Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung (Ruhen) des Klageverfahrens nach Ergehen eines mit Einspruch angefochtenen Änderungsbescheids auch unter der Geltung der § 68 Satz 2 FGO n. F.
Leitsatz (NV)
Ergeht während des Klageverfahrens ein Änderungsbescheid und wird dieser nicht gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, sondern mit dem Einspruch angefochten, so ist das Verfahren über den ursprünglichen Steuerbescheid auszusetzen bzw. zum Ruhen zu bringen, bis das Verfahren über den Änderungsbescheid rechtskräftig abgeschlossen ist.
Hieran hat sich unter der Geltung des § 68 Satz 2 FGO n. F. nichts geändert (Festhalten an dem Beschluß des BFH vom 11. Februar 1994 III B 127/93, BFHE 173, 14, BStBl II 1994, 658 und Abgrenzung gegenüber dem Beschluß des BFH vom 18. Februar 1994 IX B 1/94, BFHE 173, 305, BStBl II 1994, 405).
Normenkette
FGO § 68 i.d.F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhoben Klage gegen den Bescheid über Lohnsteuer-Jahresausgleich 1986 in der Form der Einspruchsentscheidung und beantragten, den angefochtenen Steuerbescheid dahingehend abzuändern, daß bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens ein höherer Kinderfreibetrag als 2 484 DM berücksichtigt wird.
Während des Klageverfahrens erklärte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) den angefochtenen Bescheid mit gesonderten Bescheiden an den Kläger und die Klägerin vom 28. September 1993 u. a. im Hinblick auf die Höhe des Kinderfreibetrages für vorläufig. In der Rechtsbehelfsbelehrung wurden die Kläger darauf hingewiesen, daß der Änderungsbescheid innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens gemacht oder Einspruch eingelegt werden könne.
Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger machte die Änderungsbescheide nicht zum Gegenstand des Klageverfahrens, sondern legte Einspruch ein und stellte vorsorglich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
In der mündlichen Verhandlung über das Klageverfahren beantragten die Kläger sodann, das Verfahren auszusetzen, bis über den Einspruch gegen die Änderungsbescheide entschieden sei, hilfsweise, das Verfahren auszusetzen, bis der Bundesfinanzhof (BFH) über anhängige Musterverfahren entschieden habe.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, die Kläger hätten gegen die Änderungsbescheide Einspruch eingelegt und keinen Antrag nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestellt. Die Klage gegen den ursprünglichen Bescheid sei deshalb unzulässig geworden. Die Abgabenfestsetzung insgesamt findet ihre Grundlage in dem geänderten Bescheid vom 28. September 1993, was zur Folge habe, daß der ursprüngliche Bescheid vom 28. August 1987 keine rechtlichen Wirkungen mehr auslöse. Die Klage gegen diesen Bescheid laufe daher leer. Hätten die Kläger sich nämlich wie im Streitfall für die Einlegung des Einspruchs -- der, wie der Vertreter des FA in der mündlichen Verhandlung erklärt habe, fristgerecht eingelegt worden sei -- und damit gegen den Weg nach § 68 FGO entschieden, so sei die gegen den ursprünglichen Bescheid gerichtete Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden. Es bestehe auch kein Raum für den von den Klägern in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, das Klageverfahren auszusetzen, bis über den gegen den Änderungsbescheid gerichteten Einspruch abschließend entschieden sei.
