Betrachtet werden hier im EU-Ausland wohnhafte Personen, die in Deutschland erwerbstätig und aufgrund dessen auch dort krankenversichert sind. Zur Behandlung einer in ihrem Wohnstaat eingetretenen Erkrankung begeben sie sich nach Deutschland (zuständiger Mitgliedstaat). Dabei entstehen Kosten für grenzüberschreitende Fahrten.
Beispiel 4:
Sachverhalt:
Frau Drukker wohnt seit ihrer Hochzeit mit ihrem Mann in Belgien. Sie ist in Deutschland beschäftigt und aufgrund dessen auch dort krankenversichert. Vor einiger Zeit wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Sie muss sich daher einer ambulanten onkologischen Chemotherapiebehandlung unterziehen. Diese möchte Frau Drukker in Deutschland wahrnehmen, weil die Entfernung von ihrem Wohnort zur deutschen Arztpraxis geringer ist als zur nächsten onkologischen Praxis in Belgien. Sie plant mit eigenem PKW zu den Behandlungen zu fahren, wobei ihr Kosten für die grenzüberschreitenden Fahrten entstehen.
Es gilt zu klären, ob die Kosten für die Fahrten zur Chemotherapiebehandlung in Deutschland (nächst erreichbare Behandlungsmöglichkeit) und zurück zur Wohnung in Belgien übernommen werden.
Nach Art. 18 VO (EG) 883/04 (Anlage 3) haben die in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden bei einer deutschen Krankenkasse versicherten Grenzgänger auch während des Aufenthalts in ihrem zuständigen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) Anspruch auf Sachleistungen.
In einer solchen Fallkonstellation haben Betroffene nach § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V damit grundsätzlich Anspruch auf Übernahme der Fahrkosten. Der Leistungsanspruch ruht jedoch gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, solange sie sich im Ausland aufhalten.
In diesem Fall findet die Fahrt bzw. der Transport vom Wohnort (dauerhafter Aufenthalt) in den zuständigen Mitgliedstaat (Deutschland) statt, so dass der Ausschluss des § 60 Abs. 4 Satz 1 SGB V nicht einschlägig ist, da als Rücktransport i. S. dieser Vorschrift nur die Rückreise von einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt in das Inland angesehen wird (vgl. BSG-Urteil v. 23.02.1999 - B 1 KR 1/98 R, Rn. 22 -).
Somit kann festgehalten werden, dass zwar grundsätzlich ein Anspruch auf Kostenübernahme nach den deutschen Rechtsvorschriften besteht, allerdings nur innerhalb des Geltungsbereichs des SGB, d. h. innerhalb Deutschlands. Da die Transportleistung nach der hier vorgenommenen Bewertung auch nicht in die Wegstrecke im In- und Ausland teilbar ist, scheidet eine Kostenübernahme bei alleiniger Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften aus.
Auch die VO (EG) 883/04 sowie ihrer Durchführungsverordnung (EG) 987/09 enthalten für den hier in Frage stehenden Sachverhalt keine explizite Regelung hinsichtlich der Übernahme von Fahrkosten.
In Fällen, in denen sich eine Person allerdings auf der Grundlage des Art. 20 VO (EG) 883/04 für eine geplante Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat begibt und eine Genehmigung für diese Behandlung erteilt wurde, schreibt Art. 26 Abs. 8 VO (EG) 987/09 die Übernahme der Reisekosten durch den zuständigen Träger vor, soweit die innerstaatlichen Vorschriften die Erstattung von Reisekosten beinhalten. Zu den Reisekosten i. S. d. Art. 26 Abs. 8 VO (EG) 987/09 zählen auch Fahrkosten. Die deutschen Rechtsvorschriften sehen in § 60 SGB V grundsätzlich die Übernahme von Fahrkosten vor. Hierbei sollte § 60 SGB V so angewendet werden, als ob die Behandlung im Inland stattfinden würde (vgl. RS 2010/90 vom 23.02.2010).
Wie in den Fällen des Art. 20 VO (EG) 883/04 i. V. m. Art. 26 Abs. 8 VO (EG) 987/09 begeben sich die Personen auch im hier zu beurteilenden Sachverhalt zum Zwecke der Behandlung in einen anderen Staat als den Wohnstaat (hier nach Deutschland).
Anders als bei Art. 20 VO (EG) 883/04 i. V. m. Art. 26 Abs. 8 VO (EG) 987/09, für dessen Anwendung eine Genehmigung zwingend erforderlich ist, verzichtet Art. 18 VO (EG) 883/04 auf diese Voraussetzung. Dies resultiert aus der speziellen Situation der Grenzgänger. Diese haben sowohl Anknüpfungspunkte zu ihrem Wohnort als auch dem Ort ihrer Erwerbstätigkeit. Nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Gründe können dafür sprechen, eine Leistungsinanspruchnahme im Wohnstaat oder im Staat der Erwerbstätigkeit zu bevorzugen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofs (EuGH) sowie vor dem Hintergrund der Art. 45 und 48 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) soll die Tatsache, dass sich eine Person dafür entscheidet, ihre Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnstaat auszuüben, nicht zur Benachteiligung dieser Person führen (vgl. in diesem Sinne EuGH v. 08.07.2004, Rs. C- 502/01 - Gaumain-Cerri - Rn. 35; EuGH v. 16.07.2009, Rs. C-208/07 - Chamier-Glisczinski - Rn. 55-57). Mit der Schaffung eines Wahlrechts der Leistungsinanspruchnahme zwischen Wohnortstaat und dem Staat der Erwerbstätigkeit hat der Verordnungsgeber eben dieser Besonderheit Rechnung getragen. Die Gewährung der Möglichkeit der Leistungsinanspruchnahme im Staat der Erwerbstätigkeit kann dahingehend ausgelegt werden, das...