Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankheitsbedingte Kündigung. Lohnfortzahlungskosten
Orientierungssatz
Parallelsache zu BAG Urteil vom 22.5.1986, 2 AZR 502/85 = nicht zur Veröffentlichung bestimmt.
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Entscheidung vom 15.04.1985; Aktenzeichen 1 Sa 1313/84) |
ArbG Darmstadt (Entscheidung vom 13.09.1984; Aktenzeichen 2 Ca 180/84) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung der Beklagten.
Der am 2. Januar 1950 geborene Kläger, verheiratet und unterhaltspflichtig für drei minderjährige Kinder, ist seit 27. September 1976 bei der Beklagten als Arbeiter zu einem Stundenlohn von 15,-- DM in einer Produktionsabteilung beschäftigt. Er verrichtet leichte Montagetätigkeit, indem er Halter an Stoßstangen montiert und Nebellampen aufschraubt.
Der Kläger gehört zum Personenkreis der Schwerbehinderten im Sinne von § 1 SchwbG. Er leidet an einer Krankheit (Morbus Bechterew), die fortschreitend zur Versteifung der Wirbelsäule bzw. eines Teils der Wirbelsäule führt.
Seit 1979 fehlte er häufig krankheitsbedingt am Arbeitsplatz. Die Fehlzeiten betrugen:
1980: 47 %
1981: 40 %
1982: 27 %
1983: 34 % der Arbeitstage
1984:
02.01. bis 16.01. (10 Arbeitstage)
11.04. (1 Arbeitstag)
16.07. bis 24.08. (30 Arbeitstage)
30.08. bis 14.09. (12 Arbeitstage)
16.10. bis 23.11. (29 Arbeitstage).
Während der zuletzt aufgeführten Krankheit befand er sich in stationärer Behandlung. Außerdem suchte er jährlich etwa sechs Wochen eine Spezialklinik auf.
Nach Zustimmung der Hauptfürsorgestelle vom 3. April 1984 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. September 1984. Der Betriebsrat hatte der Kündigung widersprochen, da soziale Gesichtspunkte nicht hinreichend beachtet worden seien, und der Kläger mangels Vorliegens erheblicher Betriebsablaufsstörungen an seinem bisherigen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden könne.
Der Kläger hat vorgetragen, vor Ausspruch der Kündigung habe er annähernd fünf Monate nicht mehr krankheitsbedingt gefehlt. Die Kündigung sei daher eine rein vorsorgliche Maßnahme und sozial nicht gerechtfertigt. Seine Fehlzeitenquote könne ausschließlich mit den durchschnittlichen Abwesenheitszeiten der in der Genesendenabteilung der Beklagten tätigen Mitarbeiter verglichen werden und entspreche der durchschnittlichen Abwesenheit der gewerblichen Arbeitnehmer. Angesichts seines Lebensalters, der Schwere seiner Erkrankung sowie seiner achtjährigen Betriebszugehörigkeit sei der Beklagten eine weitere Beschäftigung zuzumuten.
Der Kläger hat beantragt festzustellen, daß die Kündigung der Beklagten vom 10. April 1984 zum 30. September 1984 rechtsunwirksam sei und das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst habe; ferner die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsschutzverfahrens weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.
Sie hat geltend gemacht, die durch die Fehlzeiten des Klägers entstandenen Betriebsablaufsstörungen hätten nicht länger hingenommen werden können. Falle nur einer der Mitarbeiter aus, so müsse aus dem Obermeisterbereich Ersatz gestellt werden. Sei dies nicht möglich, könne nur noch etwa zwei Stunden produziert werden, dann werde die Produktion für diesen Bereich eingestellt, da keine Teile für das Band mehr vorrätig seien. Die auf Band befindlichen Fahrzeuge könnten nicht fertig montiert werden, müßten vom Band genommen und später manuell nachmontiert werden. Der Transport dieser Fahrzeuge von und zum Reparaturplatz und die Nachmontage erfordere Arbeitskräfte, die normalerweise in der Produktion arbeiteten. Hierdurch ergäben sich Mehrkosten, außerdem verzögere sich die Auslieferung. Seit 1979 seien ihr durch die Krankheit des Klägers Zusatzkosten (Lohnfortzahlungs- und Nebenkosten) in Höhe von 29.170,80 DM entstanden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfange stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung nach Beweiserhebung zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.
A. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, aufgrund den von der Hauptfürsorgestelle eingeholten ärztlichen Auskünften sei von einer negativen Zukunftsprognose auszugehen. Die Kündigung sei dennoch sozialwidrig, weil keine unzumutbare betriebliche Beeinträchtigung anzunehmen sei. Die häufigen Fehlzeiten des Klägers führten nicht zu unzumutbaren Betriebsstörungen. Selbst wenn infolge Ausfalles des Klägers 60 bis 90 Wagen nachträglich hätten bearbeitet werden müssen, so sei diese Beeinträchtigung gerade im Hinblick auf die Größe des Unternehmens der Beklagten als nicht so schwerwiegend anzusehen, eine Kündigung rechtfertigen zu können. Wer so viele Arbeitnehmer wie die Beklagte beschäftige, müsse mit größeren Personalausfällen rechnen als ein mittleres oder kleineres Unternehmen. Insoweit sei der Beklagten mehr zuzumuten als kleineren Unternehmen. Im Hinblick auf die hohe finanzielle Belastung der Beklagten mit den Lohnfortzahlungskosten gerate der Fall des Klägers an die Grenzen. Auch insoweit spiele jedoch die Größe des Unternehmens der Beklagten eine e n t s c h e i d e n d e Rolle. Der Beklagten sei naturgemäß mehr zuzumuten als einem kleinen Unternehmen.
B. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
I. Bei der Frage der Sozialwidrigkeit einer Kündigung (§ 1 Abs. 2 KSchG) handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes, die vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden kann, ob das angefochtene Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachenrichter ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob es in sich widerspruchsfrei ist (ständige Rechtsprechung des BAG: vgl. BAG 1, 99 = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG und BAG 45, 146, 151).
II. Auch diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält das angefochtene Urteil nicht stand.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats setzt eine sozial gerechtfertigte Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer häufiger Kurzerkrankungen in der Zukunft rechtfertigen. Außerdem müssen die bisherigen und zukünftig zu erwartenden Krankheitszeiten zu erheblichen betrieblichen oder wirtschaftlichen Belastungen des Arbeitgebers führen. Die Notwendigkeit des Vorliegens einer erheblichen Belastung ist Teil des Kündigungsgrundes. Schließlich ist im Rahmen der Interessenabwägung zu prüfen, ob die erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen zu einer unzumutbaren Belastung führt (BAG 43, 129 = AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit mit zustimmender Anmerkung Neyses; BAG 45, 146 und BAG Urteil vom 7. November 1985 - 2 AZR 657/84 - DB 1986, 863).
Welcher Sachverhalt zu unzumutbaren Beeinträchtigungen führt, ist dabei unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles festzustellen. Nach ebenfalls gefestigter Senatsrechtsprechung kann eine Kündigung wegen unzumutbarer wirtschaftlicher Belastung sozial gerechtfertigt sein, wenn das Arbeitsverhältnis als Austauschverhältnis auf Dauer erheblich gestört ist, weil mit immer neuen beträchtlichen Fehlzeiten und entsprechenden Lohnfortzahlungen zu rechnen ist, wobei auf die Kosten des Arbeitsverhältnisses des gekündigten Arbeitnehmers abzustellen ist (so BAG Urteil vom 7. November 1985, aa0, m.w.N.).
2. Diesen notwendig auf den konkreten Einzelfall bezogenen Abwägungserfordernissen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landesarbeitsgericht hat nämlich verkannt, daß auch bei Prüfung einer unzumutbaren wirtschaftlichen Beeinträchtigung die Frage der Zumutbarkeit im Verhältnis zum Arbeitsvertrag mit dem Kläger gesehen werden muß. Es ist im Gegensatz dazu davon ausgegangen, bei der Feststellung, ob die Belastung des Arbeitgebers mit Lohnfortzahlungskosten eine unzumutbare Beeinträchtigung betrieblicher Interessen darstelle, spiele die Größe des Unternehmens eine entscheidende Rolle. Einem größeren Unternehmen mit entsprechend vielen Arbeitnehmern sei naturgemäß mehr zuzumuten als einem kleineren Unternehmen.
Das Landesarbeitsgericht hat damit zwar die Lohnfortzahlungskosten zutreffend in die Frage der wirtschaftlichen Beeinträchtigung der Beklagten einbezogen (vgl. BAG 43, 129). Es hat aber nicht beachtet, daß die Entscheidung darüber, ob sehr hohe Lohnfortzahlungskosten eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unzumutbar machen, nicht an der Größe eines Unternehmens oder an der Zahl seiner Beschäftigten zu messen ist, sondern allein vom Ergebnis einer Interessenabwägung abhängt, bei der die Besonderheiten des konkreten Falles zu berücksichtigen sind. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, "im Ergebnis" müsse angenommen werden, bei der Tragik der Erkrankung des Klägers sei ein Aufwand von ca. 30.000,-- DM im Verlauf von 5 Jahren noch zumutbar, beruht nach seinen voranstehenden Überlegungen entscheidend fehlerhaft auf einer Betrachtung der "Größe des Unternehmens" der Beklagten.