Der BFH habe zwar zu der Regelung des § 68 FGO a. F. entschieden, daß in den Fällen, in denen gegen den Änderungsbescheid Einspruch eingelegt werde, das Klageverfahren hinsichtlich des Ursprungsbescheides auszusetzen sei, da der Bescheid nur suspendiert sei und möglicherweise wieder aufleben könne. Diese Rechtsprechung sei jedoch durch die Neufassung des § 68 FGO überholt, in der der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht habe, daß der Steuerpflichtige sich innerhalb eines Monats entscheiden müsse, ob er sein Rechtsschutzbegehren in dem anhängigen Klageverfahren gegen den ursprünglichen Bescheid oder durch Einlegung eines Einspruchs in einem Rechtsbehelfsverfahren gegen den Änderungsbescheid weiterbetreiben wolle. Entscheide er sich für das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren, sei für ein mögliches Wiederaufleben des Klageverfahrens kein Raum. Es bestehe auch keine Notwendigkeit, die Klage gegen den ursprünglichen Bescheid für den Fall, daß der Änderungsbescheid als unzulässig aufgehoben werden sollte, offenzuhalten, da der Änderungsbescheid den Regelungsgehalt des Ursprungsbescheides in sich aufnehme und so im Rahmen des gegen den Änderungsbescheid gerichteten Einspruchs die gesamte Abgabenfestsetzung überprüft werde.
Mit der vom FG zugelassenen Revision tragen die Kläger im wesentlichen vor: Entgegen der Auffassung des FG sei die Klage nicht dadurch unzulässig geworden, daß sie -- die Kläger -- den im Klageverfahren ergangenen Änderungsbescheid nicht nach § 68 FGO zum Gegenstand des Klageverfahrens gemacht hätten. Vielmehr sei das (Revisions-)Verfahren über den ursprünglichen Bescheid für die Dauer des Anfechtungs verfahrens über den geänderten Bescheid in entsprechender Anwendung des § 74 FGO auszusetzen oder bei übereinstimmendem Antrag der Beteiligten zum Ruhen zu bringen. An dieser Rechtslage habe sich durch die Neufassung des § 68 FGO nichts geändert. Die Neuregelung betreffe nur das Verfahren über den Änderungsbescheid, besage jedoch nichts für die Behandlung des Verfahrens über den ursprünglichen Bescheid. Dieses Verfahren behalte nach wie vor Bedeutung für den Fall, daß der Änderungsbescheid aufgehoben werde oder sich aus anderen Gründen als unwirksam erweise.
Die Kläger beantragen sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Das FG hat die Bedeutung des § 68 Satz 2 FGO und damit auch die Auswirkungen der Regelung auf den ursprünglichen Steuerbescheid verkannt.
Bei dem vom FA während des Klageverfahrens erlassenen Bescheid, durch den die Steuerfestsetzung für vorläufig erklärt wurde, handelt es sich um einen Änderungsbescheid i. S. des § 68 FGO (vgl. Urteil des BFH vom 9. August 1991 III R 41/88, BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219). Nach der Rechtsprechung des BFH nimmt ein Änderungsbescheid den ursprünglichen Bescheid in seinen Regelungsgehalt mit auf. Solange der Änderungsbescheid Bestand hat, entfaltet der ursprüngliche Bescheid keine Wirkung. Dieser ist vielmehr in dem Umfang, in dem er in den Änderungsbescheid aufgenommen worden ist, suspendiert und bleibt dies auch für die Dauer der Wirksamkeit des Änderungsbescheides. Der ursprüngliche Bescheid tritt jedoch wieder in Kraft, wenn der Änderungsbescheid aufgehoben wird (Beschluß des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231, 233; Urteil des BFH vom 5. Mai 1992 IX R 9/87, BFHE 168, 213, BStBl II 1992, 1040).
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ergibt sich hieraus, daß bei einer Anfechtung des Änderungsbescheides abgewartet werden muß, ob er bestehenbleibt. Für die Dauer des Anfechtungsverfahrens kann mithin das Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid grundsätzlich so lange nicht endgültig abgeschlossen werden, bis eine rechtskräftige Entscheidung über den Änderungsbescheid ergangen ist. Das Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid ist deshalb auszusetzen oder -- bei übereinstimmendem Antrag der Beteiligten -- zum Ruhen zu bringen (vgl. auch insoweit BFH- Entscheidungen in BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231, und in BFHE 168, 213, BStBl II 1992, 1040).
