Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Sachaufklärungspflicht des FG -- Aktenbeiziehung
Leitsatz (NV)
1. Das Gericht muß von sich aus die Akten beiziehen, die Informationen für die Entscheidung des Rechtsstreits enthalten können.
2. Die unterlassene Beiziehung der den Streitfall betreffenden Akten berührt die Grundordnung des Verfahrens; unerheblich ist deshalb, wenn ein Beteiligter keinen entsprechenden Antrag gestellt hat.
Normenkette
FGO § 71 Abs. 2, § 76 Abs. 1, § 79 Abs. 1 Nrn. 3-4, §§ 86, 78, 96 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Erben des am ... 1989 verstorbenen A (Erblasser), die Klägerinnen zu 2 und 5 zugleich Erbinnen der bereits vorverstorbenen Miterbin H. A. Der Erblasser hatte seit 1961 seine schwerkranke Schwägerin durch Übernahme der Kosten für deren Krankenhausaufenthalt unterstützt.
Mit Schreiben vom 3. Juli 1969 wandte sich der Erblasser an das Evangelische Kirchensteueramt mit dem Hinweis, er zahle seit Jahren Kirchensteuerbeträge zwischen 80 000 DM und 120 000 DM im Jahr. Daneben werde er durch soziale Zuwendungen an minderbemittelte Familienmitglieder für deren Lebensunterhalt und Krankenhauskosten in Anspruch genommen. Er habe hierfür zwischenzeitlich ca. 90 000 DM aufgewendet. Er bitte deshalb, ihm von der 1967 angefallenen Kirchensteuer den von ihm im selben Jahr für Krankenhauskosten verausgabten Betrag aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Andernfalls müsse er den Austritt aus der Kirche in Erwägung ziehen.
Die Kirchensteuerverteilungsstelle des Kirchenkreises erstattete dem Erblasser in den nachfolgenden Jahren jeweils einen Betrag in Höhe der geltend gemachten Krankenhauskosten. Daneben kappte sie dessen Kirchensteuer. Die Finanzverwaltung unterrichtete sie zunächst nur über die Kappungen. Erst am 9. November 1982 teilte die Kirchensteuerverteilungsstelle auf Anweisung der Kirchengemeinde dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --) sämtliche an den Erblasser in den Jahren 1969 bis 1981 geleisteten Erstattungen von Kirchensteuer -- aufgeteilt nach Kirchensteuerkappung und nach Sondererstattungen -- mit.
In ihrer gemeinsamen Einkommensteuererklärung für 1983 machten der Erblasser und seine Ehefrau als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Kirchensteuer in Höhe von 24 633 DM geltend (gezahlte Kirchensteuer 185 942 DM abzüglich Kirchensteuererstattung infolge Kappung 161 309 DM). Das FA vertrat jedoch die Auffassung, von der 1983 gezahlten Kirchensteuer sei nicht nur der Betrag abzuziehen, der dem Erblasser infolge Kappung erstattet worden sei, sondern auch die Erstattung in Höhe der Krankenhauskosten (70 803,40 DM); es berücksichtigte deshalb im Einkommensteuerbescheid für 1983 die geltend gemachte Kirchensteuer nicht.
Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage trug der Erblasser vor, es handele sich bei der Zahlung in Höhe der Krankenhauskosten nicht um eine Erstattung von Kirchensteuer, sondern um eine mildtätige Leistung der Kirchengemeinde.
Das Finanzgericht (FG) hat zum Grund der Zahlung Beweis erhoben durch Vernehmung des Pfarrers B, in dessen Amtszeit die erstmalige Entscheidung über den Erlaßantrag und die anfänglichen Erstattungen fielen.
Gegenstand des Klageverfahrens war der aus nicht das vorliegende Verfahren betreffenden Gründen geänderte Einkommensteuerbescheid vom 19. Juni 1989.
Die Klage hatte Erfolg. Das FG führte aus, aufgrund der Aussage des Zeugen stehe fest, daß es sich bei der streitigen Zahlung nicht um eine Erstattung von Kirchensteuer, sondern um eine mildtätige Leistung der Kirchengemeinde gehandelt habe. Der Pfarrer habe bestätigt, daß die Kirchengemeinde sich das Anliegen des Erblassers, seine Schwägerin zu unterstützen, zu eigen gemacht habe. Derartige Aufgaben übernehme die Kirche häufig, auch dann, wenn es um soziale Belange außerhalb der Kirchengemeinde gehe, sofern nur Kontakt zu einem Gemeindemitglied bestehe. Kirchensteuerliche Aspekte hätten keine Rolle gespielt. Seine, des Zeugen, Entscheidung sei durch eine Androhung des Kirchenaustrittes nicht beeinflußt worden; im übrigen habe er das Schreiben des Erblassers vom 3. Juli 1969 nicht gesehen. Das FG folgerte hieraus, die Erstattung der Krankenhauskosten sei -- auch wenn der Erblasser einen Antrag auf Billigkeitserlaß gestellt habe -- "offensichtlich" auf andere Weise behandelt worden und deshalb keine Kirchensteuererstattung. Die Aussage des Zeugen sei glaubhaft. Gegen ihre Richtigkeit spreche auch nicht die Stellungnahme der evangelischen Kirchengemeinde in dem Verfahren des Erblassers gegen die Kirchengemeinde vor dem Landgericht, weil diese sich nicht mit der Sachverhaltskenntnis des Pfarrers auseinandergesetzt habe. Darauf komme es jedoch entscheidend an, weil dieser die Verhandlungen mit dem Erblasser geführt habe. Ob man dabei gegen innerkirchliche Vorschriften verstoßen habe, sei ohne Bedeutung.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG) und formellen Rechts.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Dem FG sind Verfahrensfehler unterlaufen, die das FA zulässigerweise gerügt hat.
