Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Anordnung zur Vollstreckungseinstellung bei angeblicher Unbilligkeit der Steuereinziehung
Leitsatz (NV)
1. Zum Anspruch auf einstweilige Anordnung zur Einstellung der Zwangsvollstreckung, wenn ein Antrag auf Erlaß der zu vollstreckenden Steuerforderung aus Billigkeitsgründen gestellt ist.
2. Zur Frage, ob ein Erlaß der Steuerforderung aus persönlichen Billigkeitsgründen in Betracht kommt, wenn die wirtschaftliche Notlage nicht durch die Steuerfestsetzung verursacht worden ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 258, 227; FGO § 114 Abs. 1
Tatbestand
Das Finanzamt - FA - nimmt die Antragstellerinnen als Erbinnen für Steuerschulden ihres Rechtsvorgängers aus bestandskräftigen Festsetzungen von Einkommensteuer, Kirchensteuer und Umsatzsteuer in Anspruch. Der von den Antragstellerinnen erbetene Erlaß der Steuerschulden wurde vom FA abgelehnt. Dies wurde hinsichtlich der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer während des Beschwerdeverfahrens durch Entscheidungen der Oberfinanzdirektion (OFD) bestätigt. Nachdem das FA auch die Bitte abgelehnt hatte, weiterhin von Vollstreckungsmaßnahmen abzusehen, beantragten die Antragstellerinnen den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, durch die dem FA untersagt werden sollte, wegen der Steuerschulden Zwangsvollstreckungsmaßnahmen durchzuführen, bevor über die Erlaßanträge entschieden sei.
Das Finanzgericht (FG) lehnte diesen Antrag ab. Als Rechtsgrundlage für einen Anordnungsanspruch komme allein § 258 der Abgabenordnung (AO 1977) in Betracht. Die Antragstellerinnen hätten jedoch nicht glaubhaft gemacht, daß die Vollstreckung unbillig sei. Bei summarischer Prüfung sei es nach dem bisher vorliegenden Sachverhalt nicht wahrscheinlich, daß die Antragstellerinnen mit ihrem Erlaßantrag Erfolg haben würden. Das FA habe vorgetragen, es sehe sich nicht in der Lage, über den Erlaßantrag abschließend zu entscheiden, da die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht konkret dargelegt worden seien, und dies im einzelnen erläutert. Bei dieser Sachlage sei nicht erkennbar, aus welchen Gründen die Ablehnung des Erlaßantrags ermessensfehlerhaft sein solle. Im übrigen fehle es wegen der nach dem Vortrag des FA teilweise ungeklärt gebliebenen Vermögensverhältnisse auch an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde, mit der die Antragstellerinnen rügen, ihnen sei das rechtliche Gehör versagt worden, weil das FG dem Vortrag des FA uneingeschränkt gefolgt sei, ohne daß sie zunächst Gelegenheit zur Äußerung erhalten hätten. Das FG habe nicht alle vorliegenden Schriftsätze und eingereichten Unterlagen selbst gewürdigt, auch nicht die Erwiderung auf den Vortrag des FA. Eigene Nachprüfungen und Erwägungen habe das FG nicht angestellt. Im übrigen seien alle vom FA geforderten Unterlagen und Angaben eingereicht, Ergänzungen nicht verlangt worden. Das FA habe bei der Ablehnung sein Ermessen unzutreffend ausgeübt. Den Antragstellerinnen würden Steuern abverlangt, welche sie niemals zahlen könnten.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das FG hat im Ergebnis richtig entschieden, daß die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen werden kann.
Mit der Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs können die Antragstellerinnen im Beschwerdeverfahren nicht durchdringen. Da das Beschwerdegericht auch Tatsacheninstanz ist, bleibt dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, sich in ausreichendem Maße zu äußern. Eine etwaige Verletzung der Gehörsgewährungspflicht wird damit geheilt (vgl. Bundesfinanzhof - BFH -, Beschluß vom 29. September 1976 I B 113/75, BFHE 120, 134, BStBl II 1977, 83).
Mit der Vorentscheidung ist davon auszugehen, daß ein Anordnungsanspruch - Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung (§ 114 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -, § 920 Abs. 1 und 2 der Zivilprozeßordnung) - im Streitfalle nicht hinreichend dargelegt worden ist. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Gründe der Vorentscheidung dieses Ergebnis tragen oder ob den Antragstellerinnen darin zu folgen wäre, daß es an einer ausreichenden eigenen Beurteilung durch das FG fehlt. Auf die diesbezüglichen Einwendungen der Antragstellerinnen braucht nicht eingegangen zu werden, weil aufgrund sachlich-rechtlicher Erwägungen das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht angenommen werden kann.
