Entscheidungsstichwort (Thema)
Mangelnde Sachaufklärung durch das FG
Leitsatz (NV)
Gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist deshalb verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich zu ermitteln. Dabei muss das Gericht grundsätzlich unabhängig von den Beweisanträgen der Beteiligten von sich aus Beweis erheben und alle verfügbaren Beweismittel ausnutzen. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten beantragten Beweises darf das FG im Regelfall nur verzichten, wenn es die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache nicht rechtserheblich ist.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
FG München (Urteil vom 01.02.2007; Aktenzeichen 11 K 4801/06) |
Tatbestand
I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre 1993 und 1994 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden.
Mit notariellem Vertrag vom 14. Juli 1993 übertrug die 1917 geborene und inzwischen verstorbene Mutter des Klägers diesem und dessen Bruder ein vermietetes, mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück in F zu jeweils hälftigem Miteigentum. Besitz, Nutzen und Lasten gingen am selben Tag auf die Erwerber über. Der Kläger verpflichtete sich im Gegenzug, der Übergeberin eine lebenslange, nach § 323 der Zivilprozessordnung (ZPO) wertgesicherte Rente in Höhe von monatlich 1 000 DM zu zahlen. Noch am selben Tag veräußerten der Kläger und sein Bruder das Grundstück zum Preis von 450 000 DM an einen Dritten.
Die Kläger machten die Rentenzahlungen des Ehemannes an die Übergeberin in den Streitjahren als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) ließ diese Zahlungen unter Hinweis auf die damalige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht zum Abzug zu.
Mit der dagegen nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage trugen die Kläger vor, der Kläger habe den auf ihn entfallenden Erlös (225 000 DM) aus dem Verkauf des übergebenen Grundstücks zur Begleichung der Herstellungskosten eines selbstgenutzten Einfamilienhauses verwendet und damit den Verkaufserlös in eine andere existenzsichernde Wirtschaftseinheit investiert. Die hierdurch ersparten Schuldzinsen seien nicht geringer gewesen als die zugesagten Versorgungsleistungen. Im Jahr 1993 hätten die Hypothekenzinsen bei 7 bis 7,4 % gelegen.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) am 1. Februar 2007 wies der Prozessbevollmächtigte der Kläger ausweislich der Sitzungsniederschrift darauf hin, er gehe davon aus, dass die Mutter des Klägers bereits vor der Übertragung des Grundstücks auf ihre Kinder mit der Weiterveräußerung des Grundstücks einverstanden gewesen sei. Anlass für die Veräußerung sei gewesen, dass der Kläger bereits mit dem Bau des Einfamilienhauses begonnen habe. Der Erlös aus dem Verkauf des Hauses habe als Eigenmittel für den Bau eingesetzt werden können und damit die Zinsbelastung verringert. Vom Ablauf her gesehen müsse die Veräußerung zwischen der Mutter und den Kindern abgesprochen gewesen sein.
Der Vertreter des FA erwiderte, dass eine Vereinbarung darüber, wie der Veräußerungserlös habe verwendet werden sollen, nicht erkennbar sei. Der Überlassungsvertrag enthalte für den Fall der Veräußerung keine Bestimmung.
Gegen Ende der mündlichen Verhandlung beantragte der Prozessbevollmächtigte der Kläger, "hinsichtlich der Übergabe von der Mutter auf die Kinder über die tatsächliche Gestaltung den Bruder (des Klägers) zu hören".
Das FG hat die Klage --ohne den Bruder des Klägers zu vernehmen-- als unbegründet abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Es hat u.a. ausgeführt:
Bei Vermögensübergaben, die --wie im Streitfall-- bereits vor Bekanntwerden des Beschlusses des Großen Senats des BFH vom 12. Mai 2003 GrS 1/00 (BFHE 202, 464, BStBl II 2004, 95) stattgefunden hätten, könne zwar nicht gefordert werden, dass bereits im Übergabevertrag geregelt sei, was mit dem übergebenen Vermögen geschehen solle. Ausreichend sei vielmehr, dass die Vertragsparteien anlässlich der Übergabe und außerhalb der notariellen Übergabeurkunde ihren übereinstimmenden Willen erklärt hätten, dass die Versorgungsleistungen aus einer ihrer Art nach bestimmten und ausreichend ertragbringenden Wirtschaftseinheit gezahlt werden sollten (BFH-Urteil vom 31. Mai 2005 X R 26/04, BFH/NV 2005, 1789).
