Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung der Nichtaktivierung von Forderungen aus Lieferungen, die kurz vor dem oder am Bilanzstichtag ausgeführt wurden, ist für jeden Bilanzstichtag die Feststellung einer selbständig wirkenden neuen Tatsache, nicht einer und derselben Tatsache mit "vorverlegter Folgewirkung".
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2
Tatbestand
Streitig ist die Wiederaufrollung eines Steuerfalles gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn die neu bekanntgewordene Tatsache (die Nichtaktivierung von Forderungen aus Lieferungen, die erst wenige Tage vor dem Bilanzstichtag ausgeführt worden waren) bei einer früheren Betriebsprüfung nicht beanstandet worden war.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte schließt ihr Geschäftsjahr auf den 31. März eines jeden Jahres ab. Eine bei ihr im Jahre 1964 durchgeführte Betriebsprüfung führte für das Wirtschaftsjahr 1958/59 zur Nachaktivierung am Bilanzstichtag noch nicht abgerechneter Lieferungen in Höhe von 9 959 DM; die Lieferung war noch im März 1959, die Rechnungsstellung erst im April 1959 erfolgt. Der Beklagte und Revisionskläger (das FA) sah hierin eine neue Tatsache, gewichtig genug, die einheitliche Gewinnfeststellung für das Wirtschaftsjahr 1958/59 insgesamt neu aufzurollen.
Die wegen des berichtigenden Bescheides vom 18. November 1964 gemäß § 45 FGO unmittelbar zum FG erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG führte aus:
Die Wiederaufrollung der einheitlichen Gewinnfeststellung sei trotz Vorliegens der formellen Voraussetzungen nach Treu und Glauben nicht zulässig. Für die der Klägerin zustehenden Forderungen aus den erst kurz vor dem Bilanzstichtag durchgeführten Lieferungen sei allerdings die Aktivierungspflicht gegeben, da für die Bilanzierung von Forderungen nicht die Ausstellung der Rechnung, sondern allein die Tatsache entscheidend sei, daß der Steuerpflichtige die von ihm vertraglich zu erbringende Leistung erfüllt habe (Urteil des BFH IV 335/59 S vom 17. Januar 1963, BFH 76, 702, BStBl III 1963, 257, mit weiterer Rechtsprechung). Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, daß die von ihr gehandhabte Art der Verbuchung bei früheren Betriebsprüfungen nicht beanstandet worden sei. Denn entscheidend sei nicht die Kenntnis des Betriebsprüfers, sondern die Kenntnis der für die Veranlagung zuständigen Beamten des FA (BFH-Urteil VI 317/63 U vom 29. Januar 1965, BFH 81, 496, BStBl III 1965, 179). Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, daß das Verfahren der Klägerin, die Lieferungen bei wöchentlicher Rechnungsstellung wöchentlich zu verbuchen, dem FA auf andere Weise bekanntgeworden oder infolge mangelnder Sachaufklärung unbekannt geblieben sei. Dabei könne als richtig unterstellt werden, daß die wöchentliche Verbuchung der Warenausgänge auch schon bei der Betriebsprüfung im Jahre 1957 Gegenstand der Erörterungen mit dem Prüfer gewesen sei.
Während die Berichtigung einer Veranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO bei Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Bewetsmittel, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen, nicht im Ermessen des FA liege (BFH-Urteil IV 208/58 vom 17. November 1960, StRK, Einkommensteuergesetz § 4, Rechtsspruch 374), gelte dies für den Umfang einer Betriebsprüfung grundsätzlich nicht (BFH-Urteil V 228/64 vom 1. Juni 1967, BFH 89, 231, BStBl III 1967, 736). Im Streitfall hätte das FA bei pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens die im Bescheid vom 2. Januar 1961 getroffene einheitliche Gewinnfeststellung nicht wieder aufrollen dürfen. Zwar habe das FA den Prüfungszeitraum so bestimmen können, daß auch die Grundstücksentnahmen nochmals steuerlich hätten untersucht werden können. Der zunächst bestimmte Prüfungszeitraum hätte jedoch nach Treu und Glauben mindestens auf das Wirtschaftsjahr 1957/58 ausgedehnt werden müssen, nachdem als neue Tatsache nur die Nichtaktivierung kurz vor dem Bilanzstichttag entstandener Forderungen festgestellt worden war. Die Einlassung der Klägerin hätte die Vermutung nahegelegt, daß auch zum 31. März 1958 nichtfakturierte und damit nicht bilanzierte Warenforderungen bestanden hätten. Diese seien mit unstreitig über 10 000 DM um 600 DM höher gewesen als die nichtbilanzierten Warenforderungen zum 31. März 1959. Der Forderungsaktivierung zum 31. März 1959 habe somit eine tatsächliche Minderung des Forderungsbestands im Verhältnis zum Vorjahresstand gegenüber gestanden. Bei Ausdehnung der Betriebsprüfung auch auf das Vorjahr hätte sich im Streitjahr eine Gewinnminderung ergeben, somit eine neue Tatsache zuungunsten der Klägerin nicht vorgelegen.
