Leitsatz (amtlich)
Der Inanspruchnahme im Wege der Haftung wegen nicht abgeführter Lohnabzugsbeträge kann nicht entgegengehalten werden, daß das FA über einen längeren Zeitraum von seinen Befugnissen zur Überwachung des Lohnsteuerabzugs und zur Beitreibung der Lohnabzugsbeträge keinen Gebrauch gemacht hat.
Normenkette
AO § 97 Abs. 2, §§ 103, 105 Abs. 1, § 109; EStG § 38 Abs. 1, 4, § 41 Abs. 1; BGB § 254
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in den Streitjahren 1972 und 1973 Alleingesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH sowie Kommanditist einer KG, deren Geschäfte die GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin führte. Seit Januar 1972 hat die KG Lohnsteueranmeldungen nicht abgegeben. Seit dieser Zeit hat sie auch die einbehaltenen Abzugsbeträge (Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer, Ergänzungsabgabe) nicht abgeführt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hat die Abgabe der Lohnsteueranmeldungen sowie die Abführung der Abzugsbeträge nicht angemahnt. Erst nachdem die KG Vergleichsantrag gestellt hatte, übersandte sie dem FA auf dessen Anforderung Mitte August 1973 die Lohnsteueranmeldungen für Februar 1972 bis Juli 1973. Daraus ergaben sich Rückstände von 507 686,75 DM Lohnsteuer. Über das Vermögen von GmbH und KG wurde im September 1973 das Konkursverfahren eröffnet. Daraufhin nahm das FA den Kläger wegen der ausstehenden Abzugsbeträge in Anspruch.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab.
Mit seiner Revision rügt der Kläger mangelnde Sachaufklärung und die Verletzung materiellen Rechts. Zur Begründung trägt er vor:
Die Annahme des FG, der Kläger habe die Lohnsteuerrückstände gekannt und seine Pflicht zur Abführung der Abzugsbeträge vorsätzlich verletzt, widerspreche dem Inhalt der Akten und sei unrichtig.
Selbst wenn im Streitfall eine schuldhafte Pflichtverletzung vorliegen sollte, komme seine Haftbarmachung nicht in Betracht. Das Mitverschulden des FA schließe seine Inanspruchnahme aus.
Seit dem 1. Januar 1972 habe die KG Lohnsteueranmeldungen nicht mehr abgegeben und Lohnsteuer nicht abgeführt. Jedenfalls seit Februar 1972 sei das FA seinen Verpflichtungen aus den §§ 45 und 50 ff. der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) nicht nachgekommen. Hierin liege ein schwerwiegendes Mitverschulden, das der Heranziehung des Klägers im Wege der Lohnsteuerhaftung entgegenstehe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Gemäß § 41 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) war die KG als Arbeitgeberin verpflichtet, die nach § 38 Abs. 1 EStG von den Einkünften ihrer Arbeitnehmer aus nichtselbständiger Arbeit durch Abzug vom Arbeitslohn zu erhebende Einkommensteuer (Lohnsteuer) einzubehalten und an das FA abzuführen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung, für die die KG gemäß § 38 Abs. 4 Satz 2 EStG haftete, oblag gemäß § 97 Abs. 2 i. V. m. § 105 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) der GmbH als alleiniger Geschäftsführerin der KG (Urteil des Senats vom 21. Januar 1972 VI R 187/68, BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364). Da es sich bei der Geschäftsführerin um eine juristische Person handelte, hatte deren Pflichten der Kläger als deren Geschäftsführer gemäß § 103 Satz 1 AO i. V. m. § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) zu erfüllen. Dieser Verpflichtung ist der Kläger nach den insoweit nicht angegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) nicht nachgekommen. Gemäß § 109 Abs. 1 AO haftet er persönlich, wenn er die Steueransprüche durch schuldhafte Verletzung der ihm obliegenden Pflichten verkürzt hat (Entscheidung VI R 187/68).
2. Das FG hält es für erwiesen, daß der Kläger von den Lohnsteuerrückständen gewußt und seine Abführungspflicht vorsätzlich nicht erfüllt hat. Der Einwand des Klägers, diese Feststellung der Vorinstanz widerspreche dem sich aus dem Inhalt der Akten ergebenden Sachverhalt, greift nicht durch. Das FG konnte nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu der Feststellung kommen, daß dem Kläger die Lohnsteuerrückstände in voller Höhe bekannt waren. Daß es zwingend zu dieser Feststellung kommen mußte, ist nicht erforderlich.
