Nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Im Rahmen dieser Änderungsvorschrift geht es häufig um die Frage, was ein sog. rückwirkendes, die Anwendung der Vorschrift rechtfertigendes Ereignis darstellt.
Geht ein Grundstück von mehreren Miteigentümern auf eine Gesamthand (Gemeinschaft zur gesamten Hand) über, so wird nach § 5 Abs. 1 GrEStG die Steuer nicht erhoben, soweit der Anteil des einzelnen am Vermögen der Gesamthand Beteiligten seinem Bruchteil am Grundstück entspricht. § 5 Abs. 1 GrEStG ist insoweit nicht anzuwenden, als sich der Anteil des Veräußerers am Vermögen der Gesamthand innerhalb von fünf Jahren nach dem Übergang des Grundstücks auf die Gesamthand vermindert (§ 5 Abs. 3 GrEStG). § 5 Abs. 3 GrEStG ist kein eigener Steuertatbestand, sondern bestimmt für dem Grunde nach der Grunderwerbsteuer unterliegende Einbringungsvorgänge, dass u.a. die Steuervergünstigung nach § 5 Abs. 1 GrEStG nachträglich entfällt. Insoweit stellt die Verminderung des Anteils des Veräußerers am Vermögen der Gesamthand ein Ereignis dar, das steuerrechtlich auf den Einbringungsvorgang zurückwirkt und für diesen die Vergünstigung nach § 5 Abs. 1 GrEStG ausschließt. Die Voraussetzungen für die Nichterhebung der Steuer gem. § 5 Abs. 1 GrEStG entfallen daher rückwirkend i.S.d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 S. 1 Alternative 1 AO, soweit sich der Anteil des Veräußerers am Vermögen der Gesamthand innerhalb von fünf Jahren nach dem Übergang des Grundstücks auf die Gesamthand vermindert. Ein Steuerbescheid für den Einbringungsvorgang ist entsprechend zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern (BFH v. 15.1.2019 – II R 39/16, BStBl. II 2019, 627 = AO-StB 2019, 237).
Die Festsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid nach Eintritt der Bestandskraft, die aufgrund der im Änderungsbescheid berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen erstmals eine erfolgreiche Antragstellung gem. § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht, ist ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, das einen korrekturbedürftigen Zustand auslöst (BFH v. 14.7.2020 – VIII R 6/17, BStBl. II 2021, 92). Die Herabsetzung der Gegenleistung i.S.d. § 16 Abs. 3 GrEStG ermöglicht dagegen keine Änderung der festgesetzten Grunderwerbsteuer als rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Das folgt aus § 16 Abs. 4 GrEStG und § 175 Abs. 1 S. 2 AO und entspricht dem Grundsatz, dass die steuerrechtliche Wirkung für die Vergangenheit autonom für das jeweilige materielle Steuergesetz zu beurteilen ist (BFH v. 22.7.2020 – II R 15/18, BStBl. II 2021, 165; v. 22.7.2020 – II R 32/18, BStBl. II 2021, 167; v. 4.11.2019 – II B 48/19, BFH/NV 2020, 182).
Die Feststellung von Wertansätzen ist kein rückwirkendes Ereignis, das die Möglichkeit einer nachträglichen Wahlrechtsausübung auf Vollverschonung nach § 13a Abs. 8 ErbStG a.F. nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO eröffnet. Denn der der Feststellung zugrunde liegende tatsächliche Lebensvorgang ist im Zeitpunkt der Entstehung der Steuer bereits eingetreten. Lediglich die Bewertung dieses Sachverhalts kann sich im Nachhinein durch die Wertfeststellung ändern. Dies rechtfertigt jedoch keine Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO (BFH v. 5.3.2020 – II B 99/18, BFH/NV 2020, 852).
Die Stellung des Antrags auf Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2007 durch den Geber samt Einreichung der Zustimmungserklärung des Empfängers ist bereits das rückwirkende Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2 AO, das zur Änderung der Einkommensteuerfestsetzung des Empfängers der Unterhaltsleistung nach § 22 Nr. 1a EStG führt. Auf die tatsächliche Anerkennung der Leistungen als Sonderausgaben beim Geber kommt es nicht an (BFH v. 28.7.2021 – X R 15/19, BFH/NV 2022, 367 = AO-StB 2022, 119 [Marfels]).
Liegt die Wertschöpfungsquote in einem Jahr erstmals nicht mehr überwiegend beim verarbeitenden Gewerbe (im Streitfall: Futterherstellung) und liegt deswegen kein Betrieb des verarbeitenden Gewerbes i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InvZulG 2010 mehr vor, dann ist die Verschiebung der Wertschöpfungsanteile in diesem Jahr das maßgebliche "Ereignis" für eine Änderung des bestandskräftigen Investitionszulagenbescheids i.S.d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Überwiegt in den Folgejahren weiter das nicht verarbeitende Gewerbe, so ist in den Folgejahren nicht von einem rückwirkenden Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO auszugehen. Denn maßgebliches "Ereignis" ist die Verschiebung der Wertschöpfungsanteile, durch die ein Betrieb seine Eigenschaft als "verarbeitend" verliert. Der Fortbestand eines – weiterhin – nicht verarbeitenden Betriebes kann nicht als "Ereignis" eingeordnet werden (FG MV v. 27.10.2021 – 3 K 174/20, EFG 2022, 73). Das FG entschied zudem, dass § 175 Abs. 1 S. 2 AO nach seinem klaren Wortlaut eine Regelung zum Beginn der Festsetzungsfrist, nicht dagegen zur Hemmung der Verjährung enthält.
Die Anträg...