Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Zulässigkeit des überganges zu einer anderen Schätzungsart bei Berichtigung einer auf Schätzung beruhenden Veranlagung.

Der Grundsatz des Urteils des Reichsfinanzhofs VI A 587/35 vom 16. Dezember 1936 (RStBl 1937 S. 106), wonach für die Einkommensteuer eine neue Tatsache dann erheblich ist, wenn der Steuerpflichtige durch die Berichtigungsveranlagung in eine höhere Einkommensteuerstufe kommt, kann auf die Veranlagungszeiträume nach Kriegsende nicht mehr angewendet werden.

 

Tatbestand

Die Beschwerdeführerin (Bfin.) betreibt eine Bäckerei. Die Voraussetzungen für eine Buchführungspflicht nach § 161 Abs. 1 Ziff. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) sind bei ihr nicht gegeben. Für II/1948 hatte sie einen Gewinn von 3.032 DM und für 1949 einen solchen von 5.951 DM erklärt. Die Gewinne waren je mit 23 v. H. der Umsätze geschätzt. Diese waren nach der Mehlmengenausbeute, aufgeteilt nach Roggen- und Weizenmehl sowie nach örtlichem Verkauf und Versand, unter Zugrundelegung der Verkaufspreise zuzüglich der Einnahmen aus Hefe- und Kuchenverkauf sowie aus Backlohn ermittelt. Das Finanzamt ist bei der Einkommensteuerveranlagung von diesen Umsätzen ausgegangen. Es hat lediglich andere Reingewinnsätze angewendet, und zwar beim Brot-, Hefe- und Kuchenverkauf für II/1948 24 v. H., für 1949 2 v. H. und beim Backlohn je 50 v. H. Für II/1948 ist es so zu einem Gewinn von rund 3.550 DM, für 1949 zu einem solchen von 5.924 DM gekommen. Wegen der geringen Abweichung des letztgenannten Betrages hat es das Finanzamt für 1949 beim erklärten Gewinn belassen. Die veranlagte Einkommensteuer betrug für II/1948 860 DM und für 1949 1.206 DM.

Bei einer im Jahre 1954 durchgeführten Betriebsprüfung wurde festgestellt, daß die Mehlspitzen in der Umtauschbäckerei (Tausch von Mehl gegen Brot) weder im Backlohn noch bei der Umsatzschätzung für die Kundenbäckerei berücksichtigt waren. Der Betriebsprüfer führte daraufhin eine Neuschätzung der Umsätze nach dem Verfahren der Richtsatzschätzung durch. Für die Mehlspitzen setzte er beim Wareneinsatz Beträge von 137 DM (II/1948) und 305 DM (1949) und bei der Lohnbäckerei 100 DM (II/1948) und 300 DM (1949) hinzu. Zur Ermittlung des Umsatzes aus der Kundenbäckerei auf Grund des Wareneinsatzes wandte er einheitliche Rohaufschlagsätze (für II/1948 95 v. H., für 1949 80 v. H.) an. Für die Schätzung der Gewinne aus den Umsätzen übernahm er die oben angegebenen Reingewinnsätze des Finanzamts. Es errechnete sich hiernach für II/1948 ein Gewinn von 3.800 DM und für 1949 ein solcher von 6.400 DM.

Das Finanzamt hat entsprechend dem Ergebnis der Betriebsprüfung Berichtigungsveranlagungen durchgeführt. Die Einkommensteuer II/1948 wurde auf 965 DM (Mehrbetrag 105 DM), die Einkommensteuer 1949 auf 1.371 DM (Mehrbetrag 165 DM) festgesetzt.

