Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsatz der anteiligen Tilgung im Haftungsfall
Leitsatz (NV)
Da eine Inanspruchnahme des Geschäftsführers einer Gesellschaft als Haftungsschuldner für deren Steuerschulden bei der Umsatzsteuer nur insoweit in Betracht kommt, als diese Steuerschulden nicht in etwa dem gleichen Verhältnis wie die anderen Zahlungsverpflichtungen getilgt worden sind (Grundsatz der anteiligen Tilgung der Umsatzsteuer), hat das FA bei Erlaß eines Haftungsbescheids die Haftungsquote festzustellen. Ist dies wegen einer gegenteiligen Auffassung des Finanzamts in der Rechtslage des Umfangs der Haftung unterblieben, so muß das FG die insoweit erforderlichen Ermittlungen grundsätzlich selbst vornehmen.
Normenkette
AO 1977 §§ 69, 34
Tatbestand
Streitig ist, ob das FA die Klägerin als Geschäftsführerin der ehemaligen Firma M GmbH (im folgenden GmbH) für Umsatzsteuerschulden der ehemaligen KG im Wege der Haftung zu Recht in Anspruch genommen hat.
Die Klägerin war, zusammen mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann Geschäftsführerin der GmbH, die ihrerseits Komplementärin der KG gewesen ist. Gegenstand des Unternehmens der KG war die Herstellung, der Handel und Vertrieb von Einrichtungsgegenständen aller Art, sowie alle sonstigen Tätigkeiten, die geeignet sind, den Gegenstand des Unternehmens zu fördern. Mit Wirkung vom 1. August 1972 ging nach Einstellung der werbenden Tätigkeit das gesamte Anlagevermögen der KG auf die Firma MB-GmbH über.
Unter Übernahme der Angaben in der Umsatzsteuervoranmeldung setzte das FA die Umsatzsteuervorauszahlungen der KG für die Monate Januar bis April 1972 auf 2 776,61 DM fest. Für die Monate Mai bis August 1972 schätzte es - mangels Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen - die Besteuerungsgrundlagen. Nach Eingang der nicht unterzeichneten Umsatzsteuerjahreserklärung setzte das FA die Umsatzsteuer 1972 mit nach § 100 Abs. 2 AO vorläufigem Bescheid vom 21. Mai 1974 auf . . . DM fest. Die Endgültigkeitserklärung folgte am 11. Juni 1975.
Für die nach Abzug der geleisteten Vorauszahlungen verbliebene Umsatzsteuerrestschuld in Höhe von . . . DM nahm das FA die Klägerin mit Haftungsbescheid vom Mai 1976 in Form der Einspruchsentscheidung vom Oktober 1978 gemäß §§ 103, 109 AO als Haftungsschuldner in Anspruch. Es führte aus, daß die Klägerin die ihr als Geschäftsführerin auferlegten Pflichten schuldhaft verletzt habe. Da die Umsatzsteuer kein Kostenfaktor mehr sei und deshalb außerhalb jeder betrieblichen Kalkulation bleibe, handele es sich um eine besondere Verbindlichkeit, die von der KG in jedem Fall hätte beglichen werden müssen.
Auf die nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids erhobene Klage hat das FG nach Durchführung einer Beweisaufnahme den Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung ohne Entscheidung in der Sache selbst aufgehoben (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
Es hat ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hätten die Umsatzsteuervorauszahlungen nur entrichtet werden können, wenn Stundung gewährt worden wäre und der KG zusätzliche Mittel von außen (hier der GmbH) zugeführt worden wären. Die verfügbaren Mittel der KG hätten jedenfalls nicht ausgereicht, sämtliche Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Die Haftung der Klägerin als Geschäftsführerin der GmbH komme deshalb nur in dem Umfang in Betracht, in dem die Umsatzsteuerschulden nicht gleichmäßig, d. h. in gleicher Weise getilgt worden seien, wie die anderen Zahlungsverpflichtungen. Da die insoweit erforderliche Aufklärung beim FG einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordern würde, seien - ohne Entscheidung in der Sache selbst - der Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO aufzuheben (Hinweis auf das Urteil des BFH vom 8. Juli 1982 V R 7/76, BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249, 250, a. E.).
Mit der Revision beantragt das FA, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das FG zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen.
Das FA ist der Auffassung, das finanzgerichtliche Urteil hätte nicht ohne Entscheidung in der Sache selbst ergehen dürfen, da ein Verfahrensfehler i. S. von § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht gegeben sei. Im übrigen ist das FA - sinngemäß - der Meinung, die KG wäre trotz ihrer Liquiditätsschwierigkeiten zur Begleichung der Umsatzsteuerschulden in der Lage gewesen, wenn sie um ausreichende Mittelausstattung durch die GmbH bemüht gewesen wäre.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet.
