Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters durch den senatsinternen Geschäftsverteilungsplan
Leitsatz (NV)
1. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt nicht, daß in jedem konkreten Einzelfall vorab feststeht, welche Mitglieder eines mit sechs Richtern besetzten Senats im Laufe des Geschäftsjahres bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung mitwirken.
2. Mit der Rüge, wegen eines Zustellungsmangels nicht ordnungsgemäß geladen worden zu sein, wird ein Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO nicht schlüssig bezeichnet.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO §§ 91, 116 Abs. 1 Nrn. 3, 5; GVG § 21g
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für das Streitjahr 1989 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden. Gegen den Einkommensteuerbescheid 1989 vom 2. Januar 1992, der hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags vorläufig nach § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) ergangen war, legten die Kläger Einspruch ein.
Am 4. Juni 1992 erhoben die Kläger Untätigkeitsklage, da der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) über den Einspruch nicht innerhalb angemessener Frist entschieden habe.
Durch Einspruchsentscheidung vom 26. Ju ni 1992 gab das FA dem Einspruch zum Teil statt und setzte die Einkommensteuer 1989 auch hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen vorläufig nach § 165 AO 1977 fest.
Durch einen weiteren Änderungsbescheid vom 12. Oktober 1992 wurde die Steuerfestsetzung auch hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit privater Schuldzinsen (§ 12 des Einkommensteuergesetzes -- EStG --) für vorläufig erklärt.
Das Finanzgericht (FG) hat über die Klage aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. Oktober 1992 entschieden. Die Ladung zu dieser mündlichen Verhandlung wurde dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger mit Postzustellungsurkunde am 22. Oktober 1992 zugestellt. Auf dem Briefumschlag der Ladung war als Geschäftsnummer das gerichtliche Aktenzeichen angegeben. Der Vorsitzende des erkennenden Senats beim FG hatte die gesetzliche Ladungsfrist von zwei Wochen (§ 91 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) abgekürzt, nachdem die Zustellung einer bereits am 2. Oktober 192 angeordneten Ladung zu diesem Termin fehlgeschlagen war. Mit Schreiben vom 22. Oktober 1992, beim FG am folgenden Tag eingegangen, machte der Prozeßbevollmächtigte geltend, für die Abkürzung der Ladungsfrist gebe es keine Rechtsgrundlage; der Termin vom 27. Oktober 1992 sei deshalb aufzuheben. In der mündlichen Verhandlung vom 27. Oktober 1992 ist der Prozeßbevollmächtigte nicht erschienen. In einem Telefax vom selben Tage, das in der mündlichen Verhandlung verlesen wurde, beantragte er erneut, den Termin aufzuheben, weil die Kläger zwischenzeitlich gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 1989 vom 12. Oktober 1992 Einspruch eingelegt hätten. Das Klageverfahren sei deshalb bis zur Entscheidung über den Einspruch auszusetzen.
Das FG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Die Kläger haben gegen das Urteil Nichtzulassungsbeschwerde und Revision eingelegt. Mit ihrer Revision tragen sie vor, sie seien im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen, da ihr Prozeßbevollmächtigter zum Termin vom 27. Ok tober 1992 nicht ordnungsgemäß geladen worden sei. Das FG habe die Ladungsfrist von zwei Wochen (§ 91 FGO) nicht eingehal ten. Dadurch sei das rechtliche Gehör der Kläger verletzt worden, weil sich ihr Prozeßbevollmächtigter nicht ordnungsgemäß auf den Termin habe vorbereiten können. Die Ladung sei auch deshalb mangelhaft, weil sie kein ausreichendes Geschäftszeichen i. S. des § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) trage. Das Aktenzeichen des FG reiche hierfür nicht aus; eine Heilung dieses Zustellungsmangels sei nach § 9 Abs. 2 VwZG ausgeschlossen.
Die Revision sei auch nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO statthaft, weil die Entscheidung des FG nicht mit Gründen versehen sei. Das FG habe sich in dem angefochtenen Ur teil nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Kläger wegen der nicht ordnungs gemäßen Ladung zur mündlichen Verhandlung (insbesondere wegen rechtswidriger Abkürzung der Ladungsfrist) im Verfahren ordnungsgemäß vertreten gewesen seien. Dazu habe schon deshalb Veranlassung bestanden, weil die Frage der ordnungs gemäßen Vertretung der Beteiligten im Prozeß zu den von Amts wegen zu prüfenden Sachentscheidungsvoraussetzungen gehöre.
Die Kläger machen ferner geltend, der erkennende Senat beim Bundesfinanzhof (BFH) sei nicht ordnungsgemäß besetzt. Aus dem senatsinternen Mitwirkungsplan ergebe sich nicht, wer Mitberichterstatter in dieser Sache werde. Über die Bestellung des Berichterstatters entscheide der Vorsitzende nach seinem Ermessen. Dieses Verfahren sei unvereinbar mit Art. 101 des Grundgesetzes (GG). Auch die Überbesetzung des VIII. Senats entspreche nicht den Anforderungen an die Bestimmtheit des gesetzlichen Richters.
