Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen des Veranlagungswahlrechts von Ehepaaren: Unbeschränkte Einkommensteuerpflicht ‐ inländischer Wohnsitz
Leitsatz (NV)
1. Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG für eine Zusammenveranlagung ‐ unbeschränkte Steuerpflicht, kein dauerndes Getrenntleben ‐ müssen zu einem beliebigen Zeitpunkt des betreffenden Veranlagungszeitraums gleichzeitig vorgelegen haben, und zwar entweder zu Beginn oder auch erst im Laufe des betreffenden Veranlagungszeitraums.
2. Für das Bestehen der unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG genügt es, dass die natürliche Person "einen" Wohnsitz im Inland hat; der Wohnsitz im Inland muss nicht den Mittelpunkt der Lebensinteressen der Person darstellen. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geht erkennbar von der Gleichwertigkeit aller Wohnsitze einer bestimmten Person aus. Gleiches gilt im Hinblick auf § 8 AO.
3. Ob die Voraussetzungen des Wohnsitzbegriffs i.S. des § 8 AO erfüllt sind, ist nach den objektiv erkennbaren Umständen zu beurteilen. Das Beachten melderechtlicher Vorschriften ist nicht maßgebend.
4. Die Beurteilung der Begleitumstände des "Innehabens" einer Wohnung i.S. des § 8 AO liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet. Dabei können alle Umstände des Einzelfalles herangezogen werden, die nach der Lebenserfahrung den Schluss erlauben, dass der betreffende Steuerpflichtige die Wohnung beibehält, um sie als solche zu nutzen. Als Anhaltspunkt für eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung kann auf die Sechsmonatsfrist des § 9 Satz 2 AO zurückgegriffen werden.
5. Der BFH ist als Revisionsgericht gemäß § 118 Abs. 2 FGO an die Beurteilung durch das FG gebunden. Er kann diese Beurteilung durch das FG nur auf Verstöße gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze hin überprüfen.
6. Hat das FG eine notwendige Würdigung unterlassen, so kann der BFH als Revisionsgericht sie auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG vornehmen, selbst wenn mehrere Möglichkeiten der Würdigung bestehen.
Normenkette
AO § 9 S. 2; EStG § 1 Abs. 1, § 26 Abs. 1; FGO § 118 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein kanadischer Staatsangehöriger, war als Eishockey-Profi tätig. Er lebte mit seiner Freundin und späteren Ehefrau, einer amerikanischen Staatsbürgerin, in den USA.
Am 20. April 2000 schloss der Kläger einen auf die Zeiträume vom 1. August 2000 bis 30. April 2001 (Saison 2000/01) und vom 1. August 2001 bis 30. April 2002 (Saison 2001/02) befristeten Arbeitsvertrag mit der X-GmbH. In dem Vertrag war u.a. vereinbart, dass die GmbH dem Kläger während der festgelegten Spielzeiten kostenlos eine möblierte Wohnung zur Verfügung stellt.
Kurz vor Beginn der Saison 2000/01 zogen der Kläger und seine Freundin in die dem Kläger von der GmbH überlassene möblierte Wohnung in X, in der sie bis zum Saisonende wohnten. Die spielfreie Zeit von Anfang April bis Mitte August 2001 verbrachten beide in den USA. Am 7. Juni 2001 heiratete der Kläger seine Freundin.
Am 14. August 2001 kehrten beide nach X zurück und bezogen wieder die bereits in der Saison 2000/01 bereitgestellte Wohnung, in der sie nicht benötigte Kleidungsstücke, ihre HiFi- und TV-Geräte sowie persönliche Möbelstücke zurückgelassen hatten. Aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes des --ebenfalls in den USA lebenden-- Vaters der Ehefrau entschlossen sich der Kläger und seine Ehefrau kurzfristig, dorthin zurückzukehren. Der Kläger beendete deshalb seinen Arbeitsvertrag mit der GmbH am 18. August 2001 rückwirkend zum 1. August 2001 und flog am 24. August 2001 mit einem am Vortag erworbenen Flugticket in die USA zurück. Seine Ehefrau folgte ihm am 27. August 2001. Sie hatte den Rückflug am 27. August 2001 schon zusammen mit dem Hinflug nach Deutschland gebucht.
