Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift des § 84 Satz 2 AO bezieht sich nur auf die Fälle, in denen die Bestellung eines Betriebsleiters oder Bevollmächtigten gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Senat gibt die frühere Rechtsprechung (Urteil IV 602/56 U vom 24. Januar 1957, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 64 S. 234, BStBl III 1957 S. 89) auf.

 

Normenkette

AO § 84 S. 2

 

Tatbestand

Der Revisionskläger (Steuerpflichtige - Stpfl. -), ein Komponist und Arrangeur, wurde durch Bescheide, die am 1. August 1960 mittels einfachen Briefs zur Post gegeben wurden, für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 zur Einkommensteuer veranlagt. Er legte mit Schreiben vom 10. September 1960 - beim Finanzamt (FA) eingegangen am 12. September 1960 - Einsprüche gegen diese Bescheide ein, mit denen er Einwände gegen die Höhe der Steuer erhob und ferner beantragte, die einbehaltene Lohnsteuer auf die veranlagte Einkommensteuer anzurechnen. Der Stpfl. trug zur Begründung dafür, daß er die Einsprüche erst so spät eingelegt hatte, vor, er habe sich in Urlaub befunden.

Das FA verwarf die Einsprüche als unzulässig. Es führte aus, Nachsicht wegen der Versäumung der Einspruchsfrist könne nicht gewährt werden, da der Stpfl., nur weil er sich im Erholungsurlaub befunden habe, nicht wegen der Fristversäumnis entschuldigt sei. Das FA setzte jedoch die verbleibende Einkommensteuerschuld unter Anrechnung der einbehaltenen Lohnsteuer anderweitig fest.

Mit seiner Berufung gegen die Einspruchsentscheidung trug der Stpfl. vor, er sei in der Zeit vom 17. Juli bis 11. September 1960 von M - seinem zweiten Wohnsitz -, wohin ihm die Einkommensteuerbescheide zugesandt worden seien, abwesend gewesen, und zwar teils aus Geschäftsgründen, teils wegen einer sich unmittelbar daran anschließenden Urlaubsreise. Sowohl für die Geschäftsreise nach W in Holstein als auch für die Urlaubsreise nach Frankreich habe er mangels eines festen Reiseplanes keinen Nachsendeantrag bei der Post stellen können.

Die Vorinstanz wies das Rechtsmittel des Stpfl. zurück. Sie führte unter Berufung auf die Urteile des BFH IV 602/56 U vom 24. Januar 1967 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - Bd. 64 S. 23 - BFH 64, 234 -, BStBl III 1957, 89) und I 80/59 U vom 17. Mai 1960 (BFH 72, 288, BStBl III 1961, 107) aus, der Stpfl. habe sich nach seinen eigenen Angaben vom 3. August bis zum 11. September auf Urlaub befunden, den er in Frankreich verbracht habe. Der normale Fristbeginn wäre der 5. August gewesen. Nach der unwiderlegten Behauptung des Stpfl. habe er sich bereits am 4. August im Ausland befunden, falle er also grundsätzlich unter den Personenkreis des § 84 AO. Die Vergünstigung dieser Bestimmung könne indessen auf ihn keine Anwendung finden. Nach dem Urteil des BFH IV 602/56 U werde für Steuerpflichtige, die sich zu Beginn der Rechtsmittelfrist im Ausland aufhielten, der Fristbeginn nicht gemäß § 84 Satz 1 AO hinausgeschoben, wenn es der Steuerpflichtige schuldhaft unterlassen habe, für die Dauer seiner Abwesenheit einen Bevollmächtigten zu bestellen. Nach dem Urteil des BFH I 80/59 U gehe ein Steuerpflichtiger der Vergünstigung des § 84 Satz 1 AO dann allerdings nicht verlustig, wenn er es unterlassen habe, während eines kurzfristigen Aufenthalts im Ausland einen Vertreter zu bestellen. Bei dem vom BFH zuletzt entschiedenen Falle habe es sich um einen Auslandsaufenthalt von etwa zwei Wochen gehandelt. Bei einem fünfwöchigen Aufenthalt des Stpfl. im Ausland könne von einem kurzfristigen Aufenthalt im Sinne der vorgenannten Entscheidung nicht mehr die Rede sein. Das vorerwähnte Urteil des BFH befasse sich zwar mit einem Gewerbetreibenden, das Gericht habe aber keine Bedenken, die Grundsätze dieses Urteils auch auf einen Freiberufler anzuwenden. Der Stpfl., der nach seinen eigenen Angaben ständig mit mehreren Verlegern in Verbindung gestanden habe, habe die Pflicht gehabt, einen Bevollmächtigten zu bestellen und sich von Zeit zu Zeit die wichtigste Post an einen bestimmten Ort nachsenden zu lassen. Hierbei sei insbesondere zu berücksichtigen, daß der Stpfl. am 5. Mai 1960 auf die Möglichkeit einer Schätzungsveranlagung für 1958 hingewiesen worden sei. Da er auch die Aufklärungsverfügung des FA vom 7. Juni 1960 unbeachtet gelassen habe, habe er mit dem Ergehen von Steuerbescheiden in absehbarer Zeit rechnen und infolgedessen auch Vorsorge treffen müssen, daß er hiervon rechtzeitig in Kenntnis gesetzt würde. Gemäß § 86 AO könne Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist nur beantragen, wer ohne Verschulden verhindert gewesen sei, die Frist einzuhalten. Da es der Stpfl. unstreitig unterlassen habe, für die Nachsendung seiner Post zu sorgen, müsse hierin ein schuldhaftes Handeln erblickt werden, das eine Nachsichtgewährung ausschließe.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Stpfl. mit der nunmehr als Revision zu behandelnden Rb. Er ist der Ansicht, daß § 84 AO in seinem Falle anwendbar sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz.