Im Rechtsmittelverfahren hat die Bfin. das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO bestritten. Nach der Rechtsprechung (Urteil des Reichsfinanzhofs I A 313/32 vom 15. Mai 1934, Reichssteuerblatt - RStBl - 1934 S. 677) dürfe das Finanzamt nicht auf jede Prüfung der vorgelegten Unterlagen verzichten, sondern habe Zweifelsfragen, die sich bei flüchtiger Durchsicht der Unterlagen aufdrängten, vor der Veranlagung zu klären. Aus der Aufführung der Backlöhne in den Erklärungsunterlagen hätten sich beim Finanzamt Zweifel ergeben müssen, ob die Mehlspitzen in dem Wareneinsatz mit aufgeführt seien. Im übrigen sei in der Umsatzsteuererklärung für 1949 ein Wareneingang in Höhe von 13.903 DM angegeben worden, während durch die Betriebsprüfung ein Wareneinsatz einschließlich Mehlspitzen in Höhe von nur 13.445 DM ermittelt worden sei. Die Erhöhung des Backlohns um 300 DM stelle daher die einzige neue Tatsache zu ihren Ungunsten dar, die sich aber mit der änderung des Wareneingangsbetrages wieder ausgleiche. Abgesehen davon sei eine Berichtigungsveranlagung nur zulässig, wenn Tatsachen von einigem Gewicht bekanntgeworden seien, woran es hier fehle.

Einspruch und Berufung blieben erfolglos. Das Finanzgericht hat im wesentlichen folgendes ausgeführt:

Das Vorliegen einer neuen Tatsache hinsichtlich des Wareneinsatzes 1949 könne nicht in Abrede gestellt werden. Maßgebend für die Verprobung des Umsatzes sei nicht der Wareneingang, sondern der Wareneinsatz. Nach der Feststellung des Betriebsprüfers liege der Schätzung der Bfin. für 1949 ein Wareneinsatz von 13.140 DM zugrunde. Der tatsächliche Wareneinsatz unter Berücksichtigung der Mehlspitzen habe aber 13.400 DM betragen. Dem Vorbringen der Bfin., dem Finanzamt hätten sich bereits bei der ursprünglichen Veranlagung Zweifel über die Erfassung der Mehlspitzen beim Wareneinsatz aufdrängen müssen, könne nicht gefolgt werden. Das Finanzamt habe bei Durchführung der Veranlagung annehmen können, die Bfin. habe ihren Wareneinsatz zutreffend ermittelt, zumal ein Helfer in Steuersachen die Erklärung gefertigt habe. Die festgestellten neuen Tatsachen seien auch von einigem Gewicht. Einmal seien die Mehrsteuern für sich betrachtet nicht unbedeutend. überschreite die Mehrsteuer im Einzelfall den Betrag von 100 DM, so werde man in der Regel eine neue Tatsache von einigem Gewicht bejahen müssen, es sei denn, daß die Mehrsteuer im Verhältnis zur ursprünglich festgesetzten Steuer von untergeordneter Bedeutung sei. Letzteres sei aber hier nicht der Fall, da die Mehrsteuer für II/1948 rund 12 v. H. und für 1949 rund 13 v. H. betrage.

Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) macht die Bfin. geltend, bei Betrieben ihrer Größenordnung werde es häufig so gehandhabt, daß der Wareneinsatz dem Wareneingang gleichgesetzt werde. Dann müsse von dem in der Umsatzsteuererklärung 1949 angegebenen Betrag von 13.903 DM ausgegangen werden, dem gegenüber der Betriebsprüfer einen niedrigeren Wareneinsatz einschließlich Mehlspitzen festgestellt habe. Der Gewinnerhöhung sei im vorliegenden Fall auch deshalb der Boden entzogen, weil das Finanzgericht für die Umsatzsteuer das Vorliegen einer neuen Tatsache von einigem Gewicht, die zu einer höheren Veranlagung berechtige, verneint habe. Im übrigen lägen auch bei der Einkommensteuer keine neuen Tatsachen von einigem Gewicht vor; denn die Zuschätzung der Beträge von 137 DM bzw. 305 DM beim Wareneinsatz wegen der Mehlspitzen könne nicht als erheblich angesehen werden. Erst bei überschreitung einer Grenze von etwa 5 v. H. könne von einer Erheblichkeit gesprochen werden. Schließlich müsse gerügt werden, daß der Betriebsprüfer und ihm folgend das Finanzamt eine andere Schätzungsmethode angewandt hätten als die der ursprünglichen Veranlagung zugrunde liegende. Das Finanzamt habe bei dieser die von ihr angewendete Methode, die die Besteuerungsgrundlagen viel individueller feststelle als die globale Schätzungsart des Prüfers, unbeanstandet übernommen. Der übergang zu der anderen Verprobungsart widerspreche den Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 40/51 U vom 3. Oktober 1951 (Slg. Bd. 55 S. 491, Bundessteuerblatt - BStBl - 1951 III S. 202).

