Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung eines Steuerbescheids nach § 174 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 AO 1977; Beiladung nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO 1977
Leitsatz (NV)
1. Es liegt kein Verfahrensfehler vor, wenn das FG eine vom FA beantragte Beiladung nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 im Urteil zur Hauptsache und nicht durch besonderen Beschluß ablehnt.
2. Das FG hat auf Antrag des FA einen Dritten nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 zum Verfahren beizuladen, wenn bei einem Erfolg der Klage eine Steuerfestsetzung gegenüber dem Dritten wegen der nunmehr anderen rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts möglicherweise zu ändern ist. Eine Beiladung kommt nur dann nicht in Betracht, wenn rechtliche Interessen des Dritten durch die Entscheidung des FG über die Klage des Steuerpflichtigen eindeutig nicht berührt sein können.
3. Ist derselbe Sachverhalt bei mehreren Steuerpflichtigen erfaßt und irrig beurteilt worden, kann im Rahmen des § 174 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 AO 1977, wenn zugunsten des einen Steuerpflichtigen die rechtliche Beurteilung richtiggestellt worden ist, grundsätzlich auch bei den anderen Steuerpflichtigen durch Erlaß oder Änderung des Steuerbescheids die entsprechende, richtige steuerliche Folgerung gezogen werden.
4. Der Bescheid eines Dritten kann nur dann nach § 174 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 AO 1977 aufgehoben oder geändert werden, wenn der Dritte vor Eintritt der Festsetzungsverjährung an dem Verfahren beteiligt worden ist, das zur Korrektur des ursprünglichen Bescheids geführt hat.
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 4-5
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist Gesamtrechtsnachfolgerin der verstorbenen A.X. Frau X und ihr Ehemann B.X. bezogen während ihrer Ehe Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie eine dinglich gesicherte Kaufpreisrente aus der Veräußerung eines Gewerbebetriebs, an der Frau X zu 45 v.H. und ihr Ehemann zu 55 v.H. beteiligt waren. Die Ehe wurde am 5. Februar 1975 rechtskräftig geschieden. In der Verhandlung vor dem Landgericht hatten die Eheleute für den Fall der rechtkräftigen Scheidung einen Vergleich geschlossen, in dem sich Herr X u.a. verpflichtete, vom Tag der Trennung an einen monatlichen Unterhalt von 1000 DM zu zahlen, der sich ab 1. Juli 1976 auf 1500 DM erhöhen sollte. Die Eheleute waren sich darüber einig, daß mit dieser Unterhaltsregelung Frau X
a) an dem Pachtzins... keinerlei Ansprüche hat,
b) ihren Anteil an dem Pachtvertrag... behält,
c) zu Lebzeiten des Ehemannes an der Kaufrente des Objekts... nicht beteiligt ist,
d) aus dem Pachtvertrag zu der Firma... nur der Teil des Pachtzinses zusteht, der sich auf die in ihrem Eigentum stehenden Parzellen... bezieht.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte die Unterhaltszahlungen bei den Einkommensteuerveranlagungen von Frau X nicht.
Im Sommer 1979 teilte das für die Besteuerung von Herrn X zuständige FA (auf Veranlassung des Landesrechnungshofs) dem beklagten FA mit, die Unterhaltszahlungen von 12000 DM seien bei Herrn X in voller Höhe als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes 1977 (EStG) berücksichtigt worden. Frau X habe vertraglich auf ihren Anspruch aus der Veräußerungsrente gegen Unterhaltszahlungen von 1000 DM monatlich verzichtet. Der Kapitalwert des Rentenanspruchs betrage mehr als die Hälfte des kapitalisierten Unterhaltsanspruchs, so daß die Zahlungen bei Herrn X in voller Höhe als dauernde Last abziehbar seien.
Das beklagte FA vertrat nach näherer Prüfung ebenfalls die Auffassung, daß den vereinbarten Unterhaltsleistungen eine Gegenleistung gegenübergestanden habe und die Unterhaltseinkünfte somit bei Frau X steuerpflichtig seien. Es änderte den Einkommensteuerbescheid 1977 von Frau X nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und berücksichtigte Unterhaltszahlungen in Höhe von 12000 DM mit einem Ertragsanteil von 3600 DM als sonstige Einkünfte.
