Rückstellungen wegen zivilrechtlicher Schadensersatzverpflichtungen oder wegen öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen dürfen erst gebildet werden, wenn der Anspruchsinhaber von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis hat oder eine solche Kenntniserlangung unmittelbar bevorsteht, so dass eine Inanspruchnahme wahrscheinlich ist. Aus dem Vorsichtsprinzip folgt, dass nicht nur die bestehende Kenntnis, sondern auch eine unmittelbar bevorstehende Kenntniserlangung des Gläubigers die Bildung einer Rückstellung rechtfertigt (zum Vorsichtsprinzip vgl. in diesem Zusammenhang BFH v. 22.8.2012 – X R 23/10, BStBl. II 2013, 76 = DStR 2012, 2114 = HFR 2012, 1232 = NZWiSt 2012, 473; Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 249 Rz. 8 ff.).
Bei Verpflichtungen, die aus Straftaten resultieren, entsteht die Verbindlichkeit nach den maßgebenden zivil- oder öffentlich-rechtlichen Grundsätzen zwar bereits mit Begehung der Tat. Solange der Steuerpflichtige aber davon ausgehen kann, dass die Tat unentdeckt bleibt, stellt die Verbindlichkeit für ihn keine wirtschaftliche Belastung dar, so dass es an der hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme fehlt. Ob eine Inanspruchnahme aus der ungewissen Verbindlichkeit zu erwarten ist, richtet sich nach den Verhältnissen des jeweiligen Bilanzstichtags unter Berücksichtigung der bis zur Bilanzaufstellung oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Bilanz im ordnungsgemäßen Geschäftsgang (§ 243 Abs. 3 HGB) aufzustellen gewesen wäre, bekanntwerdenden wertaufhellenden Umstände (vgl. hierzu Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, Rz. 11 ff.).
Diese Grundsätze sind auch auf Rückstellungen für die drohende Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen aus von ihm hinterzogenen Steuern anzuwenden. Für die Rückstellungsbildung reicht es weder aus, dass der Steuerpflichtige selbst von der Steuerhinterziehung Kenntnis hat, noch dass nach allgemeiner Erfahrung im Anschluss an Außen- und Fahndungsprüfungen häufig mit der Festsetzung von Mehrsteuern zu rechnen ist. Eine Rückstellung ist vielmehr erst zu dem Bilanzstichtag zu bilden, zu dem der Steuerpflichtige aufgrund eines hinreichend konkreten Sachverhalts ernsthaft mit einer quantifizierbaren Steuernachforderung rechnen muss, also frühestens dann, wenn der Prüfer eine bestimmte Sachbehandlung beanstandet hat (gl.A. BFH v. 12.5.2020 – XI B 59/19, BFH/NV 2020, 909; FG Düsseldorf v. 29.8.2013 – 13 K 4451/11 E, G, StBW 2014, 87 = EFG 2014, 53 = AO-StB 2014, 279; FG Münster v. 20.8.2019 – 12 K 2903/15 G, F, AO-StB 2020, 187; Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 40. Aufl. 2021, § 5 EStG Rz. 550 "Betriebsprüfung"; Reddig in Kirchhof/Seer, EStG, 21. Aufl. 2022, § 5 Rz. 160 ff.; Frotscher in Frotscher/Geurts, EStG, § 5 Rz. 458 "Steuerhinterziehung (Steuerfahndung)" [März 2019]; Krumm in Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 5 EStG Rz. 920 "Steuern" (Dezember 2021); Tiedchen in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 5 EStG Rz. 695 "Betriebsprüfung" [Dezember 2021]: "...aufdeckungsorientierte Maßnahme"; a.M. offenbar Stahl, kösdi 2022, 22687 [22692]).
FG Münster v. 1.9.2021 – 13 K 863/18 K, G
Service: Teutemacher, Aktuelles zu Kassenprüfungen der Finanzverwaltung, AO-StB 2020, 123; Tormöhlen, Aktuelle Rechtsprechung zur Außenprüfung, AO-StB 2020, 185; Tormöhlen, Aktuelle Rechtsprechung zur Außenprüfung, AO-StB 2019, 278; Tormöhlen, Aktuelle Rechtsprechung zur Außenprüfung, AO-StB 2018, 178; Tormöhlen, Aktuelle Rechtsprechung zur Außenprüfung, AO-StB 2014, 276; abrufbar unter steuerberater-center.de