Die Vorinstanz begründet ihre Entscheidung damit, daß § 84 AO auf den Stpfl. keine Anwendung finde, die Frist also versäumt sei und auch keine Nachsicht gewährt werden könne. Hinsichtlich der ersteren Annahme (Versäumung der Frist) stützt sie sich auf die von ihr richtig wiedergegebene Rechtsprechung des BFH. In dem dem erstgenannten Urteil des erkennenden Senats (IV 602/56 U) zugrunde liegenden Falle wäre die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels auch dann abgelaufen gewesen, wenn man dem Stpfl. die Rechtswohltat des § 84 AO gewährt hätte. Das ist in dem Urteil auch erkennbar gemacht. Es ging also entscheidend nur noch um die Frage, ob dem Stpfl. - einem Gewerbetreibenden, der sich längere Zeit (1 1/2 bis zwei Monate) im Ausland aufgehalten hatte - Nachsicht wegen der Fristversäumnis gewährt werden mußte. Das verneinte der Senat mit der Begründung, der Stpfl. habe sich schuldhaft verhalten. In der Entscheidung und auch in dem veröffentlichten Rechtssatz findet sich jedoch die - also nur als "obiter dictum" - anzusehende Bemerkung, die Nichtbestellung eines Bevollmächtigten durch einen Gewerbetreibenden schließe unter diesen Umständen eine Verlängerung der Frist nach § 84 Satz 1 AO aus. Ohne zu diesem letzten Satz Stellung zu nehmen, nahm der I. Senat des BFH in der ebenfalls von der Vorinstanz zitierten Entscheidung I 80/59 U an, ein Gewerbetreibender, der sich nur kurzfristig, etwa 10 Tage, im Ausland aufgehalten habe, habe keinen Bevollmächtigten zu bestellen brauchen, um sich den Vorteil des § 84 AO zu erhalten. Schließlich entschied noch der II. Senat des BFH in dem Urteil II 86/63 vom 12. Februar 1964 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1964 S. 462), daß ein Steuerpflichtiger, der sich drei Monate im Ausland aufgehalten habe, angesichts der Möglichkeit, daß inzwischen eine Einspruchsentscheidung des FA gegen ihn habe ergehen können, einen Bevollmächtigten im Sinne des § 84 Satz 2 AO hätte bestellen müssen, also § 84 Satz 1 AO nicht angewendet werden könne.

Die in der Entscheidung IV 602/56 U geäußerte Ansicht des Senats hat im Schrifttum einhellig Ablehnung erfahren (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2. Aufl., § 84; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 84 Anm. 3; Mattern-Messmer, Reichsabgabenordnung, § 84 Tz. 336; Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, 9. Aufl., § 84 Anm. 6; Barske-Wetter, Leitsatz-Kartei zur Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, Reichsabgabenordnung, I 1 § 84 L. 2, Urteil 2). Auch das Finanzgericht (FG) München ist ihr in dem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1965 S. 34 veröffentlichten Urteil nicht gefolgt. Der Senat gibt nach erneuter Prüfung seine frühere Rechtsansicht auf.