Frau X erhob gegen den Änderungsbescheid Einspruch. Während des Einspruchsverfahrens schrieb das für Herrn X zuständige FA dem beklagten FA, es teile nunmehr die Zweifel des beklagten FA hinsichtlich der Behandlung der Unterhaltszahlungen als dauernde Last. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung sei derart ausgewogen, daß die Zahlungen an Frau X tatsächlich als Versorgungsrente betrachtet werden müßten. Im Hinblick auf die Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 und 5 AO 1977 bei Herrn X bat es, vor einer Entscheidung über den Einspruch zu prüfen, ob Herr X nach § 360 Abs. 3 AO 1977 zum Verfahren hinzuzuziehen sei. Auf der Rückseite des Schreibens ist folgender handschriftlicher Vermerk angebracht: Laut Rücksprache mit... liegt im Falle des Steuerpflichtigen kein Vorgang vor, der unter § 174 AO 1977 fällt (Hinweis auf Einführungserlaß und Kommentierung).
Durch Einspruchsentscheidung vom 27. April 1982 setzte das beklagte FA die Einkommensteuer 1977 um 59 DM herab. Es legte einerseits höhere Versorgungseinkünfte zugrunde (Ertragsanteil von 5400 DM aus Einkünften in Höhe von 18000 DM), berücksichtigte andererseits aber einen während des Einspruchsverfahrens beantragten Freibetrag wegen Körperbehinderung.
Auf die Klage von Frau X, die während des Klageverfahrens starb und von der Klägerin beerbt wurde, hob das Finanzgericht (FG) den geänderten Einkommensteuerbescheid 1977 und die Einspruchsentscheidung auf. Den Antrag des FA, Herrn X gemäß § 174 Abs. 5 AO 1977 beizuladen, lehnte es ab. Es führte im Urteil aus: Die von Herrn X geleisteten Beträge seien nach § 12 Nr. 2 EStG nicht abziehbar und deshalb bei Frau X nicht nach § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG steuerpflichtig. - Die Voraussetzungen für eine Beiladung nach § 174 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 AO 1977 lägen nicht vor. Entgegen der Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei diese Vorschrift in Fällen korrespondierender Besteuerung bei mehreren Steuerpflichtigen nicht anwendbar. Auch wenn man aber der Auffassung des BFH folge, sei Herr X nicht beizuladen. Da die Festsetzungsfrist für das Streitjahr 1977 spätestens mit Ablauf des Jahres 1980 begonnen habe (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977), liege auf der Hand, daß inzwischen Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Der Ablauf der Festsetzungsfrist sei nach § 174 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Abs. 5 AO 1977 nur unbeachtlich, wenn der Steuerpflichtige vor deren Ablauf beigeladen worden sei. Das Urteil des FG ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1990, 505 veröffentlicht.
Mit der Revision trägt das FA vor, das FG habe über die Ablehnung des Beiladungsantrags durch Beschluß entscheiden müssen. Die Entscheidung über den Beiladungsantrag durch Urteil sei ein Verfahrensmangel. Halte man dieses Verfahren für zulässig, verstoße das Urteil gegen § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO), weil das FG seine Überzeugung auf der Grundlage eines unvollständigen Sachverhalts gebildet habe. Für die Feststellung, daß die Festsetzungsfrist abgelaufen gewesen sei, hätte es weiterer Ermittlungen bedurft, z.B. durch Zuziehung der Einkommensteuerakten des B.X. Nur hierdurch hätte das FG feststellen können, ob mangels Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung gemäß § 165 AO 1977 oder mangels ablaufhemmender Tatbestände tatsächlich Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Zu Unrecht nehme das FG außerdem an, daß der Bescheid eines Dritten nach § 174 Abs. 5 AO 1977 nur geändert werden dürfe, wenn der Dritte vor Ablauf der Festsetzungsfrist beigeladen werde.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Kein Verfahrensmangel liegt darin, daß das FG die vom FA beantragte Beiladung nicht durch besonderen Beschluß abgelehnt hat. Ein besonderer, mit der Beschwerde anfechtbarer Beschluß ist nur erforderlich, wenn das FG einen anderen beilädt (§ 174 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 i.V.m. § 60 Abs. 4 FGO). Die Ablehnung einer beantragten Beiladung kann das FG dagegen durch besonderen Beschluß oder auch erst im Urteil aussprechen.