1. Der BFH hat mit Urteil vom 26. April 1984 V R 128/79 (BFH 141, 143, BStBl II 1984, 776) erstmals und im Anschluß daran in den Urteilen vom 26. März 1985 VII R 139/81 (BFHE 143, 488, BStBl II 1985, 539) und vom 12. Juni 1986 VII R 192/83 (BFHE 146, 511, BStBl II 1986, 657) entschieden, daß es für die Annahme einer die Geschäftsführerhaftung begründenden schuldhaften Pflichtverletzung i. S. des - hier noch einschlägigen - § 103 AO (vgl. Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -) darauf ankommt, ob der Gesellschaft als Steuerschuldnerin (§§ 2, 13 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes - UStG -) bei Fälligkeit der Umsatzsteuerschulden hinreichende Mittel für deren Begleichung zur Verfügung gestanden haben und - wenn dies nicht der Fall gewesen ist - ob die vorhandenen Mittel zu einer in etwa gleichmäßigen Befriedigung der anderen Gläubiger und des FA verwendet worden sind (Grundsatz der anteiligen Tilgung der Umsatzsteuer). Das FA ist demgegenüber in der - vor Ergehen dieser Entscheidungen - im Oktober 1978 erlassenen Einspruchsentscheidung noch von der gegenteiligen Auffassung ausgegangen, daß die Umsatzsteuer - weil nach neuem Recht kein Kostenfaktor mehr - den anderen Zahlungsverpflichtungen der Gesellschaft nicht gleichgestellt werden dürfe und daher ohne Rücksicht auf solche Verpflichtungen in voller Höhe an das FA abzuführen sei.
Die Entscheidung des Streitfalles hängt von der Einhaltung des Grundsatzes der anteiligen Tilgung deshalb ab, weil die Beweisaufnahme vor dem FG ergeben hat, daß sich die steuerpflichtige Gesellschaft - die KG - schon seit Mai 1972, also dem Zeitpunkt, in dem sie mit den Vorauszahlungen erstmals in Verzug geraten ist, in Liquiditätsschwierigkeiten befunden hat, so daß in der Folgezeit immer nur die ,,dringlichsten Rechnungen" beglichen wurden. Bei dieser Sachlage, von der das FG nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auszugehen hatte, kommt eine Haftung der Klägerin als Geschäftsführerin der Komplementär-GmbH nur in dem Umfang in Betracht, als der Grundsatz der gleichmäßigen Tilgung der Umsatzsteuer nicht eingehalten wurde.
2. Da das FA bei der Inanspruchnahme der Klägerin - ausgehend von einer anderen Rechtsauffassung - diesen Grundsatz nicht berücksichtigt hat, hat das FG den Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung zu Recht aufgehoben. Die Aufhebung ohne Entscheidung in der Sache selbst (sog. bloße Kassation) besteht nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO allerdings nicht zu Recht. Denn die Frage, ob dem FA ein Verfahrensmangel im Sinn dieser Vorschrift unterlaufen ist, ist nach der materiellen Rechtsauffassung zu beurteilen, die das FA seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Da das FA in der Einspruchsentscheidung ausgeführt hat, bei der Umsatzsteuer handele es sich um eine ,,besondere" Verbindlichkeit, die in jedem Fall hätte beglichen werden müssen, ist es von einer zwar nicht zutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen, auf deren Grundlage aber Feststellungen zur Frage der Verwendung der vorhandenen Mittel nicht erforderlich waren. Ein Verfahrensmangel scheidet daher aus. Dem Urteil des BFH in BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249 kann nicht entnommen werden, daß in sämtlichen Fällen der hier vorliegenden, die ,,anteilige Umsatzsteuer" betreffenden Art das FG ohne Entscheidung in der Sache selbst den Haftungsbescheid aufheben kann (vgl. auch das Urteil des BFH vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, 276, BStBl II 1984, 661).
3. Die nicht spruchreife Sache geht daher unter Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Das FG wird die von ihm - zu Recht - vermißten Sachverhaltsfeststellungen selbst treffen müssen. Ferner wird es zu prüfen haben, ob bei fristgerechter Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen durch die Klägerin - wie die Revision vorträgt - die Bezahlung der Umsatzsteuer durch die übernehmende MB-GmbH zu erwarten gewesen wäre. Sollten die Feststellungen des FG zu keinem Ergebnis führen, so greift die in dem Urteil in BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249 angeführte objektive Beweislastregelung zu Lasten des FA ein.
Fundstellen
Haufe-Index 415623 |
BFH/NV 1988, 481 |