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Sie beantragen ferner, nach § 8 des Gerichtskostengesetzes (GKG) von der Erhebung der Gerichtskosten abzusehen.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
1. Die Zusammensetzung des erkennenden Senats entspricht den Anforderungen an den gesetzlichen Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Entgegen der Ansicht der Kläger ergibt sich aus dieser Vorschrift nicht, daß der Berichterstatter von vornherein festgelegt sein müsse (vgl. BFH-Urteil vom 2. Dezember 1992 I R 54/91, BFHE 170, 119, BStBl II 1993, 311). Auch fordert Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht, daß in jedem konkreten Einzelfall vorab feststeht, welche Mitglieder des Senats im Laufe des Geschäftsjahres bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung mitwirken. Anhand dieser Vorschrift ist lediglich zu prüfen, ob der Vorsitzende bei der Bestimmung von Berichterstatter und Mitberichterstatter willkürfrei verfahren ist (vgl. BFH- Beschluß vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252). An haltspunkte für eine willkürliche Maßnahme des Vorsitzenden sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Bestimmung von Berichterstatter und Mitberichterstatter entspricht vielmehr dem nach § 21 g des Ge richtsverfassungsgesetzes (GVG) aufgestellten Geschäftsverteilungsplan des VIII. Senats für das Geschäftsjahr 1994 vom 16. Dezember 1993 und dem Vermerk des Senatsvorsitzenden vom 20. Dezember 1991, geändert durch Verfügung vom 10. März 1992, über die Grundsätze über die Zuschreibung der Streitfälle auf die einzelnen Senatsmitglieder. Danach ist für das Aufgabengebiet Gerichtsverfahrensrecht (neben Richter am BFH A) Richter am BFH B zuständig. Die Bestimmung des Mitberichterstatters entspricht ebenfalls dem senatsinternen Mitwirkungsplan vom 16. Dezember 1993. Nach dessen Abschn. III Nr. 1 ergibt sich der Mitberichterstatter in der Regel aus den Endziffern der Aktenzeichen des erkennenden Senats, die den einzelnen Richtern in genau festgelegter Reihenfolge zugeordnet sind. Für die Endziffern 7 und 8 ist dies Richter am BFH C; abweichend von der Zuständigkeitsbestimmung nach Endziffern kann der Vorsitzende einen anderen Richter zum Mitbericht erstatter bestimmen, wenn dieser mit einer zuvor zugeschriebenen Sache befaßt war oder ist, die mit der neuen Sache sachlich zusammenhängt (Abschn. III Nr. 2 des Geschäftsverteilungsplanes 1994). Diese Regelung greift ein für die Übernahme der Mitberichterstattung in der vorliegenden Sache, für die nach der Endziffernregelung an sich Richter am BFH A als Mitbericht erstatter zuständig wäre. Wegen des sach lichen Zusammenhangs mit der vorher zu geschriebenen Sache ... , bei der entsprechend der Endziffernregelung Richter am BFH C zum Mitberichterstatter bestellt wurde, ist dieser auch für die vorliegende Sache zuständig.
Der erkennende Senat ist derzeit mit sechs planmäßigen Mitgliedern besetzt. Diese Überbesetzung ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Der Senat nimmt insoweit wegen der Begründung auf seine Ausführungen im Beschluß in BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252 Bezug.
2. Die Revision ist nicht nach § 116 Abs. 1 FGO statthaft. Die zulassungsfreie Ver fahrensrevision ist nur zulässig, wenn innerhalb der Revisionsbegründungsfrist zumindest einer der in dieser Vorschrift aufgezählten Verfahrensfehler schlüssig gerügt wurde, d. h., wenn die zur Begründung des Verfahrensverstoßes angeführten Tatsachen -- ihre Richtigkeit unterstellt -- einen Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 FGO ergeben (BFH-Beschluß vom 21. April 1986 IV R 190/85, BFHE 146, 357, BStBl II 1986, 568). Die vorliegende Revision genügt diesen Anforderungen nicht.
a) Die Rüge nicht ordnungsgemäßer Ladung ist nicht geeignet, einen Verfahrensmangel i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO schlüssig darzutun.
Nach § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ist die Revision ohne Zulassung statthaft, wenn gerügt wird, ein Beteiligter sei im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen. Aus dem Zusammenhang dieser Vor schrift mit den übrigen in § 116 Abs. 1 FGO aufgeführten Verfahrensmängeln wird deutlich, daß die zulassungsfreie Revision nur bei Vorliegen besonders schwerer Verstöße gegen die Verfahrensordnung gegeben ist, insbesondere dann, wenn ein Beteiligter im Prozeß überhaupt nicht vertreten ist (BFH- Beschluß vom 25. Juli 1979 VI R 3/79, BFHE 128, 176, BStBl II 1979, 654).
