Entscheidungsstichwort (Thema)
Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitkräfte (Chemie)
Leitsatz (amtlich)
Nach § 3 und § 4 des Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte in der chemischen Industrie in der Fassung vom 1. Juli 1990 besteht ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge nur für Arbeitsstunden, die über die tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehen. Diese Regelung ist rechtswirksam, auch wenn sie dazu führt, daß Vollzeitkräfte regelmäßig für Arbeitsleistungen über das arbeitsvertraglich geschuldete Maß hinaus Mehrarbeitszuschläge erhalten, während dies bei Teilzeitkräften nicht in vergleichbarer Weise der Fall ist.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Chemie; Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte in der chemischen Industrie (MTV Chemie) i.d.F. vom 1. Juli 1990 §§ 2-4; EGVtr Art. 119 Abs. 1; BeschFG 1985 § 2 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1, 3; BGB § 242; Tarifvertrag über Teilzeitarbeit in der chemischen Industrie vom 1. Juli 1987 § 6
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob der teilzeitbeschäftigten Klägerin tarifvertragliche Mehrarbeitszuschläge zustehen.
Die Klägerin ist bei der Beklagten als Sekretärin beschäftigt. Bis zum 31. August 1992 arbeitete sie in Teilzeit bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche, um neben ihrem Beruf studieren zu können. In den Monaten Februar bis August 1992 arbeitete die Klägerin auf Anordnung der Beklagten insgesamt 103,45 Stunden über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus. Sie überschritt dabei aber die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit nicht.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin für die von ihr über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleisteten Arbeitsstunden einen 25 %igen Zuschlag von 6,90 DM je Stunde, also insgesamt 713,81 DM brutto verlangt.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte der chemischen Industrie (MTV Chemie) Anwendung. In der in der fraglichen Zeit gültigen Fassung vom 1. Juli 1990 heißt u.a.:
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Regelmäßige Arbeitszeit
Dauer und Verteilung der Arbeitszeit
Die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit an Werktagen beträgt ausschließlich der Pausen 39 Stunden. Sie gilt nicht für Teilzeitbeschäftigte und Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft.
Wird wöchentlich an mehr als fünf Werktagen gearbeitet, so darf die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit ausschließlich der Pausen acht Stunden nicht überschreiten.
Die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden kann auch im Durchschnitt eines Verteilzeitraums von bis zu sechs Monaten erreicht werden. Im übrigen werden die Möglichkeiten der Verteilung der Arbeitszeit nach den gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere der § 4 AZO nicht berührt.
…
Beginn und Ende der Arbeitszeit
Beginn und Ende der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit und der Pausen werden betrieblich im Einvernehmen mit dem Betriebsrat geregelt.
§ 3
Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit, Rufbereitschaft und Reisekosten
Mehrarbeit
Mehrarbeit ist die über die tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit ausschließlich der Pausen, soweit sie angeordnet war. Dies gilt nicht für Teilzeitbeschäftigte …, solange nicht die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden überschritten wird.
…
Die gemäß § 2 vorgenommene anderweitige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit führt nicht zur Mehrarbeit.
Bei Angestellten sind gelegentliche geringfügige Überschreitungen der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit mit dem Monatsgehalt abgegolten.
§ 4
Zuschläge und Schichtzulagen
”
In § 6 des Tarifvertrages über Teilzeitarbeit in der chemischen Industrie vom 1. Juli 1987 (TV-TZ) heißt es:
“Die Bestimmungen des Manteltarifvertrages gelten für Teilzeitbeschäftigte, soweit sich nicht aus dem Wesen und der Gestaltung der Teilzeitarbeit etwas anderes ergibt. Soweit bei manteltarifvertraglichen Ansprüchen nicht bereits die jeweilige vertragliche Arbeitszeit maßgebend ist, ist das Verhältnis der vertraglichen zur tarifvertraglichen regelmäßigen Arbeitszeit zugrunde zu legen.”