Als Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch kommt, wie vom FG richtig erkannt, lediglich § 258 AO 1977 in Betracht, der es der Vollstreckungsbehörde gestattet, die Vollstreckung, soweit sie im Einzelfall unbillig ist, einstweilen einzustellen oder zu beschränken. Auf diese Vorschrift kann der Vollstreckungschuldner sich schon berufen, bevor die Vollstreckungsbehörde konkrete Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet hat (vgl. Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3. Aufl. 1986, § 258 Anm. 2 mit Hinweisen). Noch nicht abschließend geklärt ist jedoch, ob die Ablehnung einer einstweiligen Einstellung gerichtlich nur auf Ermessensfehler überprüft werden darf oder ob den Gerichten insoweit ein eigenständiges ,,Interimsermessen" zusteht (dazu Senat, Beschlüsse vom 4. Februar 1986 VII B 129/ 85, BFH/NV 1986, 478 f.; vom 4. Juli 1986 VII B 56/86, BFH/NV 1987, 20, 22, und vom 4. November 1986 VII B 108/86, BFH/NV 1987, 555 f.). Auch hier braucht die Frage nicht entschieden zu werden. Sowohl unter dem einen wie unter dem anderen Gesichtspunkt erweist sich bei summarischer Prüfung im Rahmen des Anordnungsverfahrens (vgl. zum Prüfungsmaßstab Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 114 Anm. 54), daß dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht entsprochen werden kann.
Die Antragstellerinnen erstreben einen Erlaß der Steuerforderungen, deren Vollstreckung sie einstweilen gehindert wissen möchten, aus Billigkeitsgründen (§ 227 AO 1977), nach dem Vorbringen im Anordnungsverfahren aus Billigkeitsgründen persönlicher Art. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme liegt im Ermessen der Finanzbehörde. Sie selbst (die Ablehnung eines Billigkeitserlasses) ist - anders als möglicherweise die Ablehnung einer einstweiligen Vollstreckungseinstellung - lediglich auf Ermessensfehler gerichtlich überprüfbar (§ 102 FGO). Nur wenn glaubhaft gemacht wird, daß das im Klageverfahren weiterverfolgte Begehren auf Erlaß aus (persönlichen) Billigkeitsgründen Erfolg haben wird, weil die Ablehnung des Erlasses ermessensfehlerhaft, ermessensgerecht dagegen allein seine Gewährung ist, kann ein Anspruch auf eine einstweilige Anordnung zur einstweiligen Einstellung der Vollstreckung bejaht werden. Dazu aber muß eine gewisse, wenn nicht überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg im Hauptverfahren sprechen (Senat in BFH/NV 1987, 20, 22 und S. 555 f., dort mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Sie liegt hier nicht vor.
Die im Klageverfahren angegriffenen Beschwerdeentscheidungen der OFD beruhen maßgeblich auf der Erwägung, daß eine Gefährdung der Existenz der Antragstellerinnen nicht durch die Steuererhebung, sondern bereits aufgrund der übrigen wirtschaftlichen Verhältnisse gegeben sei. In einem solchen Falle ist die Ablehnung eines Erlasses aus persönlichen Billigkeitsgründen nach der Rechtsprechung des Senats nicht zu beanstanden. Wie der Senat zu § 131 der Reichsabgabenordnung entschieden hat, kann eine wirtschaftliche Notlage einen Billigkeitserweis regelmäßig nur dann rechtfertigen, wenn sie durch die Steuerfestsetzung selbst verursacht worden ist (Urteil vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, 89, BStBl II 1975, 727; vgl. auch BFH, Urteil vom 10. Mai 1972 II 57/64, BFHE 105, 458, 460, BStBl II 1972, 649; siehe zu § 227 AO 1977 BFH, Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, 130, BStBl II 1987, 612; Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., 1986, § 227 Rdnr. 12). Im Schrifttum wird freilich auch die Auffassung vertreten, daß ein Billigkeitserweis selbst dann in Betracht kommen könne, wenn es an einer Kausalität zwischen Steuererhebung und wirtschaftlicher Notlage fehlt (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 43). Einer abschließenden Beurteilung dieser im Hauptverfahren zu entscheidenden Frage bedarf es indes nicht. Hier genügt die summarische Abschätzung der in jenem Verfahren bestehenden Erfolgsaussichten (Senat in BFH/NV 1987, 555, 557). Sie ergibt, daß die erforderliche Wahrscheinlichkeit eines Erfolges im Hauptverfahren nicht vorliegt, weil sich die Ablehnung des Billigkeitserlasses auf eine nicht nur vereinzelt vertretene Rechtsauffassung stützt, für die sich beachtliche Gründe anführen lassen (zu diesen näher Klein/Orlopp, a. a. O., § 227 Anm. 11a Abs. 3).
Die Antragstellerinnen meinen zwar - ohne dies näher auszuführen -, auch die Beschwerdeentscheidungen der OFD beruhten auf Fehlerwägungen, doch reicht die damit allenfalls angedeutete bloße Möglichkeit eines anderen Ergebnisses im Hauptverfahren nicht aus, um einen Anordnungsanspruch zu begründen. Da es hieran fehlt, kann der Senat selbst bei Annahme eines ihm im Rahmen von § 258 AO 1977 zustehenden Interimsermessens keine einstweilige Regelung zugunsten der Antragstellerinnen treffen.
Fundstellen
Haufe-Index 416374 |
BFH/NV 1989, 766 |