1. Das FG geht im Ergebnis zutreffend davon aus, daß § 10 Abs. 1 Satz 1 EStG wegen der Verwendung des Tatbestandsmerkmals "Aufwendungen" eine wirtschaftliche Belastung des Steuerpflichtigen voraussetzt (ständige Rechtsprechung, z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 24. Oktober 1990 X R 43/89, BFHE 162, 425, BStBl II 1991, 175). An einer wirtschaftlichen Belastung durch "gezahlte Kirchensteuer" (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG) fehlt es, soweit dem Steuerpflichtigen Kirchensteuer erstattet wird (BFH-Urteil vom 22. November 1974 VI R 138/72, BFHE 114, 346, BStBl II 1975, 350).
2. Der vom FG festgestellte Sachverhalt trägt das angefochtene Urteil nicht. Das FG hat sich für die Beurteilung der Frage, ob es sich bei den streitigen Zahlungen um eine Erstattung von Kirchensteuer oder -- wie der Erblasser behauptet hatte -- um eine mild tätige Leistung der Kirchengemeinde handelte, ohne die entscheidungserheblichen Akten der Kirchengemeinde beizuziehen, zu Unrecht allein auf die Aussage des Pfarrers gestützt, in dessen Amtszeit die -- erstmalige -- Entscheidung über den Antrag des Erblassers auf Erlaß der Kirchensteuer aus Billigkeitsgründen fiel. Das FG hat damit seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, verletzt.
Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es hat dabei nach ständiger Rechtsprechung des BFH den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis zur Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich aufzuklären (z. B. BFH- Beschluß vom 9. Dezember 1969 II B 39/69, BFHE 97, 293, 294, BStBl II 1970, 97; BFH-Urteil vom 26. April 1988 VII R 124/85, BFHE 153, 463, m. w. N.; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 76 Rz. 19 ff., m. w. N.). Hierzu hat das Gericht schon vor der mündlichen Verhandlung alle Anordnungen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (§ 79 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Im finanzgerichtlichen Verfahren bilden die Akten bzw. der Akteninhalt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage. Die beteiligte Behörde hat die den Streitfall betreffenden Akten vorzulegen (§ 71 Abs. 2 FGO). Zur Aufklärung des Sachverhalts kann das Gericht Akten und Urkunden anderer Behörden beiziehen und Auskünfte einholen (§§ 86, 79 Abs. 1 Nr. 3 und 4 FGO). Die Verpflichtung in § 86 FGO zur Vorlage entscheidungserheblicher Akten und Urkunden sowie zur Erteilung von Auskünften betrifft sämtliche Behörden sowie die Dienststellen öffentlich-rechtlicher Körperschaften, gleichgültig, ob sie am Rechtsstreit beteiligt sind oder nicht (z. B. Ziemer/Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 86 Rz. 5). Der Anwendungsbereich des § 79 Abs. 1 Nr. 3 und 4 FGO erstreckt sich auch auf Auskünfte jeglicher Art und Vorlage von Urkunden durch sonstige natürliche oder juristische Personen (z. B. Gräber/Koch, a.a.O., § 79 Rz. 7; vgl. auch § 85 FGO i. V. m. § 97 Abs. 1 der Abgabenordnung -- AO 1977 --). Die genannten Vorschriften tragen dem Untersuchungsgrundsatz Rechnung; sie dienen der Aufarbeitung des Prozeßstoffes und sollen sicherstellen, daß der Sachverhalt so umfassend wie möglich aufgeklärt wird, um eine verläßliche Basis für die Überzeugungsbildung des Gerichts (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu schaffen. Nicht zuletzt wegen der Bedeutung der Akten als Entscheidungsgrundlage haben die Beteiligten ein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht (§ 78 FGO). Zwar hängen Umfang und Nachdruck der vom FG anzustellenden Ermittlungen grundsätzlich auch vom Vorbringen der Beteiligten ab; das Gericht braucht den Sachverhalt nicht ins Blaue hinein zu erforschen. Das Gericht muß aber von sich aus die Akten beiziehen, die Informationen für die Entscheidung des Rechtsstreits enthalten können (vgl. BFH- Urteil vom 18. April 1975 III R 159/72, BFHE 115, 527, 530, BStBl II 1975, 741; BFH-Beschluß vom 18. September 1989 IV B 3/89, BFH/NV 1990, 378).
3. Zuständig für die Entscheidung über Kappung und Erlaß der Kirchensteuer sind nach § 8 Abs. 5 des Gesetzes über die Erhebung der Kirchensteuern im Land Nordrhein-Westfalen die Kirchen, d. h. die Kirchengemeinden und dort deren Presbyterien (vgl. z. B. Marré in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, Bd. 1 S. 1143, 1145). Deren Beschlüsse sind für die Kirchengemeinde bindend (v. Campenhausen in Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, Bd. 1 S. 387). Ergänzend hat das FA unter Bezugnahme auf die Auskunft des Superintendenten des Kirchenkreises vom 7. April 1994 vorgetragen, daß auch die Kirchensteuerverteilungsstelle, die Kappungen und Erstattungen von Kirchensteuer durchführt und dem FA meldet, nur aufgrund entsprechender Beschlüsse des Presbyteriums der jeweiligen Kirchengemeinde tätig wird. Das FG hätte deshalb zunächst durch Beiziehung der Akten der Kirchengemeinde den Inhalt der die "Krankenhauskosten" betreffenden Entscheidungen des Presbyteriums ermitteln müssen und seine Entscheidung nicht allein auf die Anhörung des nicht allