Leitsatz (amtlich)
Veräußert ein freiberuflich Tätiger seine inländische Praxis und wird als Entgelt eine Beteiligung an den künftigen Honorareinnahmen des Erwerbers vereinbart, sind die nachträglich erzielten Einkünfte aus der Praxisveräußerung auch dann in der Bundesrepublik Deutschland steuerpflichtig, wenn der Veräußerer inzwischen seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat.
Normenkette
EStG §§ 18, 49 Abs. 1 Nr. 3; DBA CHE 1959 Art. 4 Abs. 1, Art. 7
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war bis 1958 in B als Rechtsbeistand tätig. Mit Vertrag vom ... 1958 übertrug er seine Praxis auf S und verlegte ab 1. März 1959 seinen Wohnsitz in die Schweiz.
In dem Übergabevertrag wurde vereinbart, daß S in alle Verträge eintritt, welche der Kläger über die Bearbeitung von Rechtsangelegenheiten mit den jeweiligen Auftraggebern abgeschlossen hat. S verpflichtete sich zur ordnungsmäßigen Fortführung der Mandate. Für die bisherige Tätigkeit in den übernommenen Mandaten sollte der Kläger von den an S zu zahlenden Honoraren und sonstigen Vergütungen jeder Art künftig bestimmte Anteile erhalten.
Dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) wurde bekannt, daß der Kläger nach seiner Wohnsitzverlegung in die Schweiz bis 1969 verhältnismäßig hohe Beträge von S erhalten hatte. Das FA veranlagte ihn - für die Zeit nach Eintritt der beschränkten Steuerpflicht und unter Änderung eines schon für die Zeit vom 1. März bis 31. Dezember 1959 im Jahre 1962 ergangenen Steuerbescheids - mit Einkünften aus selbständiger Arbeit (freiberuflicher Tätigkeit).
Die Einsprüche des Klägers, mit denen er die Aufhebung dieser Bescheide begehrte und eine Steuerpflicht hinsichtlich der genannten Einkünfte in der Bundesrepublik Deutschland bestritt sowie eine Bestätigung über die Besteuerung dieser Einkünfte in der Schweiz vorlegte, hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) wies seine Klage ab.
Das FG führte aus, der Kläger sei mit den streitigen Einkünften beschränkt steuerpflichtig. Hierzu zählten auch nachträgliche Einkünfte aus selbständiger Arbeit, wie sich aus § 49 Abs. 1 Nr. 3 und aus § 24 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebe. Bei den Zahlungen des S an den Kläger habe es sich nicht um Kaufpreiszahlungen, sondern um die Weiterzahlung der vom Kläger schon verdienten Honoraranteile gehandelt. Die inländische Steuerpflicht dieser Einkünfte werde durch das Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 15. Juli 1931 i. d. F. des Zusatzprotokolls vom 20. März 1959 mit dazugehöriger Neufassung des Schlußprotokolls - DBA-Schweiz 1959 - (BGBl II, 1253, BStBl I, 1006) nicht ausgeschlossen. Nach Art. 4 dieses Abkommens liege die Ausübung eines freien Berufs in einem der beiden Staaten zwar nur vor, wenn die Berufstätigkeit in diesem Staate einen festen Mittelpunkt habe. Der Kläger habe aber sowohl eine persönliche Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt als auch hier einen festen Mittelpunkt seiner Berufstätigkeit gehabt. Damit seien beide Anknüpfungspunkte für die deutsche Steuerpflicht erfüllt. Unzutreffend sei die Ansicht des Klägers, Art. 4 DBA-Schweiz 1959 setze eine gegenwärtige Tätigkeit voraus.
Aus dem Schlußprotokoll zu Art. 4 DBA-Schweiz 1959 ergebe sich nichts anderes. Dort werde nur die Besteuerung von Versorgungsbezügen behandelt.
