Vielfach diskutiert und Gegenstand zahlreicher Gerichtsurteile (Ausführungen dazu in Haumann, DStR 2019, 1848) ist die Auslegung des Wortlauts des § 171 Abs. 14 AO. Die Intention des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich auf Fälle zu begrenzen, in denen aufgrund eines unwirksamen Bescheids gezahlt wurde (BT-Drucks. 10/1636, 44), hat im Wortlaut der Norm leider kaum Ausdruck gefunden. Deshalb greift die Ablaufhemmung (nach dem Wortlaut der Norm) nun in allen Fällen, in denen ein Anspruch auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Steuern besteht. Fraglich bleibt indes, was den Rechtsgrund der gezahlten Steuern darstellt.
Nach der formellen Rechtsgrundtheorie kommt es grundsätzlich nur auf die Bescheidlage an. Ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung besteht danach selbst dann, wenn der entspr. Bescheid zwar materiell unrichtig ist, aber (noch) nicht geändert wurde oder nicht mehr geändert werden kann (BFH v. 4.8.2020 – VIII R 39/18, BStBl. II 2022, 98 Rz. 27 = AO-StB 2021, 15 [Steinhauff]; Ratschow in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 37 Rz. 25; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 37 Rz. 31).
Die materielle Rechtsgrundtheorie stellt hingegen auf die Entstehung des rein materiellen Steueranspruchs ab, also darauf, ob nach den Steuergesetzen ein Anspruch auf die Zahlung bestand (BFH v. 4.8.2020 – VIII R 39/18, BStBl. II 2022, 98 Rz. 28 = AO-StB 2021, 15 [Steinhauff]); Ratschow in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 37 Rz. 25). Dies gilt unabhängig davon, ob er bereits durch einen Bescheid festgesetzt wurde (Roth, PStR 2018, 218 [219]).
Einige Stimmen in der Literatur halten die formelle Rechtsgrundtheorie für vorzugswürdig (Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 37 Rz. 52; Schwarz in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 37 Rz. 10; Koenig, DStR 1991, 633 [638]; Nacke/Peichert, DStZ 1996, 207 [208 f.]; Grams, BB 1997, 70 [71 f.]). Auch der BFH, dessen Rspr. zu diesem grundsätzlichen Theoriestreit allerdings bedauerlicherweise uneinheitlich ist (zur materiellen Rechtsgrundtheorie tendierend: BFH v. 6.2.1996 – VII R 50/95, BStBl. II 1997, 112; BFH v. 6.6.2000 – VII R 104/98, BStBl. II 2000, 491 [492 ff.] = EStB 2000, 339 [Rothenberger]; zur formellen Rechtsgrundtheorie tendierend: BFH v. 28.11.1990 – V R 117/86, BStBl. II 1991, 281; BFH v. 17.5.1995 – I B 183/94, BStBl. II 1995, 781; BFH v. 12.10.1995 – I R 39/95, BStBl. II 1996, 87; BFH v. 8.9.2010 – I R 90/09, BStBl. II 2013, 11 [14] =ErbStB 2011, 66 [Ch. Böing]; offenlassend: BFH v. 15.10.1997 – II R 56/94, BStBl. II 1997, 796 [798]; BFH v. 9.2.1993 – VII R 12/92, BStBl. II 1994, 207; BFH v. 29.10.2002 – VII R 2/02, BStBl. II 2003, 43 [45] = AO-StB 2003, 42 [Stöcker]), vertrat vor Kurzem in einem Urteil zu freiwilligen Akontozahlungen bei Selbstanzeige (§ 371 AO) die formelle Rechtsgrundtheorie (BFH v. 4.8.2020 – VIII R 39/18, BStBl. II 2022, 98 Rz. 27 = AO-StB 2021, 15 [Steinhauff]).
Richtigerweise ist jedoch die materielle Rechtsgrundtheorie anzuwenden (gleicher A. Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 38 Rz. 73; Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35 Rz. 33; Brühl in BeckOK/AO, Stand: 4/2023, § 37 Rz. 159; Schlücke in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 37 Rz. 90; Drüen in Tipke/Kruse, AO, Stand: 5/2023, § 38 Rz. 35; Ratschow in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 37 Rz. 27; Schubert in Zugmaier/Nöcker, AO, 2022, § 37 Rz. 25; Hein, DStR 1990, 301 [304]; Weiß, UR 1991, 144 [146]). Der rechtliche Grund für die Erfüllung eines Anspruchs aus einem Steuerschuldverhältnis ergibt sich stets nur aus dem Gesetz und nicht aus der Steuerfestsetzung mittels Verwaltungsakt. Dass ein (ggf. unrichtiger) Bescheid einen Rechtsgrund für das Behaltendürfen einer Steuerzahlung darstellen soll, ist bereits denklogisch absurd. Überdies unterscheidet die AO klar zwischen der materiell-rechtlichen Entstehung von Ansprüchen aus einem Steuerschuldverhältnis (§ 38 AO) und deren tatsächlicher Verwirklichung (§ 218 AO). Es erscheint daher nur folgerichtig, das Tatbestandsmerkmal "rechtlicher Grund" des § 37 Abs. 2 AO als materiell-rechtlichen Grund zu verstehen (Schubert in Zugmaier/Nöcker, AO, 2022, § 37 Rz. 6).