscheidungsgegenstand i. S. des § 110 FGO (s. dazu Gräber a. a. O. § 110, Rz. 15 ff.; Tipke/Kruse a. a. O., § 110 FGO, Tz. 9 ff.; vgl. auch BFH- Urteil vom 26. September 1995 VII R 117/94, BFH/NV 1996, 269) als notwendige Basis für verstärkten Vertrauensschutz (BFH- Urteil in BFHE 161, 387, BStBl II 1990, 1032), (noch) nicht vorhanden ist.
2. Weil dieser wesentliche Unterschied zwischen der Erledigung eines Rechtsstreits durch Urteil einerseits und Abhilfe seitens des Beklagten andererseits im angefochtenen Urteil verkannt wurde, war dieses aufzuheben. Eine abschließende Entscheidung war dem Senat verwehrt, weil die vorliegenden Beweismittel und die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) dem Senat eine eigenständige Überzeugungsbildung i. S. des § 121 Satz 1 i. V. m. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hinsichtlich des streitigen Freibetrages nicht erlauben.
Das FG wird nunmehr im zweiten Rechtsgang unter Ausschöpfung seiner Sachaufklärungspflicht einerseits und der Mitwirkungspflichten der Kläger andererseits die inhaltliche Richtigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids im Rahmen des Klagebegehrens erneut zu prüfen und dabei folgendes zu beachten haben:
a) Die Entscheidung der Frage, ob im angefochtenen Einkommensteuerbescheid ein erhöhter Freibetrag i. S. des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG a. F. anzusetzen ist, vor allem, ob der Kläger zum Zeitpunkt der Anteilsveräußerung als dauernd berufsunfähig i. S. dieser Regelung anzusehen war (vgl. dazu BFH- Urteile vom 18. August 1981 VIII R 25/79, BFHE 134, 548, BStBl II 1982, 293, und vom 13. März 1986 IV R 176/84, BFHE 146, 399, BStBl II 1986, 601; Schmidt, Einkommensteuergesetz, 14. Aufl. 1995, § 16 Tz. 584, und 15. Aufl. 1996, § 16 Tz. 575), unterliegt grundsätzlich der uneingeschränkten Sachaufklärungspflicht des Gerichts (§ 76 FGO).
b) Eine Einschränkung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht hätte sich im Streitfall nur ergeben können, wenn die Kläger ihre prozessualen Mitwirkungspflichten (§ 76 Abs. 1 Satz 2 bis 4 FGO; vgl. dazu näher: Gräber, a. a. O., § 76, Rz. 1 f. und 28 ff.; § 96 Rz. 9 ff. verletzt hätten. Dies wiederum hätte hier - auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 96 Abs. 2 FGO; Gräber, a. a. O., § 96, Rz. 27 ff., nebst den dortigen Nachweisen) -- zunächst einmal vorausgesetzt, daß das Gericht hinsichtlich des für unzureichend erachteten Nachweises zur Nachbesserung auffordert (vgl. § 65 Abs. 2 FGO in der seinerzeit geltenden Fassung; nunmehr auch § 79 b Abs. 2 und Abs. 3 FGO -- dazu und zur früheren Rechtslage: Gräber, a. a. O., § 79 b Rz. 10 ff., m. w. N.).
Fundstellen