Mit dem Vorbringen der Kläger, wegen eines Zustellungsmangels (Fehlen einer ausreichenden Geschäftsnummer) nicht ordnungsgemäß geladen worden zu sein, ist ein schwerwiegender Verfahrensverstoß in diesem Sinne nicht vorgetragen worden (BFH-Beschlüsse vom 15. Dezember 1986 IV B 59-61/86, IV B 66/86, BFH/NV 1988, 643, und vom 29. Juli 1993 X B 210/92, BFH/NV 1994, 382). Auch mit dem Vortrag, die Ladung sei wegen Nichteinhaltung oder wegen rechtswidriger Abkürzung der Ladungsfrist des § 91 FGO fehlerhaft gewesen, ist ein Verfahrensverstoß i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO nicht schlüssig gerügt. Ein Fall mangelnder Vertretung im Verfahren liegt nicht vor, wenn der nicht ordnungsgemäß geladene Beteiligte nachweislich von dem Termin vor dessen Anberaumung Kenntnis erhalten hatte (vgl. BFH-Beschluß vom 16. Januar 1991 IV R 128/89, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 116 Abs. 1 Nr. 3, Rechtsspruch 11 m. w. N.). Im Streitfall war die Ladung dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger unstreitig vor dem Termin zugegangen. Soweit die Kläger geltend machen, wegen der abgekürzten Ladungsfrist sei es ihrem Prozeßbevollmächtigten nicht möglich gewesen, sich ausreichend auf den Termin vorzubereiten, rügen sie die Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO). Dieser Verfahrensverstoß gehört jedoch nicht zu den Mängeln, die die zulassungsfreie Revision eröffnen.
b) Auch der behauptete Verfahrensmangel des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ist nicht in zulässiger Weise gerügt worden.
Die Verfahrensrüge des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO dient wie die Bestimmung des § 105 Abs. 2 Nr. 4 und 5 FGO, wonach das Urteil einen Tatbestand und Entscheidungsgründe enthalten muß, der Sicherstellung, daß die Beteiligten ihre prozessualen Rechte wahrnehmen können. Die Wiedergabe des Tatbestandes ist erforderlich, damit die Beteiligten erkennen können, welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung zugrunde liegen. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgebend waren. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen liegt deshalb nur vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung zu überprüfen. Das ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann der Fall, wenn das FG seine Entscheidung überhaupt nicht begründet oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat, mithin das Urteil bezüglich eines wesentlichen Streitpunktes nicht mit Gründen versehen war (BFH-Beschlüsse vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638, und vom 17. September 1991 X R 19/91, BFH/NV 1992, 750 m. w. N.). Ob das Gericht auf alle Gesichtspunkte sowie den gesamten Akteninhalt eingegangen ist und zutreffende Schlußfolgerungen gezogen hat, ist keine Frage der fehlenden Begründung i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO. Mängel dieser Art können zwar formelles oder materielles Recht verletzen, sie eröffnen jedoch keine zulassungsfreie Revision.
Im Streitfall enthält das angefochtene Urteil einen Tatbestand und Entscheidungsgründe i. S. des § 105 Abs. 2 FGO. Das FG hat eingehend begründet, weshalb es die Untätigkeitsklage als unzulässig abgewiesen hat. Die Kläger machen lediglich geltend, das FG habe sich in den Urteilsgründen mit prozessual bedeutsamen Tatsachen -- der mangelnden Ordnungsmäßigkeit der Ladung ihres Prozeßbevollmächtigten zur mündlichen Verhandlung -- nicht auseinandergesetzt. Mit diesem Vorbringen ist ein wesentlicher Verfahrensfehler i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht schlüssig dargetan. Mit der Rüge nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO kann nur eine fehlende Begründung des angefochtenen Urteils hinsichtlich des sachlichen Klagebegehrens beanstandet werden (BFH-Beschlüsse vom 5. Dezember 1986 VI R 58/86, BFH/NV 1987, 175, und vom 13. Juli 1994 X R 86, 115/93, BFH/NV 1994, 729). Einwendungen gegen die Ordnungsmäßigkeit der Ladung oder gegen die Ablehnung eines Vertagungsantrags sind keine selbständigen Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Sinne der o. a. Rechtsprechung zu § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO. Fehlende Ausführungen des FG-Urteils zu diesen Fragen betreffen nicht die rechtliche Begründung der Entscheidung über den Klageanspruch, sondern die Begründung einer (grundsätzlich unanfechtbaren) prozeßleitenden Verfügung i. S. von § 128 Abs. 2 FGO. Die von den Klägern behaupteten Rechtsfehler im Zusammenhang mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung konnten deshalb allenfalls mit einfachen Verfahrensrügen im Rahmen einer zugelassenen Revision oder einer Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden.
3. Die Kläger haben gleichzeitig mit der vorliegenden Verfahrensrevision Be schwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt. Die Nichtzulassungs beschwerde hat auch im Falle ihres Erfolges keine Auswirkungen auf die wegen mangelhafter Begründung unzulässig erhobene Verfahrensrevision i. S. von § 116 Abs. 1 FGO (BFH-Beschluß in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638; a. A. Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 116 Rz. 6 a).
Fundstellen
Haufe-Index 420332 |
BFH/NV 1995, 609 |