Entscheidungsstichwort (Thema)
Gemeinschaftsrechtliche Klärung der unterschiedlichen Behandlung der Umsätze bei Abgabe von Speisen bzw. Waren zum Verzehr an Ort und Stelle als Frage von grundsätzlicher Bedeutung/Wiedereinsetzung bei Büroversehen
Leitsatz (NV)
1. Die Abgabe von Speisen bzw. Waren zum Verzehr an Ort und Stelle ist in den Mitgliedstaaten der EG unterschiedlich als Lieferung oder sonstige Leistung geregelt. Aufgrund des jeweils anderen Besteuerungsorts für Lieferung oder sonstige Leistung kann es bei solchen Verpflegungsumsätzen z.B. auf Fährschiffen, die zwischen Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher Regelung verkehren, zu Doppelbesteuerung mit Umsatzsteuer kommen. Die Frage hat daher im Hinblick auf die erforderliche gemeinschaftsrechtliche Klärung grundsätzliche Bedeutung.
2. Zu den Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn das Fristversäumnis auf einem Büroversehen beruht.
Normenkette
UStG 1980 § 1 Abs. 1 Nrn. 1, 3, Abs. 3 Nr. 1, § 3 Abs. 6, § 3a Abs. 1, § 12 Abs. 2 Nr. 1 S. 2; EWGRL 388/77 Art. 5-6; FGO § 56 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist eine Gesellschaft dänischen Rechts, die mit ihren Seeschiffen den Fährverkehr auf der Linie X-Y (Dänemark) durchführt.
Streitig ist, ob sog. Restaurationsumsätze (einschließlich Abgabe von Mahlzeiten an das Personal) auf den Schiffen der Klägerin innerhalb der deutschen 3-Seemeilen-Zone der deutschen Umsatzsteuer unterliegen. Die Klägerin gab in den Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre (1983 bis 1989) keine derartigen Umsätze an. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) setzte die Umsatzsteuer aufgrund geschätzter Umsätze fest.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) zurück. Es beurteilte die Abgabe von Speisen und Getränken als Lieferung i.S. von § 1 Abs. 1 Nr. 1, 1. Alternative, Abs. 3 Nr. 1, § 3 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 und nicht als sonstige Leistungen. Die Verabreichung von Speisen und Getränken sei nach dem UStG und der 6. Richtlinie des Rates vom 7. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - gemeinsames Mehrwertsteuersystem: Einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage - 77/388 EWG - 6. EG-Richtlinie - (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 145/1) eine Lieferung im umsatzsteuerrechtlichen Sinn. Für eine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) habe keine Veranlassung bestanden. UStG und Richtlinie seien konform.
Hiergegen richtet sich die auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) und einen Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, die am 24. September 1991 und damit verspätet beim FG einging.
Sie beantragt, ihr Wiedereinsetzung zu gewähren, das Verfahren auszusetzen und die Sache dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen.
a) Wegen Vereinbarkeit des § 1 Abs. 1 Nr. 1, 1. Alternative und Abs. 3 Nr. 1 sowie § 3 Abs. 1 UStG 1980 mit Art. 5, 6 und 9 der 6. EG-Richtlinie, wenn Restaurationsumsätze auf einem dänischen Fährschiff in der bundesdeutschen 3-Seemeilen-Zone dort umsatzbesteuert werden,
b) Vereinbarkeit wie zu a) mit dem Gleichheitssatz,
c) Vereinbarkeit wie zu a) mit allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen.
Sie regt überdies an, den vorliegenden Rechtsstreit bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsbeschwerde in dem Verfahren 2 BvR 1559/90 auszusetzen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig.
Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 Abs. 1 und 2 FGO für die von ihr versäumte Beschwerdeschrift zu gewähren. Auf Antrag kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten; der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO). Das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten ist einem Beteiligten zuzurechen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -; vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. August 1977 II R 89/77, BFHE 123, 14, BStBl II 1977, 769; vom 20. Dezember 1989 IX B 27/89, BFH/NV 1991, 167).