Wenn das FA unter diesen Umständen von einer Einbeziehung des Vorjahres in die Prüfung abgesehen habe, so erscheine die Wahl des geprüften Zeitraums im hier vorliegenden besonderen Ausnahmefall als willkürlich. Das FA habe daher aus den Prüfungsfeststellungen die Folgerungen, die den vorliegenden Rechtsstreit ausgelöst hätten, nach Treu und Glauben nicht ziehen dürfen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Revision des FA mit dem Antrag, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage kostenpflichtig abzuweisen. Es führt aus:
Auch bei Einbeziehung des Wirtschaftsjahrs 1957/58 in den Prüfungszeitraum hätte die Feststellung der Nichtaktivierung der erst kurz vor dem Bilanzstichtag entstandenen Forderungen als eine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zur Wiederaufrollung des im Bescheid vom 2. Januar 1961 einheitlich festgestellten Gewinns der Klägerin geführt. Das FG sei auch für diesen Fall nur durch eine Saldierung der aus der neuen Tatsache für die Klägerin folgenden Nachteile (Nachaktivierung zum 31. März 1959) mit den aus ihr folgenden hypothetischen Vorteilen (Auswirkung der Nachaktivierung zum 31. März 1958) gelangt, die indes unzulässig sei (BFH-Urteil I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BFH 76, 282, BStBl III 1963, 100). Denn auch bei Feststellung bisher nichtbilanzierter Forderungen zum 31. März 1958 mit 10 161 DM wäre lediglich die Feststellung zweier neuer Tatsachen gegeben gewesen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
1. Wie der BFH bereits wiederholt ausgeführt hat (vgl. BFH-Urteil VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, BFH 80, 314, BStBl III 1964, 587), kann die Wiederaufrollung eines Steuerfalles nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nach Treu und Glauben unzulässig sein, soweit das FA durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, daß der Steuerpflichtige eine Nachforderung nicht zu erwarten habe, oder soweit es ihm eine Zusage gegeben hat, die der Steuerpflichtige zur Grundlage seiner wirtschaftlichen Dispositionen gemacht hat. Beide Voraussetzungen sind im vorliegenden Streitfall nicht gegeben.
Dagegen führte, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, die Feststellung der Tatsache, daß die Klägerin Forderungen, die aus Lieferungen wenige Tage vor dem Bilanzstichtag resultierten, in ihrer Bilanz nicht erfaßt hatte, als eine dem FA neu bekanntgewordene Tatsache zu einer Erhöhung des laufenden Gewinns um 9 959 DM, die ihrem Gewicht nach die Wiederaufrollung der gesamten Gewinnfeststellung für das Wirtschaftsjahr 1958/59 mit einem ursprünglichen Gewinn von 110 281 DM rechtfertigt. Denn bei der einheitlichen Gewinnfeststellung kommt es in der Regel allein auf die von der neuen Tatsache abhängige Erhöhung des Gesamtgewinns an (BFH-Urteil I 55/61 U vom 13. Februar 1962, BFH 75, 52, BStBl III 1962, 287).
2. Unterstellt man, daß das FA das Wirtschaftsjahr 1957/58 in den Prüfungszeitraum einbezogen und für dieses Wirtschaftsjahr die gleiche Feststellung getroffen hätte, so würde dies zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis geführt haben.
a) Eine und dieselbe anläßlich einer Betriebsprüfung bekanntgewordene neue Tatsache kann zwar für den Steuerpflichtigen gleichzeitig günstige und ungünstige Folgen haben (BFH-Urteil VI 220/60 U vom 6. Oktober 1961, BFH 74, 106, BStBl III 1962, 41: so z. B. durch die Ermäßigung der Betriebsausgaben und die Erhöhung der Sonderausgaben; BFH-Urteil I 95 und 110/60 S, a. a. O.: so z. B. durch Aktivierung von Aufwendungen und AfA auf den aktivierten Gegenstand); dies führt indes nur zu einer höheren oder zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung und zur Berücksichtigung des Saldos der auf Grund der neuen Tatsache festgestellten Mehrsteuern bzw. des Mehrgewinns bei Prüfung der Frage ihrer Gewichtigkeit hinsichtlich der Wiederaufrollung des Steuerfalles.
b) Werden durch eine Betriebsprüfung mehrere neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt, deren eine nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO eine höhere Steuerfestsetzung und deren andere nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO eine niedrigere Steuerfestsetzung rechtfertigen, so steht der niedrigeren Steuerfestsetzung die Grenze des § 232 Abs. 1 AO nicht entgegen, kann der Steuerfall sowohl nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO wie auch nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO voll wieder aufgerollt werden (BFH-Urteil V 66/59 U vom 22. Februar 1962, BFH 74, 616, BStBl III 1962, 228). Etwas anderes gilt nur dann, wenn neue Tatsachen, die eine Wiederaufrollung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO rechtfertigen könnten, nicht festgestellt worden sind (BFH-Urteil V 36/64 vom 5. Oktober 1967, BFH 90, 388 StRK, Reichsabgabenordnung § 22 Abs. 1 Ziff. 1, Rechtsspruch 19). Eine Saldierung der zahlenmäßigen Auswirkung der neuen Tatsachen findet nicht statt. Vielmehr sind beide Gruppen von Tatsachen auf ihre Gewichtigkeit für eine volle Wiederaufrollung des Steuerfalles zu prüfen (BFH-Urteil V 197/60 U vom 6. Dezember 1962, BFH 76, 457, BStBl III 1963, 166).
c) Die Feststellung einer neuen Tatsache kann aber auch Folgewirkungen äußern, gleichgültig, ob der von der Folgewirkung betroffene - spätere - Veranlagungszeitraum in den Prüfungszeitraum einbezogen war oder nicht (BFH-Urteil IV 440/60 S vom 21. September 1961, BFH 73, 847, BStBl III 1961, 574). Nach dieser Entscheidung verstößt es gegen Treu und Glauben, wenn der Prüfer im Rahmen seiner Prüfungsaufgabe bestimmte, für den Steuerpflichtigen günstige Tatsachen übergeht.
Damit erhebt sich die Frage, ob eine für den Veranlagungszeitraum Y festgestellte neue Tatsache auch Wirkungen auf den ihm vorangegangenen, indes nicht in den Prüfungszeitraum einbezogenen Veranlagungszeitraum X äußert, etwa dergestalt, daß es gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt, wenn das FA im Rahmen seiner Nachprüfung des Steuerfalles die dem Steuerpflichtigen günstige Tatsache der ausgleichenden Wirkung der "vorverlegten Folgewirkung" einer neuen Tatsache dadurch versagt, daß es den früheren Veranlagungszeitraum nicht in den Prüfungszeitraum einbezieht.
3. Damit läuft die Entscheidung des Streitfalles auf die Frage hinaus, ob die Feststellung der Nichterfassung einiger weniger Forderungen aus Lieferungen kurz vor oder am Bilanzstichtag, für mehrere Wirtschaftsjahre bzw. Veranlagungszeiträume festgestellt, die Feststellung einer einzigen neuen Tatsache mit Folgewirkungen für die Folgejahre oder die Feststellung jeweils einer selbständig wirkenden neuen Tatsache für jedes der mehreren Wirtschaftsjahre bzw. für jeden der mehreren Veranlagungszeiträume ist.
Der Senat beantwortet diese Frage im Sinne der zweiten Alternative, da die im vorliegenden Streitfall festgestellte Tatsache für die einzelnen Wirtschaftsjahre selbständig wirkt und nicht nur Folgewirkungen im Sinne der Ausführungen zu c) äußert. Handelt es sich bei den zum 31. März 1959 nachaktivierten Forderungen um andere Forderungen, als sie zum 31. März 1958 nachzuaktivieren gewesen wären, muß der unrichtige Bilanzausweis der Forderungen zum 31. März 1958 und zum 31. März 1959 im Rahmen von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO für sich betrachtet und gewertet werden. Dafür, daß in den vom FA zum 31. März 1959 nachaktivierten Forderungen Beträge enthalten gewesen seien, die bereits zum 31. März 1958 hätten nachaktiviert werden müssen, hat die Klägerin in tatsächlicher Hinsicht vor dem FG nichts vorgetragen.
Fundstellen
Haufe-Index 70240 |
BStBl II 1973, 65 |
BFHE 1973, 256 |