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2001 beantragten der Kläger und seine Ehefrau die Zusammenveranlagung. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) folgte dem Antrag nicht, sondern führte mit Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2001 vom 26. Juni 2002 eine Einzelveranlagung des Klägers durch, weil nur der Kläger, nicht aber seine Ehefrau beim Einwohnermeldeamt der Stadt X gemeldet war. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus, eine Zusammenveranlagung sei nicht möglich, weil die Ehefrau des Klägers nach der Eheschließung nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen sei. Die Ehefrau habe nach der Heirat die Wohnung in X nicht auf Dauer als Bleibe genutzt, weil ihr Aufenthalt dort in der Zeit vom 14. bis 28. August 2001 nur Besuchscharakter gehabt habe. Der Tag der Rückreise in die USA habe bereits vor der Einreise nach Deutschland am 14. August 2001 festgestanden. Unerheblich sei, dass die Ehefrau bereits vor der Eheschließung zusammen mit dem Kläger in der Wohnung in X gewohnt und dort persönliche Gegenstände zurückgelassen habe. Entscheidend seien die objektiven Umstände nach der Eheschließung, welche im Streitfall gegen eine Wohnsitznahme der Ehefrau in X sprächen. Dies gelte selbst dann, wenn die Ehefrau im August 2001 mit dem Willen nach X gekommen sei, die dortige Wohnung nach einem Besuch ihrer Eltern in den USA als Bleibe zu nutzen.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sowie Verfahrensmängel.
Er beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil und den Einkommensteuerbescheid für 2001 sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, ihn und die Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer zu veranlagen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2001 sowie der Einspruchsentscheidung und zur Verpflichtung des FA, den Kläger zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer zu veranlagen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat die Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung des Klägers mit seiner Ehefrau im Streitjahr 2001 zu Unrecht wegen des Fehlens der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht der Ehefrau verneint.
1. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG können Ehegatten, die beide unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i.S. des § 1 Abs. 1 oder 2 EStG sind und nicht dauernd getrennt leben und bei denen diese Voraussetzungen zu Beginn des Veranlagungszeitraums vorgelegen haben oder im Laufe des Veranlagungszeitraums eingetreten sind, die Zusammenveranlagung (§ 26b EStG) wählen. Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG müssen zu einem beliebigen Zeitpunkt gleichzeitig vorgelegen haben, und zwar entweder zu Beginn oder im Laufe des Veranlagungszeitraums (Senatsbeschluss vom 25. Januar 2002 III B 127/01, BFH/NV 2002, 645, m.w.N.).
Unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Einen Wohnsitz hat jemand gemäß § 8 der Abgabenordnung (AO) dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Ob die Voraussetzungen des § 8 AO erfüllt sind, ist nach den objektiv erkennbaren Umständen zu beurteilen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. März 1997 I R 69/96, BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447). Die Einhaltung melderechtlicher Vorschriften ist daher nicht maßgebend (Senatsurteil vom 27. April 1995 III R 57/93, BFH/NV 1995, 967, m.w.N.).
Die Beurteilung, ob die Umstände auf eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung schließen lassen, liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet. Insoweit ist der BFH als Revisionsgericht gemäß § 118 Abs. 2 FGO an die vom FG festgestellten Tatsachen und deren Würdigung durch das FG gebunden. Er kann die Schlussfolgerungen des FG nur auf Verstöße gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze hin überprüfen (BFH-Urteil in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447, m.w.N.).
2. Nach diesen Grundsätzen sind der Kläger und seine Ehefrau im Streitjahr 2001 zusammen zur Einkommensteuer zu veranlagen. Sämtliche Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG lagen am Tag der Eheschließung am 7. Juni 2001 vor.
Entgegen der Auffassung des FG war die Ehefrau des Klägers zu diesem Zeitpunkt gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, da sie durch den gemeinsamen Bezug der Wohnung in X mit dem Kläger kurz vor Beginn der Saison 2000/01 einen Wohnsitz im Inland begründet hat. Diesen Wohnsitz hat sie erst wieder im August 2001 aufgegeben.
Der Senat ist im Streitfall nicht nach § 118 Abs. 2 FGO an die Beurteilung des FG gebunden, die Umstände ließen im Streitfall nicht darauf schließen, dass die Ehefrau die Wohnung in X habe beibehalten und nutzen wollen. Diese Tatsachenwürdigung des FG bezieht sich nur auf die Frage, ob die Ehefrau des Klägers durch ihren Aufenthalt im August 2001 einen Wohnsitz im Inland begründet hat. Dagegen hat das FG nicht geprüft, ob die Ehefrau des Klägers bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung einen Wohnsitz im Inland hatte, weil es offenbar --zu Unrecht-- davon ausgegangen ist, für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG sei allein entscheidend, ob die Ehefrau nach der Eheschließung einen Wohnsitz im Inland begründet habe. Hat das FG aber eine notwendige Würdigung unterlassen, so kann der BFH als Revisionsgericht sie auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG vornehmen, selbst wenn mehrere Möglichkeiten der Würdigung bestehen (vgl. BFH-Urteil vom 14. Dezember 1993 VII R 45/93, BFHE 173, 280, m.w.N., sowie Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 FGO Rz 143).