Im Streitfall habe es jedoch an dem erforderlichen Einverständnis der Übergeberin mit der Art und Weise der Wiederanlage des mit der Veräußerung des übergebenen Vermögens erlös- ten Geldbetrages gefehlt. Weder aus dem Überlassungsvertrag noch aus sonstigen Umständen sei erkennbar, dass die Übergeberin mit dem Kläger vereinbart habe, ob und in welcher Weise der Verkaufserlös wieder angelegt werden und dass aus den Erträgen dieser Wiederanlage die monatliche Rente erwirtschaftet werden solle. Da die (sofortige) Überlassung des Grundstücks und dessen Weiterveräußerung am selben Tag stattgefunden hätten, sei anzunehmen, dass die Übergeberin vom Weiterverkauf gewusst habe und hiermit einverstanden gewesen sei. Dies allein sei aber nicht ausreichend. In den Fällen, in denen die Erträge aus einem Ersatzwirtschaftsgut erwirtschaftet werden sollten, komme es darauf an, ob sich der Vermögensübernehmer (ggf. auch außerhalb der notariellen Urkunde) verpflichtet habe, den Erlös aus dem Verkauf des übergebenen Vermögens zur Anschaffung eines die Rentenzahlungen sichernden Ersatzwirtschaftsguts zu verwenden. Es sei indessen weder vorgetragen worden noch bestünden sonstige Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger gegenüber seiner Mutter verpflichtet habe, den Erlös aus dem Verkauf seines Miteigentumsanteils zur Herstellung eines Einfamilienhauses zu verwenden. Für den Fall, dass die Beteiligten eine solche Verwendungsabrede hätten treffen wollen, hätte es nahegelegen, entsprechende Abreden im Übergabevertrag festzulegen, was nicht geschehen sei. Auch der Umstand, dass keine dingliche Sicherung der Rentenzahlungen vorgesehen gewesen sei, spreche dafür, dass es der Übergeberin nicht darauf angekommen sei, dass die Rente aus den Erträgen des übergebenen Vermögensgegenstands oder eines Ersatzwirtschaftsguts erwirtschaftet würden.
Dem Antrag des Klägervertreters, hinsichtlich der tatsächlichen Gestaltung der Übergabe den Bruder des Klägers zu vernehmen, sei nicht stattzugeben gewesen. Unsubstantiierte Beweisanträge, welche das voraussichtliche Ergebnis der Beweisaufnahme in Bezug auf einzelne bestimmte Tatsachen nicht hinreichend konkretisierten, seien abzulehnen.
Mit der dagegen erhobenen Beschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Revision, weil dem FG Verfahrensfehler unterlaufen seien. Nach dem Verlauf des Rechtsstreits vor dem FG hätten sie --die Kläger-- bis zur mündlichen Verhandlung am 1. Februar 2007 davon ausgehen können, das FG werde anerkennen, dass die Umschichtung in Absprache und mit Zustimmung der Mutter erfolgt sei. Erst in der mündlichen Verhandlung sei erkennbar geworden, dass dies vom FG angezweifelt werde. Bei Zweifeln hätte das Gericht jedoch die Beteiligten dazu befragen müssen. Die Mutter des Klägers sei zwischenzeitlich verstorben, so dass nur noch der Bruder als Zeuge in Betracht komme. Das FG habe dadurch, dass es den Bruder des Klägers nicht als Zeugen vernommen habe, die ihm gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtordnung (FGO) obliegende Sachaufklärungspflicht verletzt. Danach müsse die Tatsacheninstanz den Sachverhalt erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel so vollständig wie möglich aufklären. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten angetretenen Beweises dürfe das Gericht im Regelfall nur verzichten, wenn das FG die Richtigkeit der zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstelle, das Beweismittel nicht erreichbar oder die zu beweisende Tatsache nicht rechtserheblich sei. Danach habe das FG ihren Beweisantrag, den Bruder des Klägers zu vernehmen, nicht übergehen dürfen.
Im Übrigen wäre das Gericht, wenn es den Beweisantrag für unsubstaniiert gehalten habe, gemäß § 76 Abs. 2 FGO verpflichtet gewesen, darauf hinzuweisen und auf eine Substantiierung hinzuwirken.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Die Kläger haben schlüssig einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dargelegt. Ein solcher liegt auch tatsächlich vor.
