Leitsatz
1. Für die zeitliche Anwendung des die rückwirkende Auszahlung festgesetzten Kindergeldes begrenzenden § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kommt es nach § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG nicht auf die Entstehung des Kindergeldanspruchs, sondern auf den Zeitpunkt des Antragseingangs ("nach dem 18. Juli 2019") an.
2. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, bei der Einführung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG aus Vertrauensschutzgründen eine Übergangsregelung für vor dem 18.07.2019 bereits entstandene Kindergeldansprüche zu schaffen.
Normenkette
§ 70 Abs. 1 Satz 2, § 66 Abs. 3, § 52 Abs. 50 Satz 1, § 31 Sätze 1, 2 und 5, § 32 Abs. 6 EStG, Art. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und 3 GG
Sachverhalt
Der Kläger beantragte am 5.8.2019 die Festsetzung und Auszahlung des Kindergelds für die Monate ab August 2018 für seine Stieftochter A. Die Familienkasse setzte zwar Kindergeld für den Zeitraum August 2018 bis einschließlich Oktober 2019 fest, beschränkte jedoch die Auszahlung des festgesetzten Kindergelds auf den Zeitraum Februar 2019 bis Oktober 2019. Mithin wandte sie für das Kindergeld von August 2018 bis Januar 2019 die Ausschlussfrist an. Das FG (Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 17.5.2022, 4 K 110/21, Haufe-Index 15292147) wies die Klage als unbegründet ab.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des Klägers als unbegründet zurück. Er verwies darauf, dass der zeitliche Anwendungsbereich der Ausschlussfrist nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eröffnet sei. Die Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich sei weder willkürlich noch zu unbestimmt. Der Gesetzgeber habe insoweit weder den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Familie missachtet noch die Freiheit zur Wahl des Ausbildungsplatzes beeinträchtigt.
Hinweis
1.§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG enthält eine Ausschlussfrist im Hinblick auf die rückwirkende Auszahlung von Kindergeld. Danach erfolgt die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Vorschrift betrifft nur die Auszahlung und nicht bereits die Festsetzung rückwirkend beantragten Kindergelds. Sie ist daher dem Erhebungsverfahren zuzuordnen.
2.§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG löst die zuvor in § 66 Abs. 3 EStG geregelte Ausschlussfrist ab, die noch das Festsetzungsverfahren betraf (BFH, Urteil vom 19.2.2020, III R 66/18, BFH/NV 2020, 1139).
3.§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG wurde durch Art. 9 Nr. 9 des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.7.2019 (BGBl 2019, 1066, BStBl I 2019, 814) eingeführt. In diesem Gesetz wurde auch eine Bestimmung über den zeitlichen Anwendungsbereich der neuen Ausschlussfrist getroffen (Art. 9 Nr. 5). Danach bestimmt der neue § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG, dass § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auf Anträge anzuwenden ist, die nach dem 18.7.2019 eingehen. Gleichzeitig wurde durch Änderung des § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG auch die zeitliche Anwendbarkeit der Ausschlussfrist nach § 66 Abs. 3 EStG auf Anträge beschränkt, die vor dem 18.7.2019 eingehen. Für am 18.7.2019 eingegangene Anträge gilt danach weder die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG noch die nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, sondern nur die normale Festsetzungsverjährung.
4. Die Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG stellt nach ihrem klaren Wortlaut auf den Zeitpunkt des Antragseingangs und nicht auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung ab. Obwohl das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.7.2019 am 18.7.2019 in Kraft getreten ist, hat der Gesetzgeber keine Übergangsregelung vorgesehen, sondern das Gesetz bereits für alle nach dem 18.7.2019 eingegangenen Anträge für anwendbar erklärt. Der Gesetzgeber musste eine solche Übergangsregelung auch nicht vorsehen, da die Kindergeldberechtigten aufgrund der bloßen Verschiebung der Ausschlussfrist vom Festsetzungs- in das Erhebungsverfahren keine schützenswerte Vertrauensposition aufbauen konnten. Vertrauensschutz hatte der Gesetzgeber bereits bei Einführung des § 66 Abs. 3 EStG gewährt. § 66 Abs. 3 EStG wurde durch das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (StUmgBG) vom 23.6.2017 (BGBl I 2017, 1682, BStBl I 2017, 865) eingeführt, das am 24.6.2017 veröffentlicht wurde. Diese Ausschlussfrist war gemäß § 52 Abs. 49a EStG i.d.F. des StUmgBG allerdings erst auf Anträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 eingehen. Insoweit hatten die Kindergeldberechtigten eine hinreichende Übergangsfrist, um Kindergeldansprüche jenseits der Sechsmonatsfrist für die Vergangenheit geltend zu machen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 25.4.2024 – III R 27/22