Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Leitsatz
Bei Bestellung mehrerer Empfangsbevollmächtigter hat das Finanzamt bei der Frage, welchem Bevollmächtigten ein Verwaltungsakt bekanntzugeben ist, eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung zu treffen.
Sachverhalt
Die D-Steuerberatungs-GmbH (D-GmbH) übermittelte dem Finanzamt am 12.4.2011 eine Vollmacht zur Vertretung der Klägerin, die auch eine Bekanntgabevollmacht beinhaltete.
Zwischen der Klägerin und dem Finanzamt entstand ein Streit im Festsetzungsverfahren zur Umsatzsteuer 2010 bis 2015 sowie bezüglich der steuerlichen Nebenleistungen. In der Folge setzte das Finanzamt Umsatzsteuer sowie Zinsen zur Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 3.337.327 EUR bestandskräftig fest. Diesen Betrag beglich die Klägerin.
Ein erster Antrag der Klägerin auf Erlass dieser Abgaben für die Jahre 2010 bis 2012 blieb ohne Erfolg. Die Klägerin wurde dabei von der Rechtsanwaltskanzlei F vertreten. Dieser wurden auch die Ablehnung des Erlassantrags und die Einspruchsentscheidung bekanntgegeben.
Am 2.1.2023 stellte die Klägerin, jetzt vertreten durch die Bevollmächtige G, einen weiteren Antrag auf Billigkeitserlass der Umsatzsteuer 2010 bis 2015 einschließlich der steuerlichen Nebenleistungen. Die von G vorgelegte, auf den 29.12.2022 datierte Vollmacht hatte die Erhebung der Umsatzsteuer ab dem Jahr 2010 einschließlich einer Bekanntgabevollmacht zum Gegenstand.
Am 22.3.2023 lehnte das Finanzamt diesen Erlassantrag ab und adressierte den Bescheid an die D-GmbH. Diese leitete das Schreiben erst am 17.4.2024 an die G weiter, die am 11.5.2023 Einspruch gegen die ablehnende Entscheidung des Finanzamts einlegte. Das Finanzamt verwarf diesen Einspruch als unzulässig.
Entscheidung
Das FG hat der Klägerin Recht gegeben und die den Einspruch als unzulässig verwerfende Einspruchsentscheidung aufgehoben.
Ein Verwaltungsakt wird nach § 124 Abs. 1 AO gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein Verwaltungsakt grundsätzlich demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist. Er soll nach § 122 Abs. 1 Satz 4 AO dem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden, wenn der Finanzbehörde eine Empfangsvollmacht vorliegt. Gibt das Finanzamt einen Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen bekannt, obwohl es ihn dem Bevollmächtigten hätte bekannt geben müssen, ist die Bekanntgabe nach ständiger Rechtsprechung zunächst mit der Folge unwirksam, dass die Einspruchsfrist nicht zu laufen beginnt. Der Bekanntgabemangel wird erst analog § 8 VwZG durch Weiterleitung an den Empfangsbevollmächtigten geheilt.
Der Fall, dass mehrere Bevollmächtigte schriftlich zum Empfang von Verwaltungsakten legitimiert sind, ist in § 122 Abs. 1 Satz 4 AO über die Grundregel hinaus, dass auch in diesem Fall ein Verwaltungsakt zumindest einem der beiden schriftlich Bevollmächtigten und nicht etwa dem Steuerpflichtigen selbst bekannt zu geben ist, nicht ausdrücklich geregelt. Das Finanzamt hatte deswegen bei der Frage, welchem Bevollmächtigten die Ablehnungsentscheidung bekanntzugeben war, nach allgemeinen Grundsätzen eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung zu treffen, die im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt, nämlich auf Ermessensfehler, überprüfbar ist.
Nach der am 29.12.2022 erteilten schriftlichen Vollmacht konnten keine vernünftigen Zweifel verbleiben, dass die Klägerin im Zusammenhang mit dem spezifischen Themenkreis der Reduzierung der Umsatzsteuer samt Nebenleistungen für die Jahre 2010 bis 2015 die behördliche Entscheidung an die aus ihrer Sicht sachnächste G bekanntgegeben wissen wollte.
Link zur Entscheidung
FG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 18.06.2024, 6 K 5129/23