Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Schlüssigkeit der Rüge des Übergehens eines selbständigen Angriffs- oder Verteidigungsmittels; Unabhängigkeit einer zulassungsfreien Revision von dem Erfolg einer gleichzeitig eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde

 

Leitsatz (NV)

1. Zur schlüssigen Rüge, das FG habe ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen, gehört der substantiierte Vortrag, daß dieses Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Klageverfahren vorgebracht worden ist.

2. Für die Zulässigkeit einer auf § 116 Abs. 1 FGO gestützten Revision ist es unerheblich, ob die neben der Revision eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg hat.

 

Normenkette

FGO § 116

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Eheleute, erhoben nach erfolglosem Vorverfahren Klage wegen Einkommensteuer 1986. Mit der Klage machten sie neben materiellen Fehlern des Steuerbescheides u. a. auch geltend, daß ihnen der Steuerbescheid nur in einer Ausfertigung bekanntgegeben worden und daher unwirksam sei. Sie hätten sich nämlich in der Steuererklärung nicht damit einverstanden erklärt, daß der Steuerbescheid jedem der Ehegatten zugleich mit Wirkung für und gegen den anderen Ehegatten hätte bekanntgegeben werden können.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es gab im Tatbestand seines Urteils den Vortrag der Kläger wieder, daß diese sich mit der Bekanntgabe des Steuerbescheids an jeden von ihnen mit Wirkung für und gegen den anderen Ehegatten nicht einverstanden erklärt hätten. In den eigentlichen Entscheidungsgründen führte es dann dazu aus, daß der angefochtene Steuerbescheid durch Bekanntgabe an den gemeinsamen Bevollmächtigten gegenüber beiden Klägern wirksam geworden sei. Es handele sich um einen zusammengefaßten Steuerbescheid, der aufgrund der Zusammenveranlagung gegen die Kläger als Eheleute ergangen sei. Eine Einzelbekanntgabe an jeden Ehegatten wäre nur dann geboten gewesen, wenn die Kläger weder einander noch -- wie hier -- einen Dritten zum "Bekanntgabeempfänger" bestimmt hätten (Hinweis auf rechtskräftige Urteile des Hessischen FG vom 6. Dezember 1988 7 K 2554/88 und vom 23. Mai 1989 7 K 1196/89, Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1989, 214, 461 -- richtig 438 --).

Das FG ließ die Revision nicht zu.

Neben einer Nichtzulassungsbeschwerde legten die Kläger die vorliegende Revision ein. Sie machten geltend, daß die Revision auch ohne Zulassung gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig sei, weil die Entscheidung des FG nicht erschöpfend begründet worden sei. Das FG hätte in den Urteilsgründen auch zu der Frage der ordnungsgemäßen Bekanntgabe des der Klage zugrundeliegenden Einkommensteuerbescheides Ausführungen machen müssen. Die Kläger legen sodann ausführlich dar, daß die Bekanntgabe eines zusammengefaßten Steuerbescheides an Ehegatten in einer Ausfertigung unwirksam sei, wenn diese sich nicht damit einverstanden erklärt hätten, daß der Steuerbescheid jedem der Ehegatten zugleich mit Wirkung für und gegen den anderen hätte bekanntgegeben werden können.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig.

1. Nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO die Revision nur statt, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der Bundesfinanzhof (BFH) sie zugelassen hat. Ohne Zulassung durch das FG oder den BFH ist die Revision daher nur statthaft, wenn wesentliche Mängel des Verfahrens i. S. von § 116 FGO gerügt werden.

Die Kläger berufen sich zwar auf § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO, wonach es einer Zulassung der Revision nicht bedarf, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Sie haben einen solchen Mangel des angegriffenen FG-Urteils aber nicht schlüssig dargelegt.

Mängel i. S. des § 116 FGO werden nur dann schlüssig gerügt, wenn die zur Begründung des Mangels erforderlichen Tatsachen lückenlos vorgetragen werden (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 116 Rdnr. 3). Das ist im Streitfall nicht geschehen.

2. In Betracht kommt aufgrund des Vortrags der Kläger nur, daß das FG ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel der Kläger übergangen haben könnte. Denn ein Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ist nicht nur gegeben, wenn dem angegriffenen Urteil jede Begründung fehlt, sondern auch dann, wenn zu einem selbständigen Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht Stellung genommen worden ist. Die Rüge, der angegriffene Steuerbescheid sei nicht wirksam bekanntgegeben worden, ist ein solches selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel.

Einem Urteil fehlt im Hinblick auf ein solches selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel aber nur dann die Begründung, wenn dieses Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Klageverfahren auch geltend gemacht worden ist (Beschluß des erkennenden Senats vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638 m. w. N.). Dagegen liegt kein Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO vor, wenn das FG ohne Geltendmachung durch den jeweiligen Kläger einen Punkt von sich aus hätte bedenken müssen, tatsächlich aber nicht bedacht hat (vgl. Gräber/Ruban, a. a. O., § 119 Rdnr. 25). In solchen Fällen geht es um einen materiellen Fehler des Urteils und nicht um den formellen Fehler der fehlenden Begründung (vgl. Beschluß des Senats in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638).