An dieser Rechtslage hat sich durch die Neufassung des § 68 FGO, die auf alle Fälle anzuwenden ist, in denen der Änderungsbescheid nach dem 1. Januar 1993 ergangen ist (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 68 Anm. 3 a m. w. N.), nichts geändert.
Im Schrifttum (Gräber/von Groll, a.a.O., Anm. 26) wird allerdings die Auffassung vertreten, daß der suspendierte Verwaltungsakt endgültig gegenstandslos und die Klage gegen ihn unzulässig werde, wenn der Antrag nach § 68 FGO nicht, nicht wirksam, nicht rechtzeitig oder sonst unzulässigerweise gestellt werde. Zum Teil wird sogar noch weitergehend angenommen (Rößler, Deutsche Steuer-Zeitung -- DStZ -- 1993, 685, 686), nach Sinn und Zweck der Befristung der Antragstellung müsse man davon ausgehen, daß mit Ausübung des Wahlrechts durch den Kläger (Einspruch oder Antrag nach § 68 FGO) dieses bereits verbraucht sei. Nach Einlegung des Einspruchs -- wie im Streitfall -- könne daher der Antrag nach § 68 FGO auch dann nicht mehr gestellt werden, wenn die Monatsfrist dafür noch nicht abgelaufen sei.
Diese Auffassungen berücksichtigen nicht ausreichend, daß der Regelungsgehalt des ursprünglichen Bescheides wieder in Kraft treten kann, wenn der ihn ändernde Bescheid im Anfechtungsverfahren, und zwar insbesondere aus formellen Gründen, aufgehoben wird. Hieran hat sich durch die Einführung der Frist für die Stellung des Antrags in § 68 Satz 2 FGO nichts geändert. Die Ansicht vom Verbrauch des Wahlrechts ist nach Auffassung des Senats im übrigen auch mit dem eindeutigen Wortlaut des § 68 Satz 2 FGO nicht vereinbar.
Die Neuregelung betrifft nur das Verfahren über den Änderungsbescheid, besagt jedoch nichts für die Behandlung des Verfahrens über den ursprünglichen Bescheid. Dieses behält nach wie vor Bedeutung für den Fall, daß der Änderungs bescheid, z. B. wegen Fehlens der Änderungsvoraussetzungen, aufgehoben wird oder sich aus anderen Gründen als unwirksam erweist. Da der ursprüngliche Verwaltungsakt in diesem Fall wieder seine Wirkungen entfaltet, behält das Verfahren über ihn so lange Bedeutung, bis über den Änderungsbescheid rechtskräftig entschieden ist. Wie nach der bisherigen Rechts lage ist deshalb das Verfahren über den ursprünglichen Bescheid bis zu diesem Zeitpunkt auszusetzen oder es ist, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen. Dies hat der erkennende Senat bereits mit Beschluß vom 11. Februar 1994 III B 127/93 (BFHE 173, 14, BStBl II 1994, 658 m. w. N.) entschieden. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Die vom FA in Bezug genommene Entscheidung des BFH vom 18. Februar 1994 IX B 1/94 (BFHE 173, 305, BStBl II 1994, 405) läßt die genannte Rechtsprechung des Senats unberührt. Im Streitfall ist anders als in jenem Fall nicht zu entscheiden, ob die neu eingeführte Befristung des Antrags nach § 68 FGO für Änderungsbescheide gleich welchen Inhalts gilt, sondern im Streit ist, welche Wirkung ein Änderungsbescheid auf den angefochtenen, ursprünglichen Verwaltungsakt hat und welche Rechtsfolgen daraus zu ziehen sind.
2. Da das FG bei seiner Entscheidung von anderen rechtlichen Erwägungen ausgegangen ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie ist an das FG zurückzuverweisen, damit dieses das Verfahren gemäß § 74 FGO aussetzt, bis über den Änderungsbescheid rechtskräftig entschieden ist.
Fundstellen
Haufe-Index 420462 |
BFH/NV 1995, 982 |
BFH/NV 1995, 983 |