Rz. 125
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Kommt der ArbG als Haftender für die LSt des ArbN in Betracht, weil ein Haftungstatbestand (> Rz 33 ff) gegeben ist und kein Fall der Haftungsausschlüsse (> Rz 55 ff, > Rz 105 ff) vorliegt und das Entschließungsermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt worden ist, so kann das > Betriebsstätten-Finanzamt die Steuerschuld oder Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs 3 Satz 2 EStG). § 42d Abs 3 EStG betrifft nur den in der Praxis häufigen Fall, dass das FA vor der Wahl steht, ob es einen Haftungsbescheid gegen den ArbG oder einen Nachforderungsbescheid gegen den ArbN erlässt (> Rz 95 ff). Soweit die Voraussetzungen hierfür vorliegen, kann das FA den ArbN aber auch veranlagen oder einen ESt-Bescheid zum Zwecke der Nachforderung ändern (> Rz 72, 73). Die Inanspruchnahme des ArbN für nicht einbehaltene oder nicht abgeführte LSt durch erstmalige Festsetzung von ESt oder durch Änderung dieser Festsetzung ist – anders als im Falle einer Inanspruchnahme nach § 42d Abs 3 Satz 4 EStG – keine Ermessensentscheidung (> Rz 72).
Rz. 126
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Das FA hat sein > Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung (hier: § 42d Abs 3 EStG) auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Dazu muss das FA im Einzelfall und unter Beachtung der Ermessenskriterien (> Rz 100 ff) abwägen, welchen Gesamtschuldner es heranziehen will (BFH 114, 342 = BStBl 1975 II, 297).
Die Rechtsprechung hat klargestellt, dass
- die Inanspruchnahme des ArbG als Haftender nur vertretbar ist, wenn die von ihm nicht einbehaltene LSt nicht ebenso leicht vom ArbN eingezogen werden kann (BFH 134, 149 = BStBl 1981 II, 801 [804]),
- die Inanspruchnahme des ArbN als Schuldner keinesfalls die Ausnahme ist, die hinter die Haftung des ArbG zurücktritt (BFH 144, 217 = BStBl 1985 II, 660; > Rz 72, 74), und
- bloße Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte des FA, die besonders die schnelle und einfache Nacherhebung der LSt als maßgebend ansehen, für die Ermessensausübung allein nicht ausreichen (EFG 2009, 1805).
Andererseits ist aber der Zweck des LSt-Verfahrens zu beachten, durch den Abzug an der Quelle den schnellen Eingang der LSt in einem vereinfachten Verfahren sicherzustellen (BFH 113, 157 = BStBl 1974 II, 756). Maßgebend ist letztlich eine Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls.
Rz. 127
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Die vorrangige Haftungsinanspruchnahme des ArbG wird nicht deshalb ausgeschlossen, weil der ArbN veranlagt wird (§ 42d Abs 3 Satz 3 EStG; BFH 194, 372 = BStBl 2003 II, 151). Sie ist idR in folgenden Fällen ermessensfehlerfrei:
Rz. 128
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- Der ArbG hat die LSt zunächst pauschaliert, weil er sie im Verhältnis zum ArbN übernehmen wollte, hat die Pauschalierung aber danach rückgängig gemacht. Dann hat der ArbG den LSt-Abzug nicht vorschriftswidrig unterlassen (> Pauschalierung der Lohnsteuer Rz 188/2);
Rz. 129
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- der ArbG hat (zB von Schwarzlöhnen) vorsätzlich (> Rz 158 f) keine LSt einbehalten und abgeführt (BFH 144, 290 = BStBl 1985 II, 688; BFH 166, 558 = BStBl 1992 II, 443; BFH 172, 467 = BStBl 1994 II, 194); bei einer solchen Steuerstraftat ist das Auswahlermessen des FA gegen den Täter vorgeprägt (BFH 224, 306 = BStBl 2009 II, 478);
Rz. 130
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- der ArbG hat sich über seine Abzugspflicht bewusst hinweggesetzt oder es leichtfertig versäumt, beim FA eine Anrufungsauskunft (> Auskünfte und Zusagen des Finanzamts Rz 5 ff) einzuholen (vgl BFH 210, 420 = BStBl 2006 II, 30), oder die Einbehaltung der LSt in einem rechtlich einfach und eindeutig liegenden Fall nur deshalb unterlassen, weil er sich über seine Verpflichtungen nicht hinreichend unterrichtet hat (BFH 101, 389 = BStBl 1971 II, 353); ebenso bei einem bewussten Verstoß im Rahmen der Pauschalierung der LSt (EFG 1993, 465);
Rz. 131
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- die Haftung des ArbG dient der Vereinfachung, weil gleiche oder ähnliche Fehler bei einer größeren Zahl von ArbN gemacht worden sind (BFH 129, 559 = BStBl 1980 II, 289; BFH 221, 182 = BStBl 2008 II, 933). Eine "größere Zahl von ArbN" ist idR bei mehr als 40 ArbN gegeben (BFH 167, 359 = BStBl 1992 II, 696). Diese im Urteilsfall gegebene Zahl ist aber uE nicht als absolute Untergrenze zu sehen (glA von Bornhaupt, BB 1992, 2054);
Rz. 132
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- die Nachforderung betrifft nur wenige ausgewählte Fälle, für die im Hinblick auf eine dahinterstehende große Zahl von Fällen ein Musterprozess geführt werden soll (BFH 110, 339 = BStBl 1974 II, 8);
Rz. 133
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- das FA kann die ArbN aufgrund einer fehlerhaften Unterlassung des ArbG – vorgeschriebene Aufzeichnungen sind nicht vorhanden – aus tatsächlichen Gründen nicht als Schuldner der LSt heranziehen (BFH 142, 483 = BStBl 1985 II, 164);
Rz. 134
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
- die individuelle Ermittlung der LSt ist arbeitsaufwendig, ggf ist eine tatsächliche Verständigung möglich (>...