III. Das Landesarbeitsgericht wird bei der erneuten Prüfung der Sach- und Rechtslage neben den anderen aufgezeigten Voraussetzungen berücksichtigen müssen, ob das zwischen den Parteien bestehende Austauschverhältnis auf Dauer deshalb erheblich gestört sein wird, weil mit immer neuen beträchtlichen Fehlzeiten und entsprechenden Lohnfortzahlungen zu rechnen ist, weil dann die wirtschaftlichen Belastungen unter dem Gesichtspunkt einer ganz erheblichen Störung des Austauschverhältnisses von nicht absehbarer Dauer die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar erscheinen lassen könnten. Das Landesarbeitsgericht wird hierbei von klaren tatsächlichen Feststellungen und nicht von Vermutungen auszugehen haben. Bei der Frage, was der Arbeitgeber noch hinzunehmen hat, ist nicht einseitig seine wirtschaftliche und betriebliche Situation zu beachten, sondern die Frage ist unter Einbeziehung der Situation des Arbeitnehmers zu behandeln. Es wird u. a. zu erwägen sein, sein Alter, die Dauer seiner Betriebszugehörigkeit und der bisherige Verlauf des Arbeitsverhältnisses. Erheblich für die Frage, wann Lohnfortzahlungskosten eine Kündigung sozial rechtfertigen, ist ein Vergleich mit anderen Arbeitnehmern, die eine vergleichbare Arbeit unter ähnlichen Bedingungen verrichten. Ist auch bei den Kollegen des Klägers die Quote der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit besonders hoch, dann kann nur eine ganz erheblich höhere Ausfallquote eine Kündigung rechtfertigen, und dies auch nur, wenn Überbrückungsmaßnahmen nicht erfolgreich und nicht mehr zumutbar waren.
Das Landesarbeitsgericht wird auch seine Feststellungen zur unzumutbaren betrieblichen Beeinträchtigung überprüfen oder zumindest klarstellen müssen. Das Landesarbeitsgericht hat dazu in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, die im einzelnen dargestellte betriebliche Beeinträchtigung könne gerade im Hinblick auf die Größe des Unternehmens der Beklagten als nicht so schwerwiegend gewertet werden, daß sie eine Kündigung erfordere. Wer so viele Arbeitnehmer wie die Beklagte beschäftige, müsse mit größeren Personalausfällen rechnen als ein mittleres oder kleineres Unternehmen, insoweit sei der Beklagten mehr zuzumuten als einem kleineren Unternehmen. Diese Betrachtung kann im Hinblick auf die im Urteil voranstehenden Feststellungen, die Beweisaufnahme habe ergeben, daß eine betriebliche Beeinträchtigung durch die häufigen Fehlzeiten zwar gegeben sei, diese aber nicht als unzumutbar anzusehen sei, dahin ausgelegt werden, die Kammer habe auch die Zumutbarkeit einer erheblichen betrieblichen Beeinträchtigung nicht in Bezug auf das Einzelarbeitsverhältnis geprüft. Sie habe sie vielmehr auch insoweit entscheidend unzutreffend an der Größe des Unternehmens der Beklagten gemessen. Das Landesarbeitsgericht wird zu beachten und dementsprechend darzulegen haben, daß die Frage der erheblichen betrieblichen Beeinträchtigung zwar unter Einbeziehung der Größe des Betriebes und seiner damit verbundenen Organisationsstruktur und des betrieblichen Arbeitsablaufs, die sich von mittleren und kleineren Betrieben unterscheiden können, zu prüfen ist, für die Feststellung der Zumutbarkeit der Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, die im Rahmen der Interessenabwägung zu erfolgen hat, auch die Besonderheiten des einzelnen Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen sind.
Das Landesarbeitsgericht hat zwar auch eine Interessenabwägung vorgenommen, es bleibt jedoch unklar, ob die unterschiedlichen Prüfungsanforderungen für die erhebliche betriebliche Beeinträchtigung einerseits und die Zumutbarkeit andererseits beachtet worden sind.
Hillebrecht, Ascheid
zugleich für den durch
Urlaub an der Unterschrift
verhinderten Richter
Triebfürst.
Dr. Bächle Dr. Wolter
Fundstellen
NJW 1988, 1109 |
EEK, II/180 (ST1-4) |
NZA 1988, 161-162 (ST) |