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, § 3 Abschnitt I MTV Chemie sei wegen Verstoßes gegen Art. 1 § 2 Abs. 1 BeschFG und Art. 119 EG-Vertrag sowie die Richtlinie 75/117/EWG vom 10. Februar 1975 unwirksam. Durch diese Vorschrift seien wesentlich mehr Frauen als Männer nachteilig betroffen. Der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Teilzeitbeschäftigten betrage nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes bei steigender Tendenz stets über 90 %, in Einzelfällen 92 %.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 713,81 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem entsprechenden Nettobetrag seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat sich auf den Standpunkt gestellt, daß für die Zuschlagsfreiheit von Mehrarbeitsstunden, mit denen die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit nicht überschritten werde, sachliche Gründe bestünden. Das Freizeitopfer bei Teilzeitbeschäftigten wiege weniger schwer. Außerdem sei die mit Mehrarbeit verbundene zusätzliche Belastung bei Teilzeitbeschäftigten nicht so gravierend. Die Gleichbehandlung der Teilzeitbeschäftigten könne auch nicht im Hinblick auf den Arbeitsmarkt verlangt werden. Grund für die Absenkung der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit sei nicht die Entlastung des Arbeitsmarktes gewesen. Jedenfalls hätten solche Überlegungen keinen Eingang in den Tarifvertrag selbst gefunden. Der Mehrarbeitszuschlag stelle auch keinen Ausgleich für die Einschränkung der Freizeitdisposition dar. Er solle vielmehr die besondere Arbeitsleistung mit Arbeitsbelastung ab einer bestimmten Belastungsschwelle ausgleichen. Die Belastungsgrenze hätten die Tarifvertragsparteien nicht willkürlich festgelegt.
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 631,01 DM brutto nebst Zinsen verurteilt und die Klage im übrigen im Hinblick auf die tarifliche Ausschlußfrist abgewiesen. Die zugelassene Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Auf die Anschlußberufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht die Beklagte auch zur Zahlung weiterer 82,78 DM brutto nebst Zinsen verurteilt, weil die Klageforderung auch nicht teilweise verfallen sei. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen steht der Klägerin ein Anspruch auf die geltend gemachten Mehrarbeitszuschläge nicht zu.
I. Die Klägerin hat keinen tarifvertraglichen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge.
1. Ein Anspruch aus § 4 Abschn. I Nr. 1 MTV Chemie setzt die Leistung von Mehrarbeit i. S. von § 3 Abschn. I Abs. 1 MTV Chemie voraus. Mehrarbeitszuschläge stehen der Arbeitnehmerin erst dann zu, wenn die tarifliche Regelarbeitszeit überschritten wird, die sich im Anspruchszeitraum auf 39 Wochenarbeitsstunden belaufen hat. Diese Grenze gilt, wie § 3 Abschn. I Abs. 1 Satz 2 MTV Chemie klarstellt, auch für Teilzeitbeschäftigte wie die Klägerin, mit der eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden vereinbart war. Die Klägerin hat in keiner Woche tatsächlich länger als 39 Wochenarbeitsstunden gearbeitet.
Die Klägerin hat auch nicht behauptet, über die betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet zu haben. Damit kommt auch die zweite Anspruchsalternative des § 3 Abschn. I Abs. 1 Satz 1 MTV Chemie nicht in Betracht. Es kommt deshalb auch nicht darauf an, welche Bedeutung § 3 Abschn. I Abs. 1 Satz 2 MTV Chemie in diesem Zusammenhang hat.
2. An diesem Ergebnis ändert § 6 Satz 2 TV-TZ nichts. Die Vorschrift ordnet nicht an, daß im Rahmen der tariflichen Regelungen an die Stelle der regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit die vereinbarte Arbeitszeit zu treten hätte. Sie stellt vielmehr nur klar, daß dort, wo der MTV Chemie keine Regelung für Teilzeitkräfte bereithält, das Verhältnis der vertraglichen zur tarifvertraglichen regelmäßigen Arbeitszeit zugrunde zu legen ist. Die Zuschlagspflichtigkeit von Mehrarbeit ist aber in § 3 und § 4 MTV Chemie ausdrücklich auch für Teilzeitkräfte geregelt.
II. Die Klägerin kann den geltendgemachten Anspruch auch nicht auf eine unzulässige Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer stützen.
