Nichtanwendungserlass zu dieser Entscheidung
Entscheidungsstichwort (Thema)
(Freistellungsbescheinigung nach § 50d Abs.3 EStG: Erledigung der Hauptsache, Zuständigkeit des Betriebsstätten-Finanzamts für Nachforderungsbescheid bzw. Haftungsbescheid, Festsetzungsfrist für Nachforderungsbescheid)
Leitsatz (amtlich)
Ein Klageverfahren in Sachen Freistellungsbescheinigung gemäß § 50d Abs.3 EStG ist nicht allein deswegen in der Hauptsache erledigt, weil die reguläre Festsetzungsfrist für den Erlaß von Steuernachforderungsbescheiden oder Haftungsbescheiden abgelaufen ist.
Orientierungssatz
1. Die Hauptsache ist erledigt, wenn nach Rechtshängigkeit ein Ereignis eintritt, das das Klagebegehren objektiv gegenstandslos macht. Es besteht dann für den Kläger kein Rechtsschutzinteresse an einer Sachentscheidung mehr. Der Kläger muß ggf. die Hauptsache für erledigt erklären, um einer Klageabweisung durch Prozeßurteil zu entgehen (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Erläßt --im Falle inländischer, möglicherweise dem Steuerabzug nach § 50a EStG unterliegender Einkünfte eines beschränkt Steuerpflichtigen-- das für die Nachforderung oder die Haftungsinanspruchnahme zuständige Betriebsstätten-Finanzamt des Vergütungsschuldners (vgl. BFH-Urteil vom 18.5.1994 I R 21/93) mangels Steuereinbehalt einen Steuerbescheid oder Haftungsbescheid, so können im anschließenden Rechtsbehelfsverfahren im allgemeinen die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung durch die Vorlage einer Freistellungsbescheinigung nach § 50d Abs.3 EStG nachgewiesen werden. Die Festsetzungsfrist für die Nachforderung kann gemäß § 170 Abs.2 Nr.1 i.V.m. § 169 Abs.2 Satz 2 AO 1977 bis zu 13 Jahre nach dem Ende des Kalenderjahrs, in dem der Steueranspruch entstanden ist, dauern.
Normenkette
AO 1977 § 169 Abs. 2 S. 2, § 170 Abs. 2 Nr. 1; EStG § 50d Abs. 3, § 50a Abs. 4-5; EStDV §§ 73e, 73g; FGO § 138
Tatbestand
I. Der in den Niederlanden ansässige Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) beantragte beim Beklagten und Revisionskläger (Bundesamt für Finanzen --BfF--) Freistellung vom Steuerabzug nach § 50a Abs.4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für Vergütungen, die er für die Überlassung der Künstlergruppe X an einen inländischen Veranstalter für die Zeit vom 2. bis 16. Juni 1989 erhalten sollte. Diese wurde vom BfF abgelehnt.
Im anschließenden Klageverfahren erklärte der Kläger mit Schriftsatz vom 6. Dezember 1994 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, da er kein rechtliches Interesse mehr an der Erteilung der begehrten Freistellungsbescheinigung habe. Die vereinbarte Vergütung sei vor Erhebung der Klage vom Vergütungsschuldner ohne Steuerabzug ausgezahlt worden. Wegen Ablaufs der Verjährungsfristen scheide sowohl eine Nachforderung gegenüber dem Kläger als auch eine Haftungsinanspruchnahme des Vergütungsschuldners aus. Das BfF widersprach der Erledigungserklärung.
Das Finanzgericht (FG) stellte durch Urteil fest, daß der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei.
Das BfF rügt mit der Revision Verletzung des § 50d Abs.1, 3 EStG und des § 5 Abs.1 Nr.2 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG).
Das BfF beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des BfF ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Der Rechtsstreit, in dem der Kläger vom BfF die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung nach § 50d Abs.3 EStG begehrt, ist nicht bereits dann in der Hauptsache erledigt i.S. des § 138 FGO, wenn die reguläre Festsetzungsfrist für den Erlaß von Steuernachforderungs- oder Haftungsbescheiden abgelaufen ist.
Die Hauptsache ist erledigt, wenn nach Rechtshängigkeit ein Ereignis eintritt, das das Klagebegehren objektiv gegenstandslos macht. Es besteht dann für den Kläger kein Rechtsschutzinteresse an einer Sachentscheidung mehr (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. Juli 1988 VII K 41/87, BFH/NV 1990, 106; BFH-Beschluß vom 18. Februar 1994 VIII B 46/92, BFH/NV 1994, 728; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Tz.46, m.w.N.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 138 Rdnr.21). Der Kläger muß ggf. die Hauptsache für erledigt erklären, um einer Klageabweisung durch Prozeßurteil zu entgehen. Der Kläger und das FG gehen aber zu Unrecht davon aus, daß durch das --vermeintliche-- Verstreichen der regulären Festsetzungsfrist für den Erlaß von Nachforderungs- oder Haftungsbescheiden ein Rechtsschutzinteresse an der Erteilung eines Freistellungsbescheides entfällt.