Gegen das Urteil des FG wendet sich der Kläger mit der Revision; er rügt Verfahrensmängel und unrichtige Anwendung materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Das FG ist zu Recht in der Weise vorgegangen, daß es zunächst die Steuerpflicht der Einkünfte nach dem maßgeblichen inländischen Steuergesetz - dem Einkommensteuergesetz - geprüft hat und sodann erst auf das hier in Betracht kommende Doppelbesteuerungsabkommen eingegangen ist. Eine bestimmte Reihenfolge der Prüfung ist bei Steuerfällen, die mehrere Staaten berühren, zwar nicht vorgeschrieben. In der Regel ist indes zuerst die Frage der inländischen Steuerpflicht zu prüfen. Stellt sich nämlich heraus, daß die zu beurteilenden Einkünfte in dem streitigen Veranlagungszeitraum schon nach inländischem Steuerrecht nicht der Steuerpflicht unterliegen, braucht auf die Anwendung eines Doppelbesteuerungsabkommens nicht mehr eingegangen zu werden (Urteil des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 3. Oktober 1935 III A 267/34, RStBl 1935, 1399).
2. Das FG hat bei Prüfung der inländischen Steuerpflicht die hier in Rede stehenden Einkünfte zutreffend als solche angesehen, die nach § 1 Abs. 2 i. V. m. § 49 Abs. 1 EStG der beschränkten Steuerpflicht unterliegen. Der Kläger übte als Rechtsbeistand eine freiberufliche Tätigkeit aus (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Dem FG ist zuzustimmen, daß nach dem Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG bei einem Freiberufler nicht nur gegenwärtige, sondern auch nachträgliche Einkünfte, die aus einer in der Vergangenheit im Inland ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit herrühren, besteuert werden müssen. Um derartige nachträgliche Einkünfte handelt es sich im Streitfall.
Der vom Kläger mit S abgeschlossene Vertrag ist als eine entgeltliche Praxisveräußerung anzusehen. Der erkennende Senat kann sich der Auffassung des FG nicht anschließen, daß es sich - wirtschaftlich gesehen - nur darum gehandelt habe, S solle die noch vom Kläger verdienten Honoraranteile an diesen weiterleiten. Aus dem gesamten Inhalt des mit S geschlossenen Vertrags - vom Kläger als Hauptvertrag bezeichnet - ergibt sich, daß die Vertragschließenden einen Praxisübergabevertrag vereinbart haben und daß die darin genannten, an den Kläger zu zahlenden Bezüge nur eine besondere Form des Entgelts für die Praxisübernahme darstellten. In das Entgelt sind auch noch Zahlungen einzubeziehen, die S aufgrund eines Zusatzvertrags - unterstellt, der Zusatzvertrag ist mit dem Inhalt abgeschlossen worden, wie er sich aus der vom Kläger als Anlage zu seiner Revisionsbegründung vorgelegten Ablichtung ergibt - zu erbringen hatte. Dieser Zusatzvertrag erweitert das für die übertragene Praxis zu zahlende Entgelt auf Honoraranteile, die S von Mandanten erhält, die ihm zwar erst nach der Praxisübernahme ein Mandat erteilt haben, aber aus dem bisherigen Mandanten- oder Bekanntenkreis des Klägers stammen. Auch diese Zahlungen aufgrund eines Vertrages, der eng mit dem Hauptvertrag verknüpft ist, stellen eine besondere Modalität der Berechnung des für die Übernahme der Praxis zu zahlenden Entgelts dar. Die auf Verletzung von materiellem und Verfahrensrecht gestützte Rüge des Klägers, das FG habe unterschiedslos alle Honorareingänge als Einkünfte aus früherer Berufstätigkeit behandelt, erweist sich somit im Ergebnis als unbegründet.