1. § 3 und § 4 MTV Chemie verstoßen nicht gegen Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag, wonach Männern und Frauen bei gleicher Arbeit das gleiche Entgelt zusteht.
a) Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag verpflichtet seinem Wortlaut nach zwar nur die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Er ist aber zugleich auch unmittelbar anwendbares nationales Recht und gibt einem Arbeitnehmer bei Verletzung einen unmittelbaren Anspruch gegen seinen Arbeitgeber (vgl. zuletzt EuGH Urteil vom 7. Februar 1991 Rs C-184/89 – “Nimz” – EuGH Slg. 1991, I-297 = EAS EG-Vertrag Art. 119 Nr. 20 = AP Nr. 25 zu § 23a BAT; BAGE 73, 166, 170 = AP Nr. 42 zu Art. 119 EWG-Vertrag, zu II 1 der Gründe). Dabei hat das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag auch Vorrang gegenüber Tarifverträgen, wie sich aus Art. 4 der Richtlinie 75/117/EWG ergibt. Nach dieser Vorschrift haben die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, “daß mit dem Grundsatz des gleichen Entgelts unvereinbare Bestimmungen in Tarifverträgen … nichtig sind oder für nichtig erklärt werden können” (EuGH Urteil vom 27. Juni 1990 – Rs C-33/89 – “Kowalska” – EuGH Slg. 1990, I-2591 = EAS EG-Vertrag Art. 119 Nr. 19 = AP Nr. 21 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH Urteil vom 7. Februar 1991, aaO; BAGE 73, 166, 170 = AP Nr. 42 zu Art. 119 EWG-Vertrag, zu II 1 der Gründe).
b) Eine Verletzung des Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag kommt auch in Betracht, obwohl § 3 und § 4 MTV Chemie ihrem Wortlaut nach keine Regelungen treffen, welche Arbeitnehmer des einen Geschlechts anders behandeln als solche des anderen Geschlechts.
Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfaßt Art. 119 EG-Vertrag nicht nur die unmittelbare, sondern auch die sog. mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts (EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – Rs C-170/84 – “Bilka” – EuGH Slg. 1986, 1607 = EAS EG-Vertrag Art. 119 Nr. 13 = AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag, mit Anm. Pfarr; zuletzt Urteil vom 31. Mai 1995 – Rs C-400/93 – “Dansk Industri” – EAS EG-Vertrag Art. 119 Nr. 36). Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Regel zwar unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden ist, die Benachteiligung aber erheblich mehr Angehörige des einen als des anderen Geschlechts betrifft und nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (EuGH Urteil vom 13. Juli 1989 – Rs 171/88 – EuGH Slg. 1989, 2743 = AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag; zuletzt Urteil vom 31. Mai 1995 – Rs C-400/93 – aaO).
Das Landesarbeitsgericht hat zwar nicht im einzelnen festgestellt, daß im Geltungsbereich des MTV Chemie die Gruppe der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer einen erheblich größeren Frauenanteil hat als die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten. Angesichts der vom Landesarbeitsgericht herangezogenen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes kann jedoch zugunsten der Klägerin davon ausgegangen werden, daß die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten weit mehr Frauen enthält als die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten.
c) Dieser Umstand führt jedoch nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung nach Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag. Die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, zu welcher die Klägerin gehört, wird nicht dadurch hinsichtlich des Entgeltes ungleich gegenüber Vollzeitbeschäftigten behandelt, daß §§ 3 und 4 MTV Chemie Mehrarbeitszuschläge nur für solche Arbeit vorsehen, die über die regelmäßige tarifliche Wochenarbeitszeit hinausgeht.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 15. Dezember 1994 (– Rs C-399/92, C-409/92, C-425/92, C-34/93, C-50/93, C-78/93 – “Helmig u.a.” – EAS EG-Vertrag Art. 119 Nr. 35, mit Anm. Siemes = EzA Art. 119 EWG-Vertrag Nr. 24) die ihm gestellte Frage verneint, ob tarifvertragliche Regelungen, welche Mehrarbeitszuschläge nur bei Überschreiten der tarifvertraglich für Vollzeitbeschäftigte festgelegten Regelarbeitszeiten vorsehen, im Widerspruch zu Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag und Art. 1 der Richtlinie 75/117/EWG stehen. Nach der Auslegung des Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag durch den Europäischen Gerichtshof, der sich der Senat anschließt, fehlt es bereits an einer Ungleichbehandlung hinsichtlich des Arbeitsentgeltes. Sie liegt dann vor, wenn bei gleicher Anzahl Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, die den Vollzeitbeschäftigten gezahlte Gesamtvergütung höher ist als die den Teilzeitbeschäftigten gezahlte. In den dem Europäischen Gerichtshof vorgelegten Fällen erhielten Teilzeitbeschäftigte für die gleiche Anzahl geleisteter Arbeitsstunden die gleiche Gesamtvergütung wie Vollzeitbeschäftigte. Nach den dort anwendbaren Tarifverträgen hat ein Teilzeitbeschäftigter, dessen vertragliche Arbeitszeit 18 Stunden beträgt, wenn er eine 19. Stunde arbeitet, Anspruch auf die gleiche Gesamtvergütung wie ein Vollzeitbeschäftigter für 19 Arbeitsstunden. Überschreitet der Teilzeitbeschäftigte die tarifvertraglich festgesetzte Regelarbeitszeit, erhält er ebenfalls die gleiche Gesamtvergütung wie der Vollzeitbeschäftigte, da auch er Anspruch auf Überstundenzuschläge hat (EuGH Urteil vom 15. Dezember 1994, aaO, Rz 26 ff.).
