Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung kein Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO
Leitsatz (NV)
Ein Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt nicht vor, wenn das Zulassungsbegehren darauf gestützt ist, das FG habe nicht die sämtlichen, vom Kläger zu seiner Entlastung (§ 71 AO 1977) vorgebrachten Gesichtspunkte in die Beweisaufnahme einbezogen.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Tatbestand
Die Beschwerde ist gerichtet gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des FG, mit dem dieses die Klage wegen eines gegen den Kläger als GmbH-Geschäftsführer erlassenen Haftungsbescheides für nichtabgeführte Umsatzsteuer Juni und Juli 1980 abgewiesen hat.
Die Beschwerde ist gestützt auf die Behauptung grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) sowie des Vorliegens einer Abweichung von den Urteilen des BFH vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69 (BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68) und vom 16. Januar 1973 VIII R 52/69 (BFHE 108, 286, BStBl II 1973, 273).
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache erblickt der Kläger darin, daß es das FG versäumt habe, in Anwendung des Grundsatzes ,,in dubio pro reo" eine vorsätzliche Handlungsweise des Klägers bei Nichtabführung der geschuldeten (Umsatz-)Steuerbeträge zu verneinen und damit das Vorliegen einer für die Haftung maßgebenden Steuerhinterziehung (§ 71 AO 1977) abzulehnen.
Aus - im wesentlichen - gleichem Grund hält der Kläger eine Abweichung von den genannten Urteilen des BFH in BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68 und in BFHE 108, 286, BStBl II 1973, 273 für gegeben; denn in diesen Entscheidungen habe der BFH die Maßgeblichkeit des Grundsatzes ,,in dubio pro reo" auch bei Beurteilung der subjektiven Seite des Hinterziehungstatbestandes nach § 71 AO 1977 anerkannt und für verbindlich erachtet.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Soweit die Beschwerde gestützt ist auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache unter Berufung auf Verletzung des Grundsatzes ,, in dubio pro reo", ist diese nicht dargelegt i. S. des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO. Dieser Grundsatz, dessen Rechtsnatur unterschiedlich beurteilt wird, besagt für den Fall, in dem das Gericht nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft des Beteiligten gewinnt, daß die diesem jeweils günstigere Rechtsfolge eintreten muß (vgl. Kleinknecht / Meyer, Strafprozeßordnung, 38. Aufl., Tz. 26 zu § 261 mit Hinweisen). Der Grundsatz weist den Richter lediglich an, wie er zu verfahren hat - nämlich im Sinne der den Beteiligten am wenigsten beschwerenden Rechtsfolge -, wenn er sich über eine entscheidungserhebliche Tatsache keine Gewißheit verschaffen kann; er sagt nichts aus über die Maßstäbe, nach denen der Richter eine Tatsache für gewiß halten darf. Der Satz ,,in dubio pro reo" ist daher nicht schon verletzt, wenn der Richter hätte zweifeln müssen, sondern nur, wenn er verurteilte, obwohl er zweifelte (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 6. November 1974 2 BvR 407/74, Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1975, 468).
Dementsprechend gilt nach dem BFH-Beschluß vom 5. März 1979 GrS 5/77 (BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570) der Grundsatz ,,in dubio pro reo" im finanzgerichtlichen Verfahren bei Vorliegen einer strafbaren Handlung mit der Maßgabe, daß die Finanzbehörde für die Tatbestandsvoraussetzungen die objektive Beweislast trägt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß die aufgrund der Feststellungslast auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes ,,in dubio pro reo" anzustellende Überprüfung stets einzelfallbezogen ist. Ihre Ergebnisse können in der Regel nicht auf andere Streitfälle übertragen werden.
Im Streitfall ist nicht dargetan (vgl. § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO), inwiefern die vom Kläger in der Vorentscheidung vermißte Beachtung des genannten Grundsatzes für andere Sachverhalte von Bedeutung sein könnte und das abstrakte Interesse der Gesamtheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt sei (vgl. Klein / Ruban, Der Zugang zum Bundesfinanzhof, Tz. 47).
2. Soweit eine Abweichung von den Urteilen in BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68 und in BFHE 108, 286, BStBl II 1973, 273 geltend gemacht wird, fehlt es an einer Darlegung der Divergenz i. S. des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO. Es ist zwar richtig, daß in den genannten, dem Urteil in BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570 vorangegangenen Urteilen - vor allem dem ersten - die Anwendung des Grundsatzes ,,in dubio pro reo" in Hinterziehungsfällen in gewissem Umfang für verbindlich erachtet wird. Es ist aber nicht dargetan, daß das FG von rechtlichen Obersätzen ausgegangen sei, die von der Rechtsprechung des BFH abwichen.
3. Soweit den Ausführungen des Klägers zu entnehmen ist, daß das Zulassungsbegehren auch auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 96 Abs. 2 FGO) gestützt werden soll, sind keine Tatsachen dargetan, die einen für die Entscheidungsfindung des FG relevanten Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) erkennen lassen. Das Vorbringen des Klägers zu diesem Punkt läuft darauf hinaus, das FG habe nicht die sämtlichen von ihm - dem Kläger - zu seiner Entschuldigung für die Nichtabgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen (bzw. die Hinnahme der zu niedrigen Umsatzsteuer-Festsetzungen des Beklagten und Beschwerdegegners - Finanzamt -) vorgebrachten Gesichtspunkte in die Beweiswürdigung einbezogen. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) - und Entsprechendes gilt auch für § 96 Abs. 2 FGO - zwingt das Gericht aber nicht dazu, jedes und jegliches Vorbringen der Beteiligten auch ausdrücklich zu verbescheiden. Es müssen vielmehr die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (BVerfG-Beschluß vom 1. Februar 1978 1 BvR 426 /77, BVerfGE 47, 182, 189; vgl. auch Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 96 FGO Anm. 22 Buchst. e mit Hinweisen). Das ist hier geschehen. Das FG ist bei der Würdigung der Frage des Verschuldens des Klägers (§ 69 AO 1977) von zutreffenden Gesichtspunkten ausgegangen (vgl. Tipke / Kruse, a.a.O., Tz. 12 zu § 69 AO 1977, S. 29 Mitte). Es ist nicht ersichtlich, daß die von dem Kläger angesprochenen weiteren Vorgänge Bedeutung erlangen konnten.
Was der Kläger in Wirklichkeit begehrt, ist eine anderweitige, von den finanzgerichtlichen Feststellungen abweichende Würdigung von Tatsachen, also letztlich ein anderes Ergebnis der Beweiswürdigung. Die Würdigung tatsächlicher Umstände steht dem Tatrichter zu und ist der revisionsrechtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen (vgl. BFH-Urteil vom 15. Juli 1986 VIII R 187/84, BFH / NV 1987, 40).
Fundstellen
Haufe-Index 424347 |
BFH/NV 1990, 170 |