Da als Entgelt für die Praxisübernahme kein fester Betrag, sondern eine Beteiligung an künftigen Honorareinnahmen des S vereinbart worden ist, hat hinsichtlich der Höhe und des Zeitpunkts des Eingangs des Entgelts noch Ungewißheit bestanden. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses war somit die Forderung des Klägers auf das Entgelt für die an S übertragene Praxis mit einem erheblichen Wagnis behaftet. Dieser Umstand führt dazu, einen in der Kaufpreisforderung enthaltenen Veräußerungsgewinn nicht schon im Zeitpunkt der Veräußerung gemäß § 18 Abs. 3 i. V. m. § 4 Abs. 1 EStG - hier im nicht streitbefangenen Veranlagungszeitraum 1958 - als verwirklicht anzusehen. Die Zahlungseingänge rechnen damit zu den laufenden Bezügen, die jeweils im Jahr ihres Zuflusses (§ 11 Abs. 1 EStG) als nachträgliche freiberufliche Einkünfte (§ 18 Abs. 1 Nr. 1, § 24 Nr. 2 EStG) zu versteuern sind (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12. Juni 1968 IV 254/62, BFHE 92, 561, BStBl II 1968, 653, und vom 30. Januar 1974 IV R 80/70, BFHE 111, 477, BStBl II 1974, 452). Auf die weitere Voraussetzung, daß die Steuerpflicht der laufenden Bezüge erst dann einsetzt, wenn sie einschließlich der bisherigen Zahlungen den Wert des übertragenen Kapitalkontos überschreiten (vgl. Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 11. Aufl., § 16, Anm. 38 mit Rechtsprechungsnachweis), braucht hier nicht eingegangen zu werden, weil der Kläger nur seinen nicht bilanzierten Mandantenstamm auf seinen Praxisnachfolger S übertragen hat. Die Beträge, die dem Kläger nach seiner Wohnsitzverlegung in die Schweiz von S zugeflossen sind, unterliegen daher nach § 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG der beschränkten Steuerpflicht.
3. Die inländische Besteuerung dieser laufenden Bezüge unterliegt aber außerdem noch der Beurteilung nach dem DBA-Schweiz 1959. Nach Mitteilung des FA ist ein Verständigungsverfahren wegen vermuteter Doppelbesteuerung des Klägers noch nicht abgeschlossen. Das hindert jedoch den erkennenden Senat nicht daran, über den zugleich im Revisionsverfahren anhängigen Streitfall zu entscheiden (BFH-Urteil vom 1. Februar 1967 I 220/64, BFHE 88, 545, BStBl III 1967, 495).
Das DBA-Schweiz 1959 schließt eine Besteuerung durch die Bundesrepublik Deutschland nicht aus.
Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1959 werden Einkünfte aus Arbeit, einschließlich der Einkünfte aus freien Berufen, soweit nicht in anderen Bestimmungen etwas Abweichendes bestimmt ist, in dem Staate besteuert, in dessen Gebiet die persönliche Tätigkeit ausgeübt wird, aus der die Einkünfte herrühren. Für die Besteuerung dieser Einkünfte gilt somit das Ursprungsprinzip.
Das Ursprungsprinzip erleidet gewisse Ausnahmen, die im Abkommen und in dem Schlußprotokoll näher aufgeführt sind. Nicht nach dem Ursprungsprinzip werden besteuert: "Ruhegehälter, Witwen- und Waisenpensionen und andere Bezüge oder geldwerte Vorteile für frühere Dienstleistung" (Schlußprotokoll zu Art. 4). Hierunter werden aber entgegen der Auffassung des Klägers nur Zahlungen mit Versorgungscharakter verstanden. So sind von der Rechtsprechung Tantiemenachzahlungen an einen in Ruhestand getretenen Arbeitnehmer, Abfindungen an ausgeschiedene Arbeitnehmer, Zahlungen des früheren Arbeitgebers für eine nach Beendigung des beiderseitigen Verhältnisses vom Arbeitnehmer erfüllte Karenzpflicht als Bezüge für eine aktive Tätigkeit angesehen worden, deren Besteuerung sich nach dem Ursprungsprinzip des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1959 und nicht nach der Ausnahmeregelung des Schlußprotokolls richtet (BFH-Urteile vom 27. Januar 1972 I R 37/70, BFHE 105, 8, BStBl II 1972, 459; vom 18. Juli 1973 I R 52/69, BFHE 110, 43, BStBl II 1973, 757, und vom 9. November 1977 I R 254/75, BFHE 124, 35, BStBl II 1978, 195). Besteht wie im Streitfall das Entgelt für die Übergabe der Praxis eines Freiberuflers in einem Anteil an künftigen Honorareinnahmen des Praxiserwerbers, handelt es sich nicht um Zahlungen mit Versorgungscharakter.