Auch § 3 und § 4 MTV Chemie behandeln in diesem Sinne Teilzeitkräfte und Vollzeitkräfte gleich. Unabhängig davon, ob ein Arbeitnehmer in Teilzeit arbeitet oder vollbeschäftigt ist, erhält er für bis zu 39 Arbeitsstunden je Woche nur das der geleisteten Stundenzahl entsprechende Vielfache des Stundenentgelts. Überschreitet er diese Grenze, erhält er unabhängig davon, welche Arbeitszeit er vereinbart hatte, einen 25 %igen Mehrarbeitszuschlag.
Ob § 3 Abschn. I Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit Satz 2 MTV Chemie auch in seiner 2. Anspruchsalternative in Ansehung von Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag rechtlich unbedenklich ist, kann dahinstehen. Eine Teilunwirksamkeit dieser Regelung brächte der Klägerin keinen Vorteil. Sie hat nicht über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet.
2. § 3 und § 4 MTV Chemie verstoßen auch nicht gegen das Verbot des § 2 Abs. 1 BeschFG, einen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ohne sachlichen Grund wegen der Teilzeitarbeit gegenüber vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern unterschiedlich zu behandeln.
Ob eine Ungleichbehandlung wegen der Teilzeitarbeit vorliegt, kann ebenso unentschieden bleiben, wie die Frage, ob sich das Verbot des § 2 Abs. 1 BeschFG nur an den einzelnen Arbeitgeber oder auch an die Tarifvertragsparteien richtet. Jedenfalls gibt es für die unterschiedliche Behandlung einen sachlichen Grund.
a) Die Frage, ob für eine Ungleichbehandlung bei der Gewährung von Leistungen ein sachlicher Grund besteht, ist anhand des Leistungszwecks zu beantworten. Wenn sich aus dem Leistungszweck Gründe herleiten lassen, die es unter Berücksichtigung aller Umstände rechtfertigen, dem Teilzeitbeschäftigten die Leistung nicht zu gewähren, die der vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer zu beanspruchen hat, besteht ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung (BAGE 33, 57, 60 = AP Nr. 44 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, zu II 2 der Gründe; BAGE 49, 346, 355 f. = AP Nr. 76 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, zu II 5b der Gründe; BAGE 66, 220, 226 = AP Nr. 11 zu § 2 BeschFG 1985, zu II 3 der Gründe; BAGE 73, 343, 347 = AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung, zu 2c der Gründe; GK-TzA-Lipke, Art. 1 § 2 BeschFG 1985 Rz 91; Schüren, NZA 1993, 529, 530). Dabei kommt es nicht auf die denkbaren Zwecke an, welche mit der betreffenden Leistung verfolgt werden können, sondern auf diejenigen, um die es den Tarifvertragsparteien bei der betreffenden Leistung nach ihrem im Tarifvertrag selbst zum Ausdruck gekommenen, durch die Tarifautonomie geschützten Willen geht. Dieser Wille ist durch Auslegung des Tarifvertrages nach den hierfür geltenden Regeln zu ermitteln.
