Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für einen Gerichtsbescheid mit Revisionszulassung
Leitsatz (NV)
Wenn ersichtlich ist, dass der Beteiligte auf eine mündliche Verhandlung nicht verzichten will, darf das FG dem Beteiligten nicht die Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung neue Tatsachen vorzutragen, weitere Ermittlungen anzuregen und Beweisanträge zu stellen, dadurch abschneiden, dass es in dem Gerichtsbescheid die Revision zulässt.
Normenkette
FGO §§ 90a, 119 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Tatbestand
I. Streitig ist die Inanspruchnahme des Klägers und Revisionsklägers (Kläger), eines eingetragenen Vereins, als Haftungsschuldner wegen zweckfremder Verwendung von Spendengeldern. Der Kläger wurde zunächst wegen Förderung des allgemeinen Gesundheitswesens als gemeinnützig anerkannt. Bei einer Außenprüfung wurde festgestellt, dass er einen Großteil seiner Ausgaben in Höhe von … DM für den Druck und die Verteilung von … Exemplaren einer Publikation mit dem Titel …, für eine Flugreise der damaligen Vorstandsvorsitzenden nach … und für ein Buchprojekt mit dem Titel … ausgegeben hatte. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) widerrief die vorläufige Anerkennung als gemeinnützig und erließ unter dem 17. Februar 1995 einen Körperschaftsteuerbescheid, der bestandskräftig geworden ist. Mit Haftungsbescheid vom 14. Dezember 1993 nahm das FA den Kläger in Höhe von … DM für die entgangene Steuer unter Hinweis auf § 10b Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Anspruch. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens setzte das FA den Haftungsbetrag auf … DM herab, in dem es nur noch einen Anteil von 75,55 % der Zuwendungen als steuerschädlich verwendet ansah.
Das Finanzgericht (FG) wies mit Gerichtsbescheid vom 14. Januar 1998 gemäß § 90a der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Klage ab und ließ die Revision zu. Der Kläger hat gleichwohl ―trotz der Regelung des § 90a Abs. 2 Nr. 3 FGO― mündliche Verhandlung beantragt. Das FG hat daraufhin durch Urteil vom 16. Juli 1998 entschieden, dass der Gerichtsbescheid vom 14. Januar 1998 als Urteil wirke. Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) vom 4. November 1950 (BGBl II 1952, 686) gebiete nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem FG; Art. 6 Abs. 1 MRK sei im finanzgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar. Auch Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) vermittele keinen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung. Dies gelte umso mehr, als die Zurückweisung der Klage aus Rechtsgründen erfolgt sei.
Mit der Revision macht der Kläger geltend: Es stelle sich die Frage, ob die Beteiligten trotz Zulassung der Revision gleichwohl einen Antrag auf mündliche Verhandlung entsprechend § 90a Abs. 2 FGO stellen könnten. Gerügt werde die Verletzung des Grundsatzes der mündlichen Verhandlung sowie des Grundsatzes der Unmittelbarkeit, des Grundsatzes der Öffentlichkeit und des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil vom 16. Juli 1998 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der eindeutige Wortlaut des § 90a FGO schließe das Nebeneinander von Revision und Antrag auf mündliche Verhandlung ausdrücklich aus.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO begründet; das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
1. Die Vorentscheidung verletzt § 90a Abs. 1 FGO und dadurch das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 FGO) des Klägers, weil das FG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid mit Revisionszulassung entschieden hat und dem Kläger dadurch die Möglichkeit abgeschnitten hat, sein Klagebegehren in einer mündlichen Verhandlung vor dem FG weiter zu erläutern. Wenn ersichtlich ist, dass der Beteiligte auf eine mündliche Verhandlung nicht verzichten will, darf das FG zwar einen Gerichtsbescheid erlassen, weil es zweckmäßig sein kann, die für das FG entscheidungserheblichen Gesichtspunkte herauszustellen. Es darf dem Beteiligten aber nicht die Möglichkeiten, in einer mündlichen Verhandlung neue Tatsachen vorzutragen, weitere Ermittlungen anzuregen und Beweisanträge zu stellen, dadurch abschneiden, dass es in dem Gerichtsbescheid die Revision zulässt. Es liegt unter diesen Umständen kein "geeigneter Fall" vor (§ 90a Abs. 1 FGO), der einen solchen Gerichtsbescheid rechtfertigt (vgl. im Einzelnen Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 28. Juni 2000 V R 55/98, BFHE 192, 228, Der Betrieb 2000, 2357).
2. Im Streitfall wurden die Beteiligten unter dem 15. Oktober 1997 zur mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 1997 geladen. Unter dem 21. November 1997 wurde der Termin auf 9.30 Uhr vorverlegt. Mit Verfügung vom 28. November 1997 bat der Berichterstatter um Vorlage von fünf weiteren Unterlagen (Verträge, Anschauungsmaterial, Rechnungen).
Am 9. November 1997 fand ein Gespräch mit der Vorstandsvorsitzenden des Klägers statt, in dem der Vorsitzende des Senats mitteilte, dass eigentlich noch zwei Zeugen hätten geladen werden sollen, dass sich das aber wegen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten erledigt habe. Der Termin zur mündlichen Verhandlung wurde aufgehoben. Unter dem 14. Januar 1998 erging der Gerichtsbescheid ohne Berücksichtigung der angeforderten Unterlagen und der angebotenen Beweise.
Angesichts dieser Umstände eignete sich der Fall nicht für eine abschließende Entscheidung durch Gerichtsbescheid; der Sachverhalt bedurfte zumindest aus der Sicht des Klägers weiterer Aufklärung. Es war ersichtlich, dass der Kläger auf eine mündliche Verhandlung nicht verzichten wollte, zumal er bereits in der Klageschrift vom 25. August 1994 die Vernehmung mehrerer Personen als Zeugen beantragt hatte. Mit der Revisionszulassung hat das FG dem Kläger die Möglichkeit genommen, in einer mündlichen Verhandlung neue Tatsachen vorzutragen, weitere Ermittlungen anzuregen und Beweisanträge zu stellen.
3. Zur Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs und zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen wird die Sache an das FG zurückverwiesen.
4. Der Senat erkennt gemäß §§ 90a, 121 FGO durch Gerichtsbescheid. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 594990 |
BFH/NV 2001, 1123 |