Die Veräußerung der Praxis an S stellte den letzten Akt der freiberuflichen Tätigkeit des Klägers dar. Die Zahlungen, die der Kläger aufgrund des Veräußerungsvertrags von S erhalten hat, sind daher mit seiner freiberuflichen Tätigkeit eng verknüpft. Wie sich aus der Verwendung des Wortes "herrühren" in Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz 1959 ergibt, genügt ein ursächlicher Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit (vgl. die Entscheidung I R 254/75). Die persönliche Tätigkeit, aus der die Einkünfte i. S. der genannten Bestimmung fließen, hat der Kläger in Berlin (West), also im Inland ausgeübt. Nach Satz 2 der Vorschrift liegt die Ausübung eines freien Berufs in einem der Vertragsstaaten nur dann vor, wenn die Berufstätigkeit in dem betreffenden Staat "einen festen Mittelpunkt" hat.
Art. 4 Abs. 1 Satz 2 DBA-Schweiz 1959 ist der in Art. 3 des Abkommens geregelten Besteuerung gewerblicher Betriebe nachgebildet. Die Begriffe "Betriebstätte" und "fester Mittelpunkt einer Berufstätigkeit" ähneln sich in vieler Hinsicht, so daß unter dem zuletzt genannten Begriff gewissermaßen die Betriebstätte eines freiberuflich Tätigen zu verstehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 22. März 1966 I 65/63, BFHE 85, 456, BStBl III 1966, 463). Hieraus folgt, daß sich, wie in der Entscheidung I 65/63 ebenfalls ausgeführt ist, ein "fester Mittelpunkt" nur aus einer durch die jeweilige Berufstätigkeit geprägten Beziehung zum Inland herleiten läßt. Es muß sich jedenfalls um eine Einrichtung handeln, die dazu bestimmt ist, der jeweiligen Berufstätigkeit zu dienen (vgl. hierzu ferner BFH-Urteil vom 28. Februar 1973 I R 145/70, BFHE 109, 224, BStBl II 1973, 660). Diese Einrichtung i. S. eines festen Mittelpunktes hatte der Kläger bis Oktober 1958 in Berlin (West).
Durch die Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz am 1. März 1959 wird der Zusammenhang der streitigen Einkünfte mit seiner Berliner Einrichtung i. S. eines festen Mittelpunktes seiner Berufstätigkeit nicht gelöst. Es handelt sich, wie schon ausgeführt, um nachträgliche Einkünfte, für deren Entstehung in diesem festen Mittelpunkt die entscheidenden Ursachen gesetzt worden sind. Es kommt dann nicht darauf an, ob im Zeitpunkt des tatsächlichen Zufließens dieser Einkünfte der feste Mittelpunkt noch vorhanden ist. Jedenfalls wird in Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz 1959 nicht auf den Zeitpunkt des Zufließens, sondern allein auf das Herrühren der Einkünfte abgestellt. Daß diese Auslegung dem Abkommen gerecht wird, ergibt sich auch daraus, daß die schweizerische Steuerverwaltung in Verständigungsverfahren, die den gleichgelagerten Fall nachträglicher Einkünfte aus Gewerbebetrieb betrafen, der Besteuerung durch die Bundesrepublik Deutschland als dem Staat, dem das Besteuerungsrecht für diese nachträglichen Einkünfte zusteht, zugestimmt hat (Locher, Das schweizerisch-deutsche Doppelbesteuerungsabkommen, Bd. 3, B § 9, I, Nr. 11, 12).
Da nach Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz 1959 die streitigen Einkünfte des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland steuerpflichtig sind, greift Art. 7 dieses Abkommens nicht ein, der für die nicht in den vorhergehenden Artikeln bezeichneten Einkünfte das Besteuerungsrecht dem Wohnsitzstaat zuweist.
Fundstellen
Haufe-Index 72965 |
BStBl II 1979, 64 |
BFHE 1979, 209 |