b) Mit einer tarifvertraglichen Bestimmung, die den Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge allein davon abhängig macht, daß über ein bestimmtes Tages- oder Wochenarbeitsvolumen hinaus gearbeitet wurde, wird im wesentlichen der Zweck verfolgt, eine grundsätzlich zu vermeidende besondere Arbeitsbelastung durch ein zusätzliches Entgelt auszugleichen (BAGE 69, 85, 94 f. = AP Nr. 2 zu § 34 BAT, zu II 4b der Gründe; GK-TzA-Lipke, Art. 1 § 2 BeschFG 1985 Rz 140; Arndt, NZA 1989, Beilage 3, S. 8, 10; Lorenz, NZA 1985, 473, 474). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Tarifvertrag selbst Anhaltspunkte dafür enthält, daß andere Regelungszwecke im Vordergrund stehen. Ohne solche Anhaltspunkte kann entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht davon ausgegangen werden, daß es den Tarifvertragsparteien darum geht, durch Verteuerung der über die individuell geschuldete Arbeitsleistung hinausgehenden Arbeitszeiten den individuellen Freizeitbereich zu schützen (a.A. insbesondere Schüren, RdA 1985, 22, 28 f.; RdA 1990, 18 ff.; ZTR 1992, 355 ff.; NZA 1993, 529 ff.; Däubler, Das Arbeitsrecht, Bd. 2, 10. Aufl., S. 931 f.).
Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß der staatliche Gesetzgeber in den Arbeitszeitgesetzen zum Schutz vor physischer oder psychischer Überbelastung andere als die tarifvertraglichen Arbeitszeitgrenzen aufgestellt hat. Es steht den Tarifvertragsparteien frei, in ihrem Regelungsbereich einen zusätzlichen Ausgleichsanspruch bereits von einer geringeren Arbeitsbelastung an einzuräumen. Damit werden sie vielfach auch das Motiv verbinden, die arbeitsmarktpolitischen Effekte abzusichern, die mit einer Arbeitszeitverkürzung verbunden sind, die aber stets auch einer Verringerung der Regelbelastung der Arbeitnehmer dient. Daß ein solcher Effekt vielfach gewollt ist, ändert am Zweck einer Zuschlagsregelung nichts, die an eine allgemein festgelegte Arbeitszeitgrenze anknüpft und nicht an das, was individuell geschuldet ist. Es geht um eine besondere Vergütung für eine über die allgemein festgelegte Grenze hinausgehende Arbeitsbelastung.
Daß die tariflichen Regelungen über den Mehrarbeitszuschlag nicht die individuelle Dispositionsfreiheit des Arbeitnehmers schützen sollen, zeigt sich im übrigen an einer weiteren Bestimmung. Die Tarifvertragsparteien haben bei der Regelung des Zuschlags nicht an die Lage der Arbeitszeit angeknüpft. Deren Verschiebung, die am geschuldeten Arbeitsumfang nichts ändert, greift in gleicher Weise wie eine Verlängerung der individuellen Arbeitszeit in die Dispositionsfreiheit des Arbeitnehmers ein.
c) Eine für alle Arbeitnehmer in gleicher Weise geltende Wochenarbeitszeitgrenze, von deren Überschreitung an Mehrarbeitszuschläge zu zahlen sind, ist nicht willkürlich. Die Tarifvertragsparteien können im Rahmen ihrer notwendigerweise auf typisierender Betrachtung beruhenden Normsetzung ebenso wie der Gesetzgeber eine starre Grenze festlegen, von der an erst von einer besonders zu vergütenden Belastung des Arbeitnehmers auszugehen ist.
Dem rechtspolitisch nachvollziehbaren Anliegen, den Arbeitgebern eine kostengünstige Möglichkeit zu nehmen, durch die Beschäftigung von Teilzeitkräften eine Arbeitszeitreserve vorzuhalten, haben die Tarifvertragsparteien des MTV Chemie bei ihrer Regelung der Überstundenzuschläge nicht Rechnung getragen. Sie haben nicht an den mit den Arbeitnehmern im Einzelfall vereinbarten zeitlichen Umfang der Arbeitszeit angeknüpft und waren dazu auch rechtlich nicht verpflichtet. Neben dem vertraglichen Schutz der Teilzeitkräfte vor einer Inanspruchnahme über das arbeitsvertraglich geschuldete Maß hinaus stehen kollektivrechtliche Instrumentarien zur Verfügung (insbes. § 87 Abs. 1 Nr. 3, § 87 Abs. 2, § 75 Abs. 1 BetrVG), die eine übermäßige Inanspruchnahme von Teilzeitkräften und ein damit verbundenes Unterlaufen tarifvertraglicher Arbeitszeitverkürzungen verhindern können.