Der Inanspruchnahme des Klägers steht nicht entgegen, daß das FA im Streitfall an die Abgabe der Lohnsteueranmeldungen und die Abführung der Abzugsbeträge über einen Zeitraum von 1 1/2 Jahren nicht erinnert und Beitreibungsmaßnahmen nicht ergriffen hat. Es entspricht zwar einem in § 254 BGB zum Ausdruck kommenden, auch im Steuerrecht entsprechend anwendbaren allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß ein Schadenersatzanspruch gemindert sein oder ganz entfallen kann, wenn der Gläubiger für den Eintritt des Schadens mitverantwortlich ist. Im Hinblick auf diesen Grundsatz hat der Bundesfinanzhof (BFH) im Urteil vom 26. Januar 1961 IV 140/60 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1961 S. 109, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 109, Rechtsspruch 14) ausgesprochen, daß die persönliche Inanspruchnahme eines Nachlaßpflegers nach den §§ 109, 118 AO wegen schuldhafter Verkürzung der auf dem Nachlaß lastenden Steuerschulden einen Ermessensfehlgebrauch darstellt, wenn das Verschulden des Nachlaßpflegers gering ist und der Steuerausfall ebenso durch das Verhalten des FA verursacht wurde. Entgegen der Auffassung des Klägers trifft jedoch das FA im Streitfall an der Nichtabführung der Abzugsbeträge kein mitwirkendes Verschulden.
Nach § 201 AO hat das FA zwar darüber zu wachen, daß Steuern nicht verkürzt werden. Zu diesem Zweck sind dem FA beim Lohnsteuerabzug besondere Befugnisse (§§ 44, 45 LStDV) eingeräumt. So hat es den rechtzeitigen Eingang der Lohnsteueranmeldungen zu überwachen (§ 44 Abs. 3 LStDV). Bei nicht rechtzeitigem Eingang der Lohnsteueranmeldungen hat es die Befugnis, deren Abgabe nach § 202 AO zu erzwingen. Treten bei der Abführung von Abzugsbeträgen Unregelmäßigkeiten auf, so hat das FA den Arbeitgeber u. a. an die Abführung der Lohnsteuer zu erinnern, gegebenenfalls den säumigen Betrieb nach den §§ 50 ff. LStDV außer der Reihe zu prüfen und die Abführung der einbehaltenen Lohnsteuer nach den §§ 325 ff. AO zu erzwingen (§ 45 Satz 1 LStDV). Bei diesen dem FA eingeräumten Befugnissen handelt es sich indes nicht um Pflichten, die ihm im Verhältnis zu dem jeweiligen Arbeitgeber obliegen. Die besonderen Aufsichts- und Kontrollrechte des FA beim Lohnsteuerabzug sollen diesem vielmehr im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Besteuerung Maßnahmen ermöglichen, die die ordnungsgemäße Durchführung des Steuerabzugs vom Arbeitslohn sicherstellen. Dem einzelnen Arbeitgeber gewähren diese Befugnisse des FA jedoch keinen Anspruch darauf, daß die Behörde von ihnen auch tatsächlich Gebrauch macht. Deshalb kann sich der einzelne Arbeitgeber im Falle seiner Inanspruchnahme wegen nichtabgeführter Abzugsbeträge nicht darauf berufen, das FA habe die ihm gemäß §§ 44, 45, 50 ff. LStDV zustehenden Rechte nicht wahrgenommen. Insoweit entspricht die Rechtslage derjenigen im bürgerlichen Recht. Auch dort kann ein Schuldner seiner Inanspruchnahme wegen einer Forderung, sofern nicht z. B. Verjährung eingetreten ist, regelmäßig nicht entgegenhalten, der Gläubiger hätte seine Forderung schon früher geltend machen und die Zwangsvollstrekkung betreiben müssen.
Zu Unrecht beruft sich der Kläger zur Begründung der gegenteiligen Auffassung auf das BFH-Urteil IV 140/60. Bei dem jener Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt waren dem FA - wie den übrigen Gläubigern auch - durch das Aufgebot (§§ 946 ff. der Zivilprozeßordnung) besondere Meldepflichten auferlegt, bei deren Verletzung Rechtsnachteile angedroht waren. Ein vergleichbarer Sachverhalt liegt bei der Nichtwahrnahme bloßer Befugnisse des FA im Lohnsteuerabzugsverfahren nicht vor.
Bei dieser Rechtslage brauchte das FG nicht weiter aufzuklären, aus welchen Gründen im einzelnen die Mahnungen und Beitreibungsmaßnahmen des FA unterblieben waren.
Fundstellen
Haufe-Index 72877 |
BStBl II 1978, 683 |
BFHE 1979, 508 |