1. Mit Recht rügen die Kläger, dass das FG nicht ohne weitere Sachaufklärung von der Tatsache ausgehen durfte, es habe an dem erforderlichen Einverständnis der Übergeberin (Mutter) mit der Art und Weise der Wiederanlage des mit der Veräußerung des übergebenen Vermögens erlösten Geldbetrages gefehlt.
a) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist deshalb verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich zu ermitteln (vgl. z.B. Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 76 Rz 11, m.w.N. aus der Rechtsprechung). Dabei muss das Gericht grundsätzlich unabhängig von den Beweisanträgen der Beteiligten von sich aus Beweis erheben und alle verfügbaren Beweismittel ausnutzen (ständige Rechtsprechung; vgl. die Nachweise bei Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 76 Rz 20). Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten beantragten Beweises darf das FG im Regelfall nur dann verzichten, wenn es die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache nicht rechtserheblich ist (BFH-Beschluss vom 3. Januar 2006 IX B 56/05, BFH/NV 2006, 954, m.w.N.).
b) Nach diesen Maßstäben war das FG verpflichtet, dem Antrag der Kläger, den Bruder des Ehemannes als Zeugen zu der "tatsächlichen Gestaltung" der Vermögensübergabe zu vernehmen, zu entsprechen. Es lag nach den im Streitfall gegebenen Umständen auf der Hand, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits nach den von der Rechtsprechung des BFH (vgl. insbesondere BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 1789) entwickelten Grundsätzen möglicherweise darauf ankam, ob die Vermögensübergeberin in die Reinvestition des vom Kläger erzielten Veräußerungserlöses in die Herstellungskosten seines damals im Bau befindlichen Einfamilienhauses eingewilligt hatte. Das hat auch das FG nicht verkannt. Zu Unrecht hat es jedoch allein daraus, dass es eine solche Vereinbarung dem Übergabevertrag nicht (ausdrücklich) entnehmen und auch "keine sonstigen Umstände" für das Bestehen einer solchen Abrede erkennen konnte, auf deren Fehlen geschlossen. Plausibel ist das FG davon ausgegangen, dass, da "die Überlassung des Grundstücks mit sofortiger Besitzübergabe und seine Weiterveräußerung am gleichen Tag stattfanden, … die Übernehmerin vom Weiterverkauf wusste und damit einverstanden war". Gerade vor diesem Hintergrund lag aber die vom FG verworfene Annahme nahe, dass der Übergeberin die Pläne ihres Sohnes hinsichtlich der Verwendung des auf ihn entfallenden Anteils am Veräußerungserlös für den bereits begonnenen Eigenheimbau bekannt waren und sie in die Verwirklichung dieser Reinvestition eingewilligt hatte.
Unter den gegebenen Umständen durfte das FG den vom Prozessbevollmächtigten der Kläger am Schluss der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, den Bruder des Klägers zur tatsächlichen Gestaltung hinsichtlich der Vermögensübergabe zu hören, auch nicht deshalb übergehen, weil dieser allgemein gehalten und nicht (ausdrücklich) auf die Tatsache eingegrenzt war, ob sich der Kläger gegenüber der Mutter verpflichtet hatte, den Veräußerungserlös in den Bau des Eigenheims zu (re-)investieren. Denn das Begehren des Klägervertreters konnte im Hinblick auf die vorausgehenden Erörterungen in der mündlichen Verhandlung nur dahin verstanden werden, dass es auch darauf gerichtete Aufklärungsmaßnahmen einschloss. Jedenfalls musste sich dem FG bei dem vorliegenden Geschehensablauf selbst ohne ausdrücklich darauf gerichteten Beweisantrag aufdrängen, in diese Richtung weitere Ermittlungen anzustellen und --da die Mutter als Zeugin nicht mehr in Betracht kam-- den Bruder des Klägers zu der in Rede stehenden Frage zu vernehmen.
c) Das Unterlassen dahingehender Ermittlungen haben die Kläger unbeschadet des Umstands schlüssig gerügt, dass sie in ihrer Beschwerdebegründungsschrift nicht ausdrücklich vorgetragen haben, das angefochtene Urteil könne --ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts-- auf der unterlassenen Beweisaufnahme beruhen. Denn ihrem Vortrag lässt sich jedenfalls konkludent entnehmen, dass die Entscheidung ohne den Verfahrensverstoß möglicherweise anders ausgefallen wäre.
2. Der angerufene Senat hält es für angebracht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren.
Fundstellen
Haufe-Index 1828583 |
BFH/NV 2008, 96 |