Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung der Vaterschaft im finanzgerichtlichen Verfahren ist bei Streit um kindbedingte Steuerentlastung zu berücksichtigen
Leitsatz (amtlich)
Erkennt der leibliche Vater eines Kindes in einem Rechtsstreit um die Gewährung eines Kinder- und Haushaltsfreibetrags während des finanzgerichtlichen Verfahrens die Vaterschaft an, nachdem das Kind die Scheinvaterschaft des ehelichen Vaters angefochten hat, hat das FG die zivilrechtlich bis zur Geburt zurückwirkende Vaterschaft bei der Entscheidung über die angefochtenen Einkommensteuerbescheide zu berücksichtigen und die kindbedingten Steuervorteile zu gewähren.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; BGB § 1592 Nrn. 1-2, § 1594; EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6-7; FGO § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, § 100 Abs. 1, § 102; GG Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde für die Streitjahre 1994 bis 1998 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Er erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Der Kläger lebt seit 1983 mit seiner Lebensgefährtin PS zusammen. Sie sind Eltern der im August 1984 geborenen Tochter K, die im gemeinsamen Haushalt des Klägers und PS lebt. Bei der Geburt der Tochter war PS noch mit DS verheiratet, von dem sie seit Dezember 1985 geschieden ist. In dem Scheidungsurteil war die elterliche Sorge der "scheinehelich" geborenen Tochter K der Mutter PS übertragen worden.
Der Kläger gab in seinen Einkommensteuererklärungen für 1994 bis 1997 an, es habe zwischen ihm und K als seinem leiblichen Kind ein Kindschaftsverhältnis bestanden. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) setzte die Einkommensteuer für die Streitjahre 1994 bis 1997 im Wesentlichen erklärungsgemäß fest. Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für 1998 erfuhr das FA erstmals, dass K noch während des Bestehens der Ehe zwischen PS und DS geboren worden war.
In dem Einkommensteuerbescheid für 1998 berücksichtigte das FA K steuerlich nicht mehr als Kind des Klägers i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG), weil er das Kindschaftsverhältnis nicht durch öffentliche Urkunden nachgewiesen habe. Ferner änderte das FA die Einkommensteuerbescheide für 1994 bis 1997 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und setzte den bisher jeweils gewährten Kinder- und Haushaltsfreibetrag nicht mehr an. Die Einsprüche blieben ohne Erfolg.
Während des anschließenden Klageverfahrens beim Finanzgericht (FG) stellte das zuständige Amtsgericht auf eine von der Tochter K erhobene Vaterschaftsanfechtungsklage mit Urteil vom März 2003 fest, dass DS nicht der leibliche Vater von K ist. Der Kläger erkannte daraufhin in einer notariellen Urkunde vom Juni 2003 die Vaterschaft gegenüber K an.
Das FG wies die Klage als unbegründet ab. Es führte im Wesentlichen aus, die Anerkennung der Vaterschaft durch den Kläger gegenüber K sei steuerlich unbeachtlich, weil diese zivilrechtlich nicht zurückwirke. Es bleibe daher bei der Ehelichkeitsvermutung von § 1592 Nr. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), so dass K steuerlich nach wie vor als das Kind des Scheinvaters zu behandeln sei. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2005, 1355 veröffentlicht.
Zur Begründung der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die Einkommensteuerbescheide 1994 bis 1997 in der Fassung der Einspruchsentscheidung aufzuheben und unter Änderung des Einkommensteuerbescheids 1998 in der Fassung der Einspruchsentscheidung die Einkommensteuer auf … festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat zu Unrecht die Aufhebung der Einkommensteuerbescheide 1994 bis 1997 und die Änderung des Einkommensteuerbescheids 1998 abgelehnt, weil die Anfechtung der Scheinvaterschaft durch K und das Vaterschaftsanerkenntnis des Klägers nicht auf die Streitjahre 1994 bis 1998 zurückwirke.
1. Nach § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG sind Kinder im einkommensteuerrechtlichen Sinn die im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandten Kinder.
a) Die Vorschrift knüpft für die Bestimmung des Kindbegriffs an die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften an. Nach § 1589 BGB sind Personen, deren eine von der anderen abstammt, in gerader Linie miteinander verwandt. Ein Kind stammt im zivilrechtlichen Sinne von einem Mann nur ab, wenn dieser zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet war oder die Vaterschaft anerkannt hat oder wenn die Vaterschaft gerichtlich festgestellt worden ist (§ 1592 BGB).
b) K ist nicht nur genetisch, sondern auch zivilrechtlich und einkommensteuerrechtlich ein Kind des Klägers.
