Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, soweit diese nach dem 31.12.2018 entstanden sind (Anschluss an BFH-Beschlüsse vom 23.05.2022 ‐ V B 4/22 (AdV), zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen, und vom 31.08.2021 – VII B 69/21 (AdV), n.v.).
Normenkette
§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO, § 69 Abs. 3 FGO
Sachverhalt
Gegenstand des Antrags auf AdV waren die in den Abrechnungsbescheiden jeweils vom 10.1.2022 ausgewiesenen und nicht erlassenen Säumniszuschläge zur ESt 2019, zum SolZ zur ESt 2019 sowie zur ESt-Vorauszahlung für das erste Kalendervierteljahr 2021. Das FA lehnte die AdV ab. Hierauf beantragten die Antragsteller beim FG die AdV der angefochtenen Abrechnungsbescheide. Das FG gab diesem Antrag statt (FG Münster, Beschluss vom 25.4.2022, 12 V 570/22 AO, Haufe-Index 15156987, EFG 2022, 1083).
Entscheidung
Der BFH hat die hiergegen gerichtete Beschwerde des FA als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Der VIII. Senat des BFH ist mit der vorliegenden Entscheidung den BFH-Beschlüssen vom 23.5.2022, V B 4/22 (AdV) und vom 31.8.2021, VII B 69/21 (AdV) gefolgt, wonach ernsthafte verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen, soweit diese nach dem 31.12.2018 entstanden sind. Diese Zweifel betreffen allein deren zinsähnliche Funktion als Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und nicht deren Funktion als Druckmittel. Diese ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe führen jedoch dazu, dass die Säumniszuschläge in voller Höhe von der Vollziehung auszusetzen sind, da es keine Teilverfassungswidrigkeit in Bezug auf einen bestimmten Zweck einer Norm gibt.
2. Der BFH stützt sich in Bezug auf die Verfassungswidrigkeit der Höhe des Säumniszuschlags nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO auf den Beschluss des BVerfG vom 8.7.2021, 1 BvR 2422/17 (BFH/NV 2021, 1455; BVerfGE 158, 282). Danach verstößt die in § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO festgelegte Zinshöhe gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Allerdings gilt dies aufgrund der Fortgeltungsanordnung des BVerfG auch für Säumniszuschläge erst ab dem 1.1.2019.
3. Es besteht nach der Auffassung des BFH auch ein berechtigtes Interesse der Antragsteller an der AdV der angefochtenen Abrechnungsbescheide. Dabei hat der VIII. Senat offengelassen, ob es bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm eines besonderen Aussetzungsinteresses bedarf. Die Interessenabwägung fällt im vorliegenden Fall zugunsten der Antragsteller aus. Denn die Ausführungen des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe nach § 240 ZPO lassen bei der gebotenen summarischen Prüfung auch eine Anpassung des in den Säumniszuschlägen enthaltenen Zinsanteils für erforderlich erscheinen. Zudem war für den BFH nicht ersichtlich, dass die Gewährung der AdV das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren konnte.
4. Zwar weicht der VIII. Senat mit seiner Entscheidung von der Entscheidung des II. Senats des BFH (BFH, Beschluss vom 20.9.2022, II B 3/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1328) ab. In dieser hat der II. Senat die Gewährung der AdV eines Abrechnungsbescheids über Säumniszuschläge abgelehnt. Eine Anrufung des Großen Senats des BFH nach § 11 Abs. 2 FGO wegen einer Rechtsfrage im Verfahren der AdV, in dem die Rechtsfrage nicht abschließend zu beantworten ist, kommt jedoch nicht in Betracht.
5. Darauf hinzuweisen ist, dass der VI. Senat des BFH (BFH, Beschluss vom 28.10.2022, VI B 15/22 (AdV), BFH/NV 2023, 47) keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge hatte. Dies verwundert insofern, als diese Entscheidung nach den Aussetzungsbeschlüssen des BFH (BFH, Beschluss vom 23.5.2022, V B 4/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1030, und BFH, Beschluss vom 31.8.2021, VII B 69/21 (AdV)) ergangen ist. An sich rechtfertigt bereits ein Widerspruch zwischen zwei Entscheidungen des BFH zur selben Rechtsfrage die Gewährung von AdV (BFH, Beschluss vom 5.2.1986, I B 39/85, Haufe-Index 61231, BStBl II 1986, 490; Gräber, FGO § 69 FGO, Rz. 161).
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 11.11.2022 – VIII B 64/22 (AdV)