 

Entscheidungsgründe

Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes:

Durch die Betriebsprüfung ist festgestellt worden, daß in den von der Bfin. eingereichten Erklärungsunterlagen für die beiden Veranlagungszeiträume die Mehlspitzen der Umtauschbäckerei nicht berücksichtigt sind, und zwar weder im Backlohn noch in den Mehlmengen, die der Umsatzschätzung für die Kundenbäckerei zugrunde gelegt worden sind. Diese Feststellung kann, worin dem Finanzgericht beizutreten ist, durch die Ausführungen der Bfin. zum Wareneinsatz 1949 nicht entkräftet werden. Das durch die Betriebsprüfung aufgedeckte Fehlen der Mehlspitzen stellt eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO dar. Das Finanzgericht hat mit Recht verneint, daß beim Finanzamt bereits vor der ursprünglichen Veranlagung Zweifel an der vollständigen Angabe der verbackenen Mehlmengen in den Erklärungsunterlagen der Bfin. hätten aufkommen müssen und deshalb nach den Grundsätzen des angeführten Urteils I A 313/32 vom 15. Mai 1934 die Tatsache nicht als neu gelten könne. Insbesondere konnten bei den hier in Betracht kommenden geringfügigen Unterschieden zwischen Wareneingang und Wareneinsatz die in der Umsatzsteuererklärung enthaltenen Angaben über die Wareneingänge nicht zu solchen Zweifeln Anlaß geben.

Unzutreffend ist die Auffassung der Bfin., durch das rechtskräftige Urteil des Finanzgerichts, das aus formellen Gründen (Verneinung der Erheblichkeit der neuen Tatsache) die ursprünglichen Umsatzsteuerveranlagungen wiederhergestellt hat, sei auch den Berichtigungsveranlagungen für die Einkommensteuer der Boden entzogen. Die Entscheidung des Finanzgerichts hat nur Bedeutung für den Bereich der Umsatzsteuer. Soweit der Umsatz Schätzungsgrundlage für den einkommensteuerlichen Gewinn ist, ist er in seiner tatsächlichen Höhe zu ermitteln und bei der Gewinnschätzung zu verwerten.

Der Berichtigungsveranlagung steht auch nicht das von der Bfin. angeführte Urteil des Senats IV 40/51 U vom 3. Oktober 1951 entgegen. Danach kann eine auf Schätzung beruhende Veranlagung auf Grund einer anderen Schätzung nur berichtigt werden, wenn neue Tatsachen (Schätzungsunterlagen) festgestellt werden. Eine solche Tatsache ist aber hier, wie oben ausgeführt, durch die Betriebsprüfung festgestellt worden. Der Senat hält jedoch in diesem Zusammenhang die Rüge der Bfin. für begründet, daß der Betriebsprüfer und das Finanzamt als Grundlage für die Berichtigungsveranlagung eine andere Schätzungsmethode angewandt haben. Der übergang zu einer anderen Schätzungsart wird regelmäßig nur dann in Betracht kommen, wenn die aufgedeckte neue Tatsache dies erforderlich erscheinen läßt. Das trifft hier nicht zu; denn es ist nicht ersichtlich, warum nicht auch bei Beibehaltung der der ursprünglichen Veranlagung zugrunde liegenden Schätzungsmethode die fehlenden Mehlspitzen berücksichtigt werden könnten. Die Umsatzermittlung nach der Mehlausbeute ist zudem genauer und zuverlässiger als die Berechnung nach einheitlichen Rohgewinnaufschlägen. Nach § 217 Abs. 1 letzter Satz AO sind alle für die Schätzung bedeutsamen Umstände zu berücksichtigen. Von mehreren möglichen Schätzungsmethoden ist dementsprechend diejenige zu nehmen, die dem Ergebnis am nächsten kommt, das bei ordnungsmäßiger Buchführung wahrscheinlich ausgewiesen worden wäre (siehe Urteil des Bundesfinanzhofs I 234/56 vom 18. Dezember 1956, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung § 217 Rechtsspruch 15; Mitteilungsblatt der Steuerberater 1957 S. 94 Nr. 274).