Im Streitfall ist davon auszugehen, daß die Beschwerdefrist nicht durch schuldhaftes Verhalten des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin versäumt worden ist; denn er hat alles ihm mögliche getan, um sicherzustellen, daß der Schriftsatz fristgerecht in den Machtbereich des FG gelangt. Beauftragt der Prozeßbevollmächtigte - wie im Streitfall - einen Boten mit der Beförderung eines fristwahrenden Schriftsatzes, so beschränkt sich seine Verantwortung auf die Auswahl und Beaufsichtigung dieser Hilfsperson (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 56 Rz. 34; Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 110 AO 1977 Tz. 22, jeweils m.w.N.). Nach dem glaubhaft gemachten Sachvortrag kann davon ausgegangen werden, daß der Prozeßbevollmächtigte seine Angestellten hinreichend ausgewählt und überwacht hat. Er hat auf die Eilbedürftigkeit des Schriftsatzes ausdrücklich hingewiesen.
Das Fristversäumnis beruht auch nicht auf einer unzureichenden Organisation der Kanzlei (vgl. zu den Anforderungen BFH-Urteil vom 9. Mai 1961 I 237/60 S, BFHE 73, 491, BStBl III 1961, 445; BFH-Beschluß vom 17. August 1988 III B 174/86, BFH/NV 1989, 240; BFH-Urteil vom 6. Mai 1987 II R 40/86, BFH/NV 1988, 444). Die Beschwerdeschrift erreichte das FG allein deshalb nicht fristgerecht, weil das Schriftstück beim Sortieren der zu befördernden Schriftsätze durch die Boten in einer nicht vorhersehbaren Weise verlegt worden ist. Überdies hat die Kanzleivorsteherin entgegen den Anweisungen des Prozeßbevollmächtigten es im Streitfall unterlassen, die Rückkehr der Empfangsquittung aus dem Gericht zu überprüfen.
2. Die Beschwerde ist begründet.
Grundsätzlich bedeutsam i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist die von der Klägerin herausgehobene Rechtsfrage nach der EG-einheitlichen Behandlung der Beköstigung von Passagieren auf einem dänischen Fährschiff innerhalb der 3-Seemeilen-Zone als Lieferung oder Dienstleistung.
a) Im UStG 1980 ist die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle als Lieferung behandelt. Einer Klärung bedarf es insoweit nicht.
Nach deutschem Umsatzsteuerrecht sind die Restaurationsleistungen Lieferungen; denn § 12 Abs. 2 Nr. 1 Sätze 2 und 3 UStG 1980 nimmt die Lieferung von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle von dem ermäßigten Steueratz aus, setzt mithin voraus, daß es sich hierbei um Lieferungsumsätze handelt. Die von der Klägerin herausgestellten Besonderheiten der Bewirtungsumsätze hat der Gesetzgeber berücksichtigt. Nach der Gesetzesbegründung soll aus steuersystematischen Erwägungen der Nahrungsmittel-Lieferungsanteil zurücktreten und die einheitliche Gesamtleistung als gewerbliche Speise- und Getränkeverabfolgung erscheinen (vgl. BTDrucks 8/2827, S. 68 unter VI. 4.).
b) Ob die Abgabe von Waren zum Verzehr an Ort und Stelle als Dienstleistung oder als Lieferung anzusehen ist, regelt die 6. EG-Richtlinie unmittelbar nicht. Art. 5 und 6 der 6. EG-Richtlinie enthalten Definitionen von Lieferung und sonstiger Leistung (Dienstleistung), die denen des deutschen UStG entsprechen. Auch der durch die Richtlinie des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388 EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen - 91/680 EWG - (ABlEG 1991 L 376, S. 1) in Art. 8 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie eingefügte Buchstabe c enthält keine Sonderbestimmung dazu, ob die Abgabe von Waren zum Verzehr an Ort und Stelle als Dienstleistung oder als Lieferung anzusehen ist (vgl.auch Langer/Rokos, Die 6. EG-Umsatzsteuer-Richtlinie in der ab 1. Januar 1993 geltenden Fassung, konsolidierte Textfassung mit Erläuterungen, Erläuterungen zu Art. 8, S. 37).
c) Die Zulassung der Revision ist aber im Hinblick auf eine Klärung der einheitlichen Behandlung der hier streitigen Verpflegungsumsätze in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft als Lieferung oder sonstige Leistung geboten.