§ 84 AO stellt eine - zur Zeit übrigens nur noch für das Verwaltungsverfahren, nicht auch für das finanzgerichtliche Verfahren geltende - Sonderregelung dar, die der Tatsache Rechnung trägt, daß durch einen Auslandsaufenthalt der Verkehr des Steuerpflichtigen mit dem FA erschwert ist. Das ist nicht der Fall, wenn ohnehin ein Bevollmächtigter (§§ 108 ff. AO) oder Betriebsleiter (§ 190 AO) im Inland vorhanden sind, die die Rechte und Pflichten des Steuerpflichtigen im Verkehr mit dem FA mit verbindlicher Wirkung für den Steuerpflichtigen wahrnehmen, also auch Rechtsmittel einlegen können. Mit Recht wird deshalb allgemein auch gefolgert, daß das Vorhandensein eines bloßen Zustellungsvertreters (§ 89 AO), der diese Befugnisse nicht hat, die Anwendbarkeit des § 84 Satz 1 AO nicht ausschließt (vgl. Entscheidungen des Reichsfinanzhofs - RFH - VI A 425/30 vom 7. April 1930, Steuer und Wirtschaft - StuW 1930 Sp. 1033; VI A 920/31 vom 10. Juni 1931 StuW 1932 Sp. 681; Barke, Der Betrieb 1959 S. 66 Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 8. Aufl., § 84 Anm. 2; Mattern-Messmer, a. a. O.; Tipke-Kruse, a. a. O.; Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O.; Becker-Riewald-Koch, a. a. O.).

Wird nach § 84 Satz 2 AO bei Vorhandensein eines Bevollmächtigten oder Betriebsleiters eine Fristverlängerung mangels eines Bedürfnisses versagt, so erfolgt die Versagung bei Fehlen eines derartigen Bevollmächtigten offensichtlich aus dem Gesichtspunkt, daß bei ordnungsmäßigem Vorgehen des Steuerpflichtigen ein Bedürfnis für die Fristverlängerung nicht gegeben gewesen wäre. Dabei ist auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen nicht abgestellt.

Aus § 84 Satz 2 AO ist indessen nicht herauszulesen, es müsse auch für den Fall, daß nach steuerrechtlichen Vorschriften die Bestellung eines Bevollmächtigten oder Betriebsleiters nicht erfolgen muß, nur deshalb ein solcher bestellt werden, weil möglicherweise während eines Auslandsaufenthalts Zustellungen erfolgen können. Damit würde der Sinn des § 84 Satz 1 AO, bei einem Auslandsaufenthalt eine Erleichterung zu schaffen, nicht erreicht. Der Stpfl. müßte eigens eine nach den Steuergesetzen sonst nicht benötigte Person suchen, die er für so vertrauenswürdig und sachkundig hält, daß er ihr Vollmacht zu solch weitreichenden Handlungen geben könnte, wie es die Einlegung eines Rechtsmittels ist. Einer ungebührlichen Hinausschiebung der Rechtskraft von Verfügungen beugt ohnehin § 84 Satz 1 AO mit der Begrenzung der Fristen vor. Erst nach Ablauf dieser - verlängerten - Rechtsmittelfrist ist dann die Frage zu entscheiden, ob der Stpfl. die verlängerte Frist schuldhaft versäumte und ihm daher Nachsicht nicht gewährt werden kann.

Im vorliegenden Falle kommt es demnach darauf an, ob sich der Stpfl. am Tage des Beginns der Rechtsmittelfrist, also am 5. August 1960 (§ 17 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG -) im Ausland befand. Wäre das der Fall gewesen, so wäre der am 12. September 1960 eingelegte Einspruch noch innerhalb der Sechswochenfrist des § 84 Satz 1 AO, also rechtzeitig eingelegt worden. Die insoweit erforderlichen Tatsachenfeststellungen hat die Vorinstanz noch zu treffen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412241

BStBl III 1967, 126

BFHE 1967, 266

BFHE 87, 266

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Steuer Office Excellence enthalten. Sie wollen mehr?