Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkendes Ereignis
Leitsatz (NV)
1. Die nachträgliche Änderung vertraglicher Bestimmungen stellt regelmäßig kein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 dar.
2. Zur Entscheidung bei Antrag nach § 68 FGO im Revisionsverfahren.
Normenkette
AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; FGO § 127
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) errichtete ab 1983 ein Wohn- und Geschäftshaus und veräußerte anschließend die in Teileigentum aufgeteilten Wohn- und Gewerbeeinheiten. U. a. wurde im Streitjahr 1985 je eine Wohnung an die Eheleute A und B verkauft. Die Erwerber beabsichtigten die Vermietung der Wohnungen, zunächst wurde zwischen den Vertragsparteien eine gewerbliche Zwischenvermietung vereinbart. In den Kaufverträgen war der Kaufpreis jeweils einschließlich Umsatzsteuer ausgewiesen. In ihren Umsatzsteuererklärungen für die Jahre ab 1983 machte die Klägerin entsprechende Vorsteuern geltend, im Streitjahr unterwarf sie die Veräußerungserlöse der Umsatzsteuer. Aufgrund einer Außenprüfung setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) die Umsatzsteuer 1985 durch bestandskräftig gewordenen Bescheid fest.
In den Jahren 1989 und 1991 wurden die Kaufverträge durch Nachträge einvernehmlich dahin abgeändert, daß die Kaufpreise für die Wohnungen ohne Umsatzsteuer ausgewiesen wurden. Die Zwischenmietverhältnisse wurden aufgehoben. Im Juli 1990 beantragte die Klägerin die Änderung des Umsatzsteuerbescheides 1985 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) dahingehend, daß die Lieferung der beiden Wohnungen als umsatzsteuerfrei zu behandeln sei. Dies lehnte das FA ab.
Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, die Umsätze könnten erst dann als steuerfrei behandelt werden, wenn die mit gesondertem Steuerausweis erteilten Rechnungen berichtigt worden seien. Erst unter diesen Voraussetzungen entfalle die Steuerschuld gemäß § 14 Abs. 2 i. V. m. § 17 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980. Im Streitfall sei eine Berichtigung der den Kaufpreis mit Umsatzsteuer ausweisenden Kaufverträge erst 1989 und 1991 erfolgt. Eine Änderung der Umsatzsteuer-Festsetzung 1985 sei daher nicht möglich. Auch andere Berichtigungsvorschriften (etwa § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) seien nicht anwendbar.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts. Die Berichtigung der Kaufverträge habe ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit dargestellt. Daher sei § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 anzuwenden. Die Änderung stelle eine geschäftliche Maßnahme dar, die sich als erforderlich erwiesen habe, weil eine bestimmte steurliche Behandlung als Geschäftsgrundlage der Verträge (Zwischenmietverhältnis) vom FA nicht anerkannt worden sei. Der Vertrag enthalte zwar nicht ausdrücklich, aber doch inhaltlich eine Steuerklausel. Daraus seien die steuerlichen Folgerungen zu ziehen.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und das FA zur begehrten Änderung des Umsatzsteuer-Bescheids für das Streitjahr 1985 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu verpflichten.
Sie hat während des Revisionsverfahrens beantragt, den nachträglich aus anderen Gründen nach § 174 AO 1977 geänderten Bescheid für das Streitjahr vom 8. August 1991 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Das FA hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist mit der Maßgabe unbegründet, daß die Vorentscheidung aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben (§ 127 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) und die Klage abzuweisen ist (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die beantragte Änderung des Bescheides für das Streitjahr.
1. Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegen nicht vor.
Nach dieser Vorschrift ist ein Steuer bescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Eine Definition der Änderungsvoraussetzungen enthält das Gesetz selbst nicht. Ob ein Ereignis ausnahmsweise -- entgegen dem grundsätzlich im Steuerrecht geltenden Rückwirkungsverbot -- in die Vergangenheit zurückwirken darf, bestimmt sich vielmehr allein nach den Normen des materiellen Steuerrechts (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897; BFH-Urteile vom 4. März 1993 IV R 110/92, BFHE 171, 381, BStBl II 1993, 788; vom 12. Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957). Die ausgelöste Rückwirkung muß steuerschuldrechtlich begründet sein.
Danach fallen nachträglich vereinbarte Änderungen von Verträgen, denen auch zivilrechtlich lediglich aufgrund einer entsprechenden Abrede rückwirkende Kraft beigelegt wird, nicht unter die Regelung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 (Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 175 AO 1977 Anm. 14 m. w. N.). Im Streitfall waren sich die Parteien über den festgelegten Kaufpreis einig. Sie waren sich auch über die steuerlichen Folgen des Ausweises der Umsatzsteuer im klaren. Daß sie dabei von der Anerkennung des Zwischenmietverhältnisses ausgingen, ist nicht erheblich. Eine entsprechende Steuerklausel ist -- unabhängig von der Frage ihrer steuerlichen Anerkennung -- in den Vertrag nicht aufgenommen worden.
2. Auch die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ist im Streitfall nicht anwendbar. Danach ist u. a. Voraussetzung für die Aufhebung eines bestandskräftigen Steuerbescheides, daß dem FA bei dessen Erlaß Tatsachen oder Beweismittel, die zu diesem Zeitpunkt bereits entstanden waren, unbekannt geblieben sind und erst "nachträglich bekannt werden" (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75). Dies trifft auf spätere Vertragsänderungen nicht zu.
3. Der Steuerfestsetzung liegt der Verzicht auf die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG 1980 zugrunde, den die Klägerin jedenfalls dadurch erklärte, daß sie entsprechende Vorsteuern geltend machte und die Veräußerungserlöse im Streitjahr der Umsatzsteuer unterwarf. Ein Widerruf dieses Verzichts ist nach Eintritt der formellen Bestandskraft des Bescheides nicht mehr möglich (BFH-Urteil vom 19. Dezember 1985 V R 139/76, BFHE 146, 484, BStBl II 1986, 500, 502, Nr. 2).
4. Aufgrund des Antrags der Klägerin ist der geänderte Bescheid vom 8. August 1991 in der Revisionsinstanz gemäß § 68 FGO in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung Gegenstand des Verfahrens geworden. Die Vorschrift des § 68 FGO ist auch im Rahmen eines Verpflichtungsbegehrens anzuwenden, wenn dies wie im Streitfall notwendigerweise auch ein Anfechtungsbegehren beinhaltet (BFH-Urteil vom 24. Mai 1991 III R 105/89, BFHE 165, 345, BStBl II 1992, 123). Mit der Änderung des Verfahrensgegenstandes ist die Vorentscheidung gegenstandslos geworden und damit aufzuheben (BFH-Urteile vom 2. Februar 1973 III R 27/72, BFHE 108, 297, BStBl II 1973, 501; vom 10. Dezember 1992 XI R 34/91, BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158).
Einer Zurückverweisung an das FG bedarf es nicht, da die Sache aufgrund der fortwirkenden Feststellungen des FG spruchreif ist; der Streitstoff wird durch die Änderung des Bescheides nicht berührt (BFH-Urteil vom 20. Juli 1988 II R 164/85, BFHE 154, 13, BStBl II 1988, 955). Die Klage war daher abzuweisen.
Fundstellen