Im Schrifttum wurde neuerdings darauf hingewiesen, daß dieser Umsatz - im Gegensatz zur deutschen Handhabung - in den meisten Mitgliedstaaten als Dienstleistung und nicht als Lieferung angesehen wird (vgl. Langer/Rokos, Die 6. EG-Umsatzsteuer-Richtlinie, a.a.O.). So könnte es zu einer Doppelbesteuerung dieser Umsätze kommen, wenn ein anderer Mitgliedstaat - z.B. Dänemark, der Sitz der Klägerin - den hier streitigen Umsatz als Dienstleistung wertet: Bei einer Lieferung wäre nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der 6. EG-Richtlinie i.d.F. der Streitjahre der Ort im Zeitpunkt der Lieferung maßgeblich (vgl. auch § 3 Abs. 6 UStG 1980), bei einer Dienstleistung indes der Sitz des Leistenden gemäß Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie (ebenso § 3a Abs. 1 UStG 1980).
Die unterschiedliche Regelung in einzelnen Mitgliedstaaten mit der daraus folgenden Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen kann in einem Revisionsverfahren zur Vorlagepflicht des BFH an den EuGH gemäß Art. 177 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) führen (EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 CILFIT/Ministero della sanit, Rs. 283/81, EuGHE 1982, 3415, 3428f.; Geiger, EG-Vertrag, Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 177 Rz. 16).
Dies ist auch entscheidungserheblich i.S. des Art. 177 Abs. 3 EWGV und in einer (zuzulassenden) Revision mit dem Ziel einer Vorabentscheidung durch den EuGH klärbar. Sind die Restaurationsumsätze der Klägerin auf ihren Fährschiffen aufgrund des Gemeinschaftsrechts als Dienstleistung anzusehen, so unterfallen sie nicht der deutschen Umsatzsteuer; denn sie werden an dem Ort ausgeführt, an dem die Klägerin als Dienstleistende den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit hat (Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie, § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG 1980).
Zwar gilt gemäß Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie als Ort der Dienstleistung neben dem Sitz des Dienstleistenden auch der Ort, an dem der Dienstleistende eine feste Niederlassung hat. Der Senat müßte indes nicht entscheiden, ob die Klägerin auf ihren Fährschiffen Niederlassungen im Sinne eines ständigen Zusammenwirkens von persönlichen und Sachmitteln innehat, die für die Erbringung der Beköstigungsumsätze erforderlich sind (vgl. EuGH-Urteil vom 7. Juli 1985 Rs. 168/64, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, 6. EG-Richtlinie, Art. 9, Rechtsspruch 1). Selbst wenn eine Niederlassung i.S. des Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie bejaht werden könnte, entfiele nicht die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage, ob die Ausgabe von Waren zum Verzehr an Ort und Stelle gemeinschaftsrechtlich einheitlich als Lieferung oder Dienstleistung angesehen werden müßte. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Sitz des Dienstleistenden vorrangiger Anknüpfungspunkt. Die Berücksichtigung einer anderen Niederlassung, von der aus die Dienstleistung erbracht wird, ist nur dann von Interesse, wenn die Anknüpfung an den Sitz nicht zu einer steuerlich sinnvollen Lösung führt oder wenn sie einen Konflikt mit einem anderen Mitgliedstaat zur Folge hat (EuGH-Urteil vom 7. Juli 1985, StRK, 6. EG-Richtlinie, Art. 9, Rechtsspruch 1; vgl. auch EuGH-Urteile vom 23. Januar 1986 Rs. 283/84, StRK, 6. EG-Richtlinie, Art. 9, Rechtsspruch 2, und vom 15. März 1989 Rs. 51/88, StRK, 6. EG-Richtlinie, Art. 9, Rechtsspruch 3).
3. Weitere Zulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 FGO sind nicht gegeben.
Im übrigen ergeht der Beschluß gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne weitere Begründung.
Fundstellen