Zur schlüssigen Rüge, das FG habe ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen, hätte also der Vortrag gehört, daß die Unwirksamkeit des angegriffenen Steuerbescheides wegen der Bekanntgabe nur einer Ausfertigung bereits im Klageverfahren vorgebracht worden ist. Dabei hätte das Angriffs- oder Verteidigungsmittel hinreichend (z. B. durch Angabe der entsprechenden Seite des betreffenden Schriftsatzes oder durch Bezugnahme auf den Tatbestand des Urteils) bezeichnet werden müssen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 116 FGO Rdnr. 23 a. E.). Außerdem hätte genau dargelegt werden müssen, ob das FG das bereits im Klageverfahren vorgebrachte Angriffs- oder Verteidigungsmittel ganz übergangen oder aber dazu nur in einer für eine ordnungsgemäße Begründung nicht ausreichenden Weise Stellung genommen hat.

Solche Darlegungen enthält die Revisionsschrift der Kläger nicht. Die Kläger behaupten lediglich pauschal, daß das Urteil auch Ausführungen zu der Frage der ordnungsgemäßen Bekanntgabe des Steuerbescheides hätte machen müssen und daß dies nicht geschehen sei. Die Kläger benutzen diese pauschale Behauptung nur, um eingehend ihre Auffassung darzulegen, daß der Steuerbescheid ihnen nicht hätte in nur einer Ausfertigung bekanntgegeben werden dürfen. Das ist für eine schlüssige Rüge eines Mangels i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht ausreichend.

3. Wenn die Kläger das Übergehen eines selbständigen Angriffs- oder Verteidigungsmittels ordnungsgemäß näher dargelegt hätten, hätte für sie bzw. für ihren Prozeßbevollmächtigten auch deutlich werden müssen, daß die Behauptung, das FG-Urteil enthalte keine Ausführungen zur Frage der Wirksamkeit der Bekanntgabe des Steuerbescheides in einer Ausfertigung, falsch ist.

Tatsächlich hat das FG im Tatbestand seines Urteils das Argument der Kläger wiedergegeben, daß die Bekanntgabe des Steuerbescheides in nur einer Ausfertigung nicht wirksam sei, weil sie -- die Kläger -- sich nicht mit der Bekanntgabe für und gegen den anderen einverstanden erklärt hätten. Vor allem hat das FG auch in seinen eigentlichen Entscheidungsgründen zu diesem Argument der Kläger näher Stellung genommen. Aufgrund dieser Ausführungen des FG ist ohne weiteres nachvollziehbar, daß das FG die Bekanntgabe des Steuerbescheides in einer Ausfertigung deshalb als wirksam angesehen hat, weil es im Streitfall nicht um die Bekanntgabe an die Kläger selbst, sondern an einen von ihnen gemeinsam Bevollmächtigten gegangen ist. Dies wird zudem dadurch besonders deutlich, daß das FG unterstützend für seine Argumentation auf die rechtskräftigen Urteile des Hessischen FG in EFG 1989, 214, 438 verwiesen hat. Diese Urteile befassen sich eingehend mit der Wirksamkeit der Bekanntgabe eines Steuerbescheides in nur einer Ausfertigung an einen von den Eheleuten gemeinsamen Bevollmächtigten. Ob diese Argumentation überzeugend ist, ist für das Vorliegen eines Mangels i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO unerheblich.

Für den Senat ist nicht nachvollziehbar, wie die Kläger bzw. ihr Prozeßbevollmächtigter zu ihrer falschen Behauptung kommen. Diese Behauptung widerspricht auch dem Vortrag der Kläger bzw. ihres Prozeßbevollmächtigten in der neben der Revision eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde. In dieser Nichtzulassungsbeschwerde setzen sich die Kläger u. a. eingehend mit den Ausführungen des FG zur Frage der wirksamen Bekanntgabe des Steuerbescheides in nur einer Ausfertigung an den gemeinsamen Bevollmächtigten der Eheleute auseinander. Sie gründen u. a. auf diese Ausführungen des FG ihre Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache, der Abweichung des FG-Urteils von einer BFH-Entscheidung und eines Verfahrensfehlers des FG. Unter diesen Umständen ist es im Sinne einer ordentlichen Prozeßführung unverständlich, daß die Kläger bzw. der Prozeßbevollmächtigte in der neben der Nichtzulassungsbeschwerde eingelegten Revision fälschlich behaupten, das FG-Urteil enthalte keine Ausführungen zur Wirksamkeit der Bekanntgabe des Steuerbescheides.

4. Für die Zulässigkeit der vorliegenden Revision ist es unerheblich, ob die neben der Revision eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg haben wird oder nicht. Bei einer wie hier ohne vorherige Zulassung durch das FG oder den BFH eingelegte Revision geht es allein um die Frage, ob diese eingelegte Revision zulässig ist (Beschluß des erkennenden Senats in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638; ferner Beschlüsse des BFH vom 25. März 1993 V R 100/92, BFH/NV 1994, 178, und vom 10. März 1994 IX R 43/90, BFH/NV 1994, 813).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420958

BFH/NV 1996, 478

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Steuer Office Excellence enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge