Bei rückwirkenden Ereignissen (§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO) ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Das FA ist bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zur Änderung verpflichtet. Beachten Sie: Gleichwohl ist ein Änderungsantrag insb. dann angezeigt, wenn das FA von dem im Nachhinein eingetretenen Ereignis keine Kenntnis hat.
Rückwirkendes Ereignis: Im Rahmen dieser Änderungsvorschrift geht es häufig um die Frage, was ein sog. rückwirkendes, die Anwendung der Vorschrift rechtfertigendes Ereignis darstellt. Dabei ist es unschädlich, wenn der Sachverhalt, auf den sich das Ereignis auswirkt, im Ausgangsbescheid nicht berücksichtigt war (BFH v. 16.6.2015 – IX R 30/14, BStBl. II 2017, 94 = AO-StB 2015, 350). Die bloße rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Vorschriften ist jedoch nicht bereits deshalb als rückwirkendes Ereignis zu sehen, weil sich dadurch der dem Steuertatbestand zugrunde liegende Lebenssachverhalt nicht ändert (BFH v. 12.7.2017 – I R 86/15, BStBl. II 2018, 138). Das FG Baden-Württemberg sieht in einem Antrag auf Anwendung des § 3a EStG kein rückwirkendes Ereignis (FG BW v. 16.11.2021 – 8 K 1367/20, EFG 2022, 545, Rev. eingelegt, Az. des BFH: IV R 2/22).
Die Erteilung der Restschuldbefreiung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens stellt für die Ermittlung des Gewinns aus einer Betriebsaufgabe auch dann ein rückwirkendes Ereignis dar, wenn der Betrieb erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden ist (BFH v. 6.4.2022 – X R 28/19, BStBl. II 2023, 341 = AO-StB 2023, 40 (Uhländer)). Bei der Rückabwicklung eines vollzogenen Rechtsgeschäfts muss der Grund für die Veränderung im ursprünglichen Kaufvertrag angelegt sein und darüber hinaus eine tatsächliche und vollständige Rückabwicklung erfolgen (FG Münster v. 15.4.2015 – 13 K 2939/12 E, EFG 2015, 1242).
Die Umwandlung einer Lebenspartnerschaft nach § 20a LPartG in eine Ehe ist nach Auffassung des FG Hamburg ein rückwirkendes Ereignis, das sich aus Art. 3 Abs. 2 des Eheeröffnungsgesetzes ergibt (FG Hamburg v. 31.7.2018 – 1 K 92/18, EFG 2018, 1518). Dagegen ist die Wahl einer bestimmten Veranlagungsart oder deren Änderung durch einen Ehegatten kein rückwirkendes Ereignis, wenn beide Ehegatten für den betreffenden Veranlagungszeitraum bereits bestandskräftig zur Einkommensteuer veranlagt sind (BFH v. 25.9.2014 – III R 5/13, BFH/NV 2015, 811). Die Rückabwicklung oder Anpassung eines Ehevertrags führt dann zu einem rückwirkenden Ereignis, wenn sich aus den gesamtumständen des Einzelfalls ergibt, dass bestimmte Steuerfolgen, die von den beteiligten zur Geschäftsgrundlage des Vertrags gemacht worden sind, auch für Dritte erkennbar im ursprünglichen Ehevertrag angelegt waren (FG Nds. v. 14.12.2022 – 9 K 162/21, EFG 2023, 470, Rev. eingelegt, Az. des BFHG: IX R 4/23). Auch die Feststellung von Wertansätzen ist kein rückwirkendes Ereignis, das die Möglichkeit einer nachträglichen Wahlrechtsausübung auf Vollverschonung nach § 13a Abs. 8 ErbStG a.F. nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO eröffnet (BFH v. 5.3.2020 – II B 99/18, BFH/NV 2020, 852).
Im Bereich der Grunderwerbsteuer findet § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO Anwendung, wenn die Voraussetzungen für die Nichterhebung der Steuer gem. § 5 Abs. 2 i.V.m. § 3 Nr. 2 und Nr. 6 GrEStG entfallen, soweit sich der Anteil des Veräußerers bzw. der verwandten oder beschenkten Personen am Vermögen der Gesamthand innerhalb von fünf Jahren nach dem Übergang des Grundstücks auf die Gesamthand vermindert (BFH v. 17.12.2014 – II R 2/13, BStBl. II 2015, 557). Bei Kaufpreisminderung innerhalb von zwei Jahren nach Kaufvertragsabschluss kann ein Grunderwerbsteuerbescheid nur nach § 16 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG, nicht aber nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden, da eine Kaufpreisminderung ebenso wie ein Rücktritt oder eine Wandelung kein rückwirkendes Ereignis darstellt (BFH v. 22.7.2020 – II R 15/18, BStBl. II 2021, 165). Bei Neubewertung eines Grundstücks durch ein Gerichtsurteil mit anschließender Kaufpreisminderung aufgrund eines Vorbehalts im Kaufvertrag ist die Grunderwerbsteuerfestsetzung nicht nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO änderbar (BFH v. 22.7.2020 – II R 32/18, BStBl. II 2021, 167).
Die zur Grundlage einer Steuerfestsetzung oder gesonderten Gewinnfeststellung gewordene Korrektur des Wertansatzes für ein Wirtschaftsgut, das Teil des Betriebsvermögens am Schluss des Wirtschaftsjahres ist, stellt ein rückwirkendes Ereignis für die Steuerfestsetzung oder Gewinnfeststellung eines Folgejahres dar, bei der sich der Wertansatz gewinnerhöhend oder gewinnmindernd auswirkt (BFH v. 14.12.2011 – IV B 83/10, BFH/NV 2012, 702).