K hat die Vaterschaft des Scheinvaters mit Urteil vom März 2003 rechtswirksam angefochten. Dieses Urteil wirkt zivilrechtlich rechtsgestaltend auf die Geburt von K zurück. Die ursprünglich geltende Vaterschaftsvermutung nach § 1592 Nr. 1 BGB ist rückwirkend entfallen. Mithin ist der Scheinvater rückwirkend auch nicht mehr zum Unterhalt gegenüber K verpflichtet.
Der Kläger hat die Vaterschaft gegenüber K mit notarieller Erklärung vom Juni 2003 anerkannt (§ 1594 BGB). Entgegen der Auffassung des FG wirkt die Anerkennung der Vaterschaft zivilrechtlich rechtsgestaltend ebenfalls auf den Zeitpunkt der Geburt zurück, so dass Ansprüche auch rückwirkend geltend gemacht werden können. Dies gilt für Unterhaltsansprüche des Kindes oder Regressforderungen des Scheinvaters ebenso wie für Ansprüche des Vaters auf Kindergeld (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts vom 22. September 1993 10 RKg 6/93, BSGE 73, 103, und vom 28. Oktober 1982 10 RKg 51/81, BSGE 54, 153). Die Anerkennung begründet den gesetzlichen Vaterschaftstatbestand des § 1592 Nr. 2 BGB und bestätigt das zwischen dem Kind und seinem Vater von der Geburt an bestehende echte Verwandtschaftsverhältnis (Wellenhofer-Klein in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1594 Rz. 16, 17). Lediglich die Rechtswirkungen können naturgemäß erst nach der Erklärung der Vaterschaftsanerkennung geltend gemacht werden (§ 1594 Abs. 1 BGB).
2. Die zivilrechtlich bis zur Geburt des Kindes zurückwirkende Anerkennung der Vaterschaft ist bei der Beurteilung, ob die angefochtenen Einkommensteuerbescheide rechtswidrig sind, zu berücksichtigen, auch wenn der Kläger die Anerkennung der Vaterschaft erst im finanzgerichtlichen Verfahren erklärt hat.
Nach § 100 Abs. 1 FGO hat das FG den angefochtenen Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufzuheben, soweit dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Die Rechtswidrigkeit muss im Zeitpunkt der Entscheidung des FG bestehen (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 100 FGO Rz. 39; von Wedel in Schwarz, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, § 100 Rz. 24). Da sich ein Einkommensteuerbescheid auf einen abgeschlossenen, zurückliegenden Zeitraum (Veranlagungszeitraum) bezieht, kommt es für die Beurteilung, ob er rechtswidrig ist, auf die Sach- und Rechtslage in dem Veranlagungszeitraum an, der dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid zugrunde liegt (Schmidt-Troje in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, Kommentar, § 100 FGO Rz. 17; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 100 FGO Tz. 7). Während des finanzgerichtlichen Verfahrens eingetretene rückwirkende Gesetzesänderungen, soweit sie verfassungsrechtlich zulässig sind, hat das FG zu beachten (Schmidt-Troje in Beermann, a.a.O., § 100 FGO Rz. 17; Tipke/Kruse, a.a.O., § 100 FGO Tz. 7; von Wedel in Schwarz, a.a.O., § 100 Rz. 24; wohl auch von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 100 Rz. 12).
Werden den streitigen Veranlagungszeitraum betreffende, entscheidungserhebliche Tatsachen erst im finanzgerichtlichen Verfahren bekannt oder nachgewiesen, hat das FG diese Tatsachen zu berücksichtigen, da es nach § 76 Abs. 1 FGO zur eigenständigen --vom FA unabhängigen-- Sachverhaltsermittlung verpflichtet ist und gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet (Schmidt-Troje in Beermann, a.a.O., § 100 FGO Rz. 18; Lange in HHSp, a.a.O., § 100 FGO Rz. 40). Eine Ausnahme gilt lediglich für Ermessensentscheidungen, bei denen grundsätzlich nur die dem FA bei Erlass der Einspruchsentscheidung bekannten Tatsachen zu berücksichtigen sind (§ 102 FGO).
Ändert sich ein Sachverhalt aufgrund einer rechtsgestaltenden Erklärung im finanzgerichtlichen Verfahren rückwirkend, hat das FG den geänderten Sachverhalt ebenfalls seiner Entscheidung zugrunde zu legen (Tipke/Kruse, a.a.O., § 100 FGO Tz. 7).