2. Zu Unrecht hat das FG ohne weitere Ermittlungen die vom FA beantragte Beiladung von B.X. abgelehnt.
a) Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, den das FG auf die Klage des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten aufhebt, kann das FA aus diesem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung des Steuerbescheids auch eines anderen Steuerpflichtigen die richtigen steuerlichen Folgerungen ziehen, sofern der andere Steuerpflichtige an dem Verfahren, das zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids geführt hat, beteiligt war (§ 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 AO 1977). Der andere Steuerpflichtige kann zu diesem Verfahren hinzugezogen oder beigeladen werden (§ 174 Abs. 5 Satz 2 AO 1977).
Hat das FA die Beiladung eines Dritten beantragt, muß das FG dem Antrag entsprechen, wenn bei einem Erfolg der Klage eine Steuerfestsetzung gegenüber dem Dritten wegen der nunmehr anderen rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts möglicherweise zu ändern ist. Nicht zu prüfen hat das FG, ob die übrigen formellen und materiellen Voraussetzungen für eine Änderung des Steuerbescheids vorliegen; denn die Beiladung darf die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen (BFH-Beschlüsse vom19. Mai 1981 VIII B 90/79, BFHE 133, 348, BStBl II 1981, 633, und vom 24. April 1989 IV B 40/89, BFH/NV 1990, 140). Eine Beiladung kommt nur dann nicht in Betracht, wenn rechtliche Interessen des Dritten durch die Entscheidung des FG über die Klage des Steuerpflichtigen eindeutig nicht berührt sein können (BFH-Beschlüsse vom 27. Januar 1982 VII B 141/81, BFHE 134, 537, BStBl II 1982, 239, und vom 10. Juni 1988 IX B 102/87, BFH/NV 1989, 15).
b) Entgegen der Auffassung des FG kann auf die Beiladung nicht deshalb verzichtet werden, weil § 174 Abs. 4 i.V.m. Abs. 5 AO 1977 auf Fälle der streitigen Art nicht anwendbar ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, handelt es sich bei § 174 Abs. 4 AO 1977 um eine gegenüber den Änderungsvorschriften der Abs. 1 bis 3 eigenständige Korrekturnorm, die nicht auf Fälle der alternativen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts beschränkt ist und die keine rechtliche Abhängigkeit der Folgeänderung voraussetzt. Es genügt, daß derselbe Sachverhalt bei mehreren Steuerpflichtigen erfaßt und irrig beurteilt worden ist. Ist die rechtliche Beurteilung zugunsten des einen Steuerpflichtigen richtiggestellt worden, kann im Rahmen des § 174 Abs. 4 AO 1977 - anders als in Fällen des § 174 Abs. 1 AO 1977 - grundsätzlich auch bei den anderen Steuerpflichtigen durch Erlaß oder Änderung des Steuerbescheids die entsprechende, richtige steuerliche Folgerung gezogen werden (BFH-Entscheidungen vom 6. Dezember 1979 IV B 56/79, BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314; vom 22. Juli 1980 VIII R114/78, BFHE 131, 429, BStBl II 1981, 101; in BFHE 133, 348, BStBl II 1981, 633; vom 24. November 1987 IX R 158/83, BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404; in BFH/NV 1989, 15; vom 20. April 1989 V B 153/88, BFHE 156, 389, BStBl II 1989, 539, und vom 2. August 1990 III B 52/89, BFH/NV 1991, 16).
c) Zu Recht ist das FG zwar davon ausgegangen, daß § 174 Abs. 4 i.V.m. Abs. 5 AO 1977 gegenüber Dritten nur anwendbar ist, wenn diese vor Eintritt der Festsetzungsverjährung an dem Verfahren beteiligt worden sind, das zur Korrektur des ursprünglichen Bescheids geführt hat (BFH-Urteil vom 5. Mai 1993 X R 111/91, BFHE 171, 400). Das FA rügt jedoch zu Recht, daß die Feststellung des FG, die Frist für die Festsetzung der Einkommensteuer 1977 gegenüber B.X. sei bereits abgelaufen, auf unterstellten Tatsachen beruht. Das FG hat lediglich ausgeführt, der Ablauf der Festsetzungsfrist, die spätestens 1980 begonnen habe, liege auf der Hand. Nicht geprüft hat es, ob ablaufhemmende Tatbestände (vgl. § 171 AO 1977) oder eine vorläufige Festsetzung (§ 165 AO 1977) evtl. den Eintritt der Festsetzungsverjährung verhindert haben. Da der BFH die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen darf, wird die Vorentscheidung hinsichtlich der Einkommensteuer 1977 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
Fundstellen