Im Streitfall haben der Kläger und seine Ehefrau zu Beginn der Saison 2000/01 dadurch einen Wohnsitz i.S. des § 8 AO begründet, dass sie ab diesem Zeitpunkt die von der GmbH überlassene Wohnung in X benutzt haben.
Für das "Innehaben" genügt es bei der Ehefrau und damaligen Freundin des Klägers, dass sie die tatsächliche Verfügungsmöglichkeit über diese Wohnung vom Kläger --dem die Wohnung von der GmbH zur Nutzung überlassen wurde-- abgeleitet hat (vgl. Schmidt/Heinicke, EStG, 26. Aufl., § 1 Rz 22).
In Anlehnung an § 9 Satz 2 AO ist im Streitfall auch davon auszugehen, dass die Ehefrau --ebenso wie der Kläger-- die Wohnung unter Umständen innehatte, die den Schluss darauf zuließen, dass sie die Wohnung beibehalten und nutzen würde. Nach § 9 Satz 2 AO ist als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen. Im Streitfall hat die Ehefrau die Wohnung in X nach den tatsächlichen Feststellungen des FG ununterbrochen von August 2000 bis Anfang April 2002 und damit länger als sechs Monate genutzt. Der Rückgriff auf § 9 Satz 2 AO als Anhaltspunkt für eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung ist gerechtfertigt, weil die Frist des § 9 Satz 2 AO bestimmt, ab welcher Zeitdauer ein Aufenthalt nicht mehr nur ein vorübergehender ist. Dies ist auch für § 8 AO maßgebend, weil eine nur vorübergehende Nutzung einer Wohnung keinen Wohnsitz begründet (vgl. BFH-Urteile vom 23. Oktober 1985 I R 274/82, BFHE 145, 48, BStBl II 1986, 133, und vom 30. August 1989 I R 215/85, BFHE 158, 118, BStBl II 1989, 956, jeweils m.w.N.).
Unerheblich ist, ob die Klägerin daneben einen Wohnsitz in den USA hatte oder nicht. Für das Bestehen der unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG genügt es, dass die natürliche Person "einen" Wohnsitz im Inland hat; der Wohnsitz im Inland muss nicht den Mittelpunkt der Lebensinteressen der Person darstellen. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geht erkennbar von der Gleichwertigkeit aller Wohnsitze einer bestimmten Person aus. Gleiches gilt im Hinblick auf § 8 AO (vgl. BFH-Urteil vom 24. Januar 2001 I R 100/99, BFH/NV 2001, 1402, m.w.N.)
Der Wohnsitz in X bestand auch zum Zeitpunkt der Eheschließung fort. Eine Aufgabe des Wohnsitzes liegt erst dann vor, wenn die Voraussetzungen des § 8 AO nicht mehr erfüllt sind. Ob ein Wohnsitz aufgegeben wurde, ist daher ebenfalls nach den objektiv erkennbaren Umständen zu entscheiden. Im Streitfall war nach den tatsächlichen Feststellungen des FG bis zur Beendigung des Arbeitsvertrages des Klägers mit der GmbH im August 2001 davon auszugehen, dass die Ehefrau gemeinsam mit dem Kläger die Wohnung in X weiter nutzen würde. Hierfür sprechen die in der Wohnung zurückgelassenen persönlichen Gegenstände sowie der erneute Aufenthalt der Ehefrau in der Wohnung im August 2001. Auch die Eheschließung selbst ist als Indiz für die Beibehaltung des Wohnsitzes zu werten. Denn in der Regel kann angenommen werden, dass ein Ehepartner die Wohnung, in der seine Familie wohnt, ebenfalls benutzen und daher dort einen Wohnsitz haben wird (BFH-Urteil vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BFHE 178, 294, BStBl II 1996, 2, m.w.N.). Beim Kläger war schon aufgrund des Arbeitsverhältnisses mit der GmbH von einer Beibehaltung und Nutzung der Wohnung in X auszugehen.
Der Umstand, dass die Ehefrau ihren Rückflug in die USA am 27. August 2001 bereits zusammen mit dem Hinflug am 14. August 2001 gebucht hatte, führt zu keiner anderen Beurteilung. Darin kann allenfalls ein Beweisanzeichen für die Absicht der Ehefrau zu sehen sein, den Wohnsitz im August 2001 aufzugeben. Eine solche Absicht ist jedoch nicht maßgebend, wenn die objektiven Gegebenheiten den Schluss rechtfertigen, dass die Wohnung --wie im Streitfall-- bis zu einem bestimmten Zeitpunkt beibehalten und benutzt wird (vgl. BFH-Urteil vom 23. November 1988 II R 139/87, BFHE 155, 29, BStBl II 1989, 182, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 1855214 |
BFH/NV 2008, 351 |
BFH/PR 2008, 373 |
HFR 2008, 557 |