Im Streitfall hat sich der Sachverhalt insoweit rückwirkend geändert, als der Kläger aufgrund des Vaterschaftsanerkenntnisses rückwirkend im ersten Grad mit K verwandt ist und damit die Voraussetzung des § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG für die kindbedingten Vergünstigungen in den Streitjahren erfüllt ist. Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide sind dadurch nachträglich rechtswidrig geworden.
Da das Vaterschaftsanerkenntnis ein Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat, wäre das FA nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 verpflichtet, bereits bestandskräftige Einkommensteuerbescheide zu ändern. Der Kläger kann aber --schon aus prozessökonomischen Gründen-- nicht darauf verwiesen werden, beim FA einen Antrag auf Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu stellen und gegen eine ablehnende Entscheidung erneut Anfechtungsklage zu erheben (a.A. anscheinend von Groll in Gräber, a.a.O., § 100 Rz. 12, unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. Januar 1982 II R 119/80, BFHE 135, 224, BStBl II 1982, 425, die der BFH inzwischen im Urteil vom 16. Februar 2005 II R 53/03, BFHE 209, 158, BStBl II 2005, 495 aufgegeben hat). Vielmehr hat das FG die nachträglich eingetretene Rechtswidrigkeit im vorliegenden Anfechtungsverfahren zu berücksichtigen.
3. Nach diesen Grundsätzen sind die nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geänderten Einkommensteuerbescheide 1994 bis 1997 rechtswidrig. Die vom FA festgestellte neue Tatsache der Ehelichkeit von K war zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rückwirkend entfallen. Mithin lagen die Voraussetzungen für eine Änderung der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide nicht mehr vor. Der erstmalige Einkommensteuerbescheid für 1998 ist rechtswidrig, weil K das Kind des Klägers i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG ist.
4. Die Berücksichtigung der kindbedingten Steuervergünstigungen beim Kläger in den Streitjahren steht auch im Einklang mit der vom FG zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Kinderfreibetrag. Danach dient der Kinderfreibetrag dazu, dem Steuerpflichtigen, der für den Unterhalt des Kindes aufkommt, die Unterhaltslast zu erleichtern (BVerfG-Beschluss vom 17. Oktober 1973 1 BvL 20/72, BStBl II 1974, 92 ff.). Im Streitfall haben ausschließlich der Kläger und seine Lebensgefährtin den Unterhalt von K getragen. Der Kläger war im Übrigen nach der erfolgreichen rückwirkenden Anfechtung der Vaterschaft auch zivilrechtlich zum Unterhalt verpflichtet. Dieser zivilrechtlichen Rechtslage entspricht die Gewährung der begehrten steuerlichen kindbedingten Vergünstigungen gegenüber dem Kläger.
5. Der vom Senat vertretenen Rechtsauffassung entspricht auch Abschnitt 63.2.1 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (BStBl I 2004, 743), nach der das nichteheliche Kind --das K nach der Anfechtung der Vaterschaft des Scheinvaters ist-- nach Anerkennung der Vaterschaft rückwirkend als Zählkind bei seinem leiblichen Vater berücksichtigt werden kann.
6. Entgegen der Auffassung des FG bestehen gegen die Berücksichtigung von Kinder- und Haushaltsfreibetrag beim Kläger auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken wegen des in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verankerten besonderen Schutzes der Ehe. Denn hiernach ist nur eine steuerliche Besserstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften gegenüber Ehen verfassungswidrig (vgl. BVerfG-Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91 u.a., BStBl II 1999, 182).
Eine Besserstellung ergibt sich im Streitfall aber lediglich wegen der zusätzlichen Gewährung des Haushaltsfreibetrages nach § 32 Abs. 7 EStG in allen Streitjahren. Diese Regelung hat das BVerfG zwar für verfassungswidrig gehalten, aber bis zum 31. Dezember 2001 weiterhin für anwendbar erklärt (vgl. BVerfG-Beschluss in BStBl II 1999, 182, unter D. I. 2.)
7. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1994 bis 1997 sind aufzuheben. Der Einkommensteuerbescheid 1998 ist dahin gehend zu ändern, dass bei dem Kläger jeweils noch ein Kinderfreibetrag und ein Haushaltsfreibetrag zu berücksichtigen sind.
8. Die Übertragung der Steuerberechnung beruht auf § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO, die Kostenentscheidung auf § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 1 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 1453498 |
BFH/NV 2006, 202 |
BStBl II 2008, 350 |
BFHE 2006, 107 |
BFHE 211, 107 |
BB 2005, 2734 |
DB 2005, 2788 |
DStRE 2006, 180 |
DStZ 2006, 5 |
HFR 2006, 278 |