Die Freistellungsbescheinigung nach § 50d Abs.3 EStG bescheinigt dem Antragsteller, daß seine im Inland beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte nach Maßgabe des § 44d EStG oder eines Doppelbesteuerungsabkommens steuerfrei oder ermäßigt zu besteuern sind. Wird die Freistellungsbescheinigung erteilt, so kann der Steuerschuldner den Steuerabzug nach § 50a Abs.4 EStG unterlassen (§ 50d Abs.3 Satz 1 EStG). Darauf beschränken sich aber die Rechtswirkungen eines Freistellungsbescheides nicht. Erläßt das für die Nachforderung oder die Haftungsinanspruchnahme zuständige Betriebsstätten-Finanzamt des Vergütungsschuldners (vgl. BFH-Urteil vom 18. Mai 1994 I R 21/93, BFHE 174, 430, BStBl II 1994, 697) mangels Steuereinbehalt einen Steuer- oder Haftungsbescheid, so können im anschließenden Rechtsbehelfsverfahren im allgemeinen die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung (z.B. Nachweis des Ansässigkeitsstaats) durch die Vorlage einer vom BfF erteilten Freistellungsbescheinigung nachgewiesen werden. Insoweit kann auch der nach ungekürzter Auszahlung der Vergütung erteilten Bescheinigung rechtlich Relevanz zukommen. Dies gilt zumindest solange, als eine Nachforderung oder Haftungsinanspruchnahme im Prinzip denkbar ist. Hierbei ist die maximal mögliche Festsetzungsfrist für den Erlaß entsprechender Bescheide anzusetzen. Diese beträgt gemäß § 170 Abs.2 Nr.1 i.V.m. § 169 Abs.2 Sätze 1 und 2 der Abgabenordnung (AO 1977) 13 Jahre nach Ende des Kalenderjahres, in dem der Steueranspruch entstanden ist.
Das FG hat zu Unrecht die Anwendbarkeit des § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977 auf Fälle der vorliegenden Art verneint. Da der Vergütungsschuldner gemäß § 73e Satz 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung eine Steueranmeldung abzugeben hat, richtet sich der Beginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977. Diese Vorschrift setzt eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung oder einer Steueranmeldung voraus. Daß diese Verpflichtung in der Person des Vergütungsgläubigers bestehen müßte, kann ihr nicht entnommen werden. Im übrigen ist es nicht Angelegenheit des BfF bzw. des FG, die über die Erteilung der Freistellungsbescheinigung zu entscheiden haben, die Voraussetzungen für eine Steuerhinterziehung durch den Vergütungsschuldner nach § 169 Abs.2 Satz 2 AO 1977 zu überprüfen. Für das Verfahren zur Erteilung der Freistellungsbescheinigung genügt es, daß die ungekürzte Auszahlung der Vergütung ohne Freistellungsbescheinigung eine Steuerhinterziehung i.S. des § 169 Abs.2 Satz 2 i.V.m. § 370 Abs.1 AO 1977 sein kann und mithin vom Betriebsstätten-Finanzamt des Vergütungsschuldners als solche beurteilt werden könnte.
Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Dieses hat nunmehr unter Beachtung des § 76 Abs.2 Satz 1 FGO zu klären, ob der Kläger durch seine Erledigungserklärung seinen ursprünglichen Klageantrag nicht mehr aufrechterhalten und durch einen Antrag auf Feststellung der Hauptsacheerledigung ersetzen wollte (so BFH-Urteil vom 27. September 1979 IV R 70/72, BFHE 128, 492, BStBl II 1979, 779) oder ob er sich nur durch die aus seiner Sicht eingetretene Hauptsacheerledigung gezwungen sah "vorsorglich" die Hauptsache für erledigt zu erklären, d.h. er seinen Hauptantrag für den Fall der Nichterledigung hilfsweise aufrechterhalten wollte (so z.B. BFH-Beschluß vom 12. Juni 1986 VII B 112/85, BFHE 146, 514, BStBl II 1986, 717).
Fundstellen
Haufe-Index 65983 |
BFH/NV 1996, 291 |
BStBl II 1996, 608 |
BFHE 180, 365 |
BFHE 1997, 365 |
BB 1996, 1758 (Leitsatz) |
DB 1996, 1858 (Leitsatz und Gründe) |
DStR 1996, 1853-1854 (Kurzwiedergabe) |
DStZ 1996, 665-666 (Kurzwiedergabe) |
HFR 1996, 638-639(Leitsatz) |
StE 1996, 545 (Kurzwiedergabe) |