Hiernach war die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache unter gleichzeitiger Aufhebung der Einspruchsentscheidung an das Finanzamt zurückzuverweisen. Dieses hat die Gewinnschätzungen für die streitigen Veranlagungszeiträume unter Einbeziehung der Mehlspitzen nach der ursprünglich angewendeten Schätzungsart durchzuführen. Für die Frage der Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagung wird es noch zu prüfen haben, ob die durch die Betriebsprüfung bekanntgewordene neue Tatsache dann von einigem Gewicht ist. Hierfür sind die Steuerbeträge maßgebend, die sich auf Grund der ergänzten Schätzung ergeben werden. Nicht jeder gegenüber der ursprünglichen Veranlagung höhere Steuerbetrag rechtfertigt eine Berichtigungsveranlagung. Zwar hat der Reichsfinanzhof in dem Urteil VI A 587/35 vom 16. Dezember 1936 (RStBl 1937 S. 106) für die Einkommensteuer eine neue Tatsache dann als erheblich erachtet, wenn der Steuerpflichtige durch die Berichtigungsveranlagung in eine höhere Einkommensteuerstufe kommt. Dieser Grundsatz ist jedoch zum Einkommensteuergesetz 1934 aufgestellt worden, in dem der Einkommensteuertarif weiter auseinandergezogen war; in den hier in Betracht kommenden Stufen betrug der Unterschied 400 bzw. 500 DM. In den seit Kriegsende geltenden Einkommensteuertarifen sind dagegen die Stufenunterschiede wesentlich verkleinert worden. Sie betragen in den hier maßgeblichen Stufen für II/1948 25 DM und für 1949 50 DM. Gegenüber den ursprünglich veranlagten Einkommensteuern von 860 DM für II/1948 und 1.206 DM für 1949 belaufen sich die Steuern in der nächsten Stufe auf 870 DM bzw. 1.224 DM, sind also nur um 10 DM bzw. 18 DM höher. Bei Anwendung des Tarifes des Einkommensteuergesetzes 1934 auf die gleichen Einkommensbeträge wären die Steuern in der nächsten Stufe um 77 DM bzw. 96 DM höher (640 - 563 bzw. 1.024 - 928). Hiernach kann der Grundsatz des angeführten Urteils des Reichsfinanzhofs auf die Veranlagungszeiträume nach Kriegsende nicht mehr angewendet werden. Die Frage der Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung wegen Erheblichkeit der neuen Tatsache ist nunmehr bei der Einkommensteuer nicht anders zu beurteilen als bei den übrigen Steuern. Es kommt auf den Einzelfall an; bei der Frage, was erheblich ist, ist ein relativer, kein absoluter Maßstab anzulegen. In übereinstimmung mit dem Finanzgericht würde der Senat im vorliegenden Fall die Berichtigungsveranlagung für zulässig erachten, wenn sich - für 1949 - eine Steuererhöhung von über 100 DM ergeben würde; dem würde für II/1948 eine Steuererhöhung von über 50 DM entsprechen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408945

BStBl III 1958, 52

BFHE 1958, 132

BFHE 66, 132

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