Leitsatz
1. Ernstliche Zweifel i.S.d. § 69 Abs. 2 und 3 FGO können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein.
2. In diesem Fall kommt wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes eine Aufhebung der Vollziehung nur in Betracht, wenn ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt.
Normenkette
§ 69 Abs. 2 und 3 FGO, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG, § 32 Abs. 6 EStG
Sachverhalt
Die Antragstellerin erhielt von der Familienkasse für ihre Töchter Kindergeld in Höhe von jeweils 2.208 EUR. Beim ESt-Bescheid 2014 berücksichtigte das FA für die Töchter insbesondere Freibeträge in der gemäß § 32 Abs. 6 EStG für das Streitjahr 2014 geltenden Höhe von jeweils 7.008 EUR. Der Abzug der steuerlichen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG war für die Antragstellerin günstiger als das Kindergeld. Im Gegenzug erhöhte das FA nach §§ 31, 2 Abs. 6 Satz 3 EStG die sich unter Abzug dieser Freibeträge ermittelte ESt um das Kindergeld.
Mit ihrem Einspruch hiergegen machte die Antragstellerin geltend, die Kinderfreibeträge 2014 seien aus mehreren Gründen verfassungswidrig zu niedrig. Die Antragstellerin beantragte AdV. Das FA lehnte den AdV-Antrag ab. Der beim FG gestellte und nach Zahlung der ESt auf Aufhebung der Vollziehung gerichtete Antrag hatte zum Teil Erfolg. Das FG ging davon aus, dass die den Kinderfreibetrag regelnde Vorschrift in § 32 Abs. 6 EStG im Streitjahr 2014 verfassungswidrig sei (Niedersächsisches FG, Urteil vom 16.2.2016, 7 V 237/15, Haufe-Index 9116106, EFG 2016, 656).
Entscheidung
Der BFH hob den Beschluss des FG auf und lehnte den Antrag auf Vollziehungsaufhebung ab, da keine Gründe vorlagen, bei denen bei einem formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetz ausnahmsweise die Vollziehung aufzuheben sei.
Hinweis
1. Die Rechtsprechung billigt formell verfassungsgemäß zustandegekommenen Gesetzen einen allgemeinen Geltungsanspruch zu. Bei Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit eines einem Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzes kommt eine Aufhebung der Vollziehung daher nur ausnahmsweise bei einem besonders berechtigten Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Betracht.
2. Hiervon geht der BFH z.B. dann aus, wenn
• das zuständige Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer streitentscheidenden Vorschrift überzeugt ist und diese deshalb gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat,
• ein beim BFH anhängiges Verfahren, das für die Beantwortung von Rechtsfragen vorgreiflich ist, im Hinblick auf beim BVerfG anhängige Verfahren der konkreten Normenkontrolle ruht,
• dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen,
• das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden ESt unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt,
• das BVerfG eine ähnliche Vorschrift bereits für nichtig erklärt hat oder wenn
• der BFH die vom Kläger als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hat.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 21.7.2016 – V B 37/16