Es spricht auch einiges für die Bewertung des Landesarbeitsgerichts, daß die Ausdehnung der individuell mit einer Teilzeitkraft vereinbarten Arbeitszeit häufig für diese ein besonderes Opfer darstellt, weil es sich hier vielfach um Frauen handelt, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit Haushalt und Kinder zu versorgen haben. Ein solches Sonderopfer auszugleichen ist aber nicht Zweck des von den Tarifvertragsparteien des MTV Chemie geregelten Mehrarbeitszuschlages, der allein an die im Betrieb geleistete Arbeitszeit anknüpft. Eine Rechtspflicht, auch für die besondere Belastung teilzeitbeschäftigter Hausfrauen durch eine Inanspruchnahme über das arbeitsvertraglich Vereinbarte hinaus einen Ausgleich in Form eines Mehrarbeitszuschlages vorzusehen, haben die Tarifvertragsparteien nicht. Sie können im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG frei bestimmen, für welche besonderen Belastungen sie einen Anspruch auf ein zusätzliches Arbeitsentgelt begründen wollen. Im übrigen muß berücksichtigt werden, daß Arbeitnehmer nicht selten in Teilzeit arbeiten, weil sie keine Vollzeitarbeitsstelle gefunden haben. Diese Arbeitnehmer bringen bei zusätzlicher Arbeit kein Sonderopfer; sie sind vielmehr daran interessiert, über den vereinbarten zeitlichen Umfang hinaus beschäftigt zu werden.
d) Angesichts des Regelungszwecks von § 3 und § 4 MTV-Chemie ist die in Betracht kommende Ungleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitkräften, was die Zahlung von Mehrarbeitszuschlägen angeht, sachlich gerechtfertigt. Bei Teilzeitkräften, die wöchentlich weniger als die tarifliche Arbeitszeit leisten, liegt typischerweise nicht die besondere Belastung vor, deren Ausgleich durch die Einräumung des Anspruchs auf Mehrarbeitszuschläge bezweckt ist.
3. § 3 und § 4 MTV Chemie stehen nicht im Widerspruch zu dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG.
a) Die besonderen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG sind von den Tarifvertragsparteien zu beachten. Sie sind ebenso wie der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Teil der objektiven Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung beansprucht (vgl. u.a. BVerfGE 21, 362, 372 = AP Nr. 9 zu § 1542 RVO, zu B II 3 der Gründe). Art. 9 Abs. 3 GG steht dem nicht entgegen. Mit der Tarifautonomie ist den Tarifvertragsparteien die Macht verliehen, wie ein Gesetzgeber Rechtsnormen zu schaffen. Dementsprechend müssen sie sich auch wie der Gesetzgeber an die zentralen Gerechtigkeitsnormen in Art. 3 GG halten (vgl. zu Art. 3 Abs. 1 GG: BVerfGE 21, 362, 372 = AP Nr. 9 zu § 1542 RVO, zu B II 3a der Gründe; BAGE 71, 29, 35 = AP Nr. 18 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung, zu B I 2a der Gründe; zuletzt Senatsurteil vom 7. März 1995 – 3 AZR 282/94 – DB 1995, 2020, 2021, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).
b) Ein Verstoß gegen das Verbot der Frauendiskriminierung in Art. 3 Abs. 3 GG kommt in Betracht, obwohl § 3 und § 4 MTV Chemie ihrem Wortlaut nach keine Regelung treffen, welche Arbeitnehmer des einen Geschlechts anders behandeln als solche des anderen Geschlechts.
aa) Das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG enthält den Grundsatz der Lohngleichheit für Mann und Frau bei gleicher Arbeit. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien ist hier ebenso wie die des einzelnen Arbeitgebers ausgeschlossen, soweit das Geschlecht als Unterscheidungsmerkmal dient. Eine Ungleichbehandlung, die an das Geschlecht anknüpft, ist mit Art. 3 Abs. 3 GG nur vereinbar, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich ist (BVerfGE 10, 59, 63; 85, 191, 207; BAGE 38, 232, 243 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung, zu III 2a der Gründe).
bb) Der Grundsatz der Lohngleichheit für Mann und Frau kann auch durch Regelungen verletzt werden, die nicht ausdrücklich an die Geschlechtszugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer anknüpfen. Art. 3 Abs. 3 GG verbietet ebenso wie Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts. Dabei sind die Voraussetzungen für eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts nach Art. 3 Abs. 3 GG grundsätzlich dieselben, die der Europäische Gerichtshof im Hinblick auf Art. 119 EG-Vertrag aufgestellt hat (BAGE 38, 232, 244 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung, zu III 2c der Gründe; BAGE 73, 166, 176 = AP Nr. 42 zu Art. 119 EWG-Vertrag, zu II 4b der Gründe): Eine Regelung kann zwar unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden sein. Treffen ihre nachteiligen Folgen aber erheblich mehr Angehörige des einen als des anderen Geschlechts, dann ist eine solche Regelung geschlechtsdiskriminierend und deshalb nichtig, wenn sie nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt ist, die nichts mit der Geschlechtszugehörigkeit der benachteiligten Arbeitnehmer zu tun haben (vgl. zuletzt EuGH Urteil vom 31. Mai 1995 – Rs C-400/93 – “Dansk Industri” – EAS Art. 119 EG-Vertrag Nr. 36).
c) Es kann zugunsten der Klägerin davon ausgegangen werden, daß die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, die unter den Geltungsbereich des Manteltarifvertrages fallen, erheblich mehr Frauen enthält, als die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten. Es ist aber schon zweifelhaft, ob § 3 und § 4 MTV Chemie die (Frauen-)Gruppe der Teilzeitbeschäftigten gegenüber der (Männer-)Gruppe der Vollzeitbeschäftigten ungleich behandelt. Bei der Bezahlung der jeweils geleisteten Arbeitsstunden ist dies aus den bereits dargelegten Gründen nicht der Fall. Ob die typischerweise unterschiedliche Bezahlung von Arbeitsstunden, die über das einzelvertraglich geschuldete Maß hinaus geleistet werden, eine Ungleichbehandlung i.S. von Art. 3 Abs. 3 GG ist, oder ob auch hier für den Lohngleichheitssatz der enge Rahmen gilt, den der Europäische Gerichtshof für Art. 119 Abs. 1 EG-Vertrag gesteckt hat, kann dahinstehen. Eine etwaige Ungleichbehandlung ist jedenfalls nicht geschlechtsdiskriminierend. Mit ihr wird ein hinreichend gewichtiger sachlicher, nicht auf die Geschlechtszugehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer bezogener Zweck verfolgt.
Ein objektiver, die Ungleichbehandlung rechtfertigender Grund liegt insbesondere dann vor, wenn “Gleichbehandlung”, also die Gewährung der Vergünstigung auch an die Teilzeitbeschäftigten, zu einer Veränderung des Leistungszwecks, d.h. der Art der Leistung, führen würde (BAGE 73, 166, 173 = AP Nr. 42 zu Art. 119 EWG-Vertrag, zu II 1c bb der Gründe). So verhält es sich hier. Würde Teilzeitbeschäftigten nicht nur für jede Arbeitsstunde, die sie wöchentlich über die tarifliche Arbeitszeit hinaus erbracht haben, ein Mehrarbeitszuschlag gezahlt, sondern auch dann, wenn sie unterhalb dieser Grenze bleiben, aber mehr leisten, als das, wozu sie sich arbeitsvertraglich verpflichtet haben, dann würde der von den Tarifvertragsparteien zulässigerweise angestrebte Zweck des Mehrarbeitszuschlages verfehlt. Die Arbeitnehmer erhielten die zusätzliche Vergütung nicht mehr für eine besondere wöchentliche Arbeitsbelastung, sondern allein dafür, daß sie ein planwidriges, über das vertraglich Vereinbarte hinausgehendes Freizeitopfer erbracht haben. Hierfür haben die Tarifvertragsparteien kein zusätzliches Arbeitsentgelt vereinbart und brauchten dies auch nicht zu tun.
4. § 3 und § 4 MTV Chemie verstoßen auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, an den auch die Tarifvertragsparteien bei ihrer Normsetzung gebunden sind (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 7. März 1995 – 3 AZR 282/94 – DB 1995, 2020, 2021, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Für eine unterschiedliche Bezahlung überobligationsmäßiger Arbeit von Teilzeit- und Vollzeitkräften gibt es aufgrund des von den Tarifvertragsparteien zulässigerweise verfolgten Leistungszwecks einen sachlichen Grund.
Unterschriften
Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler, Oberhofer, Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 870825 |
BAGE, 173 |
BB 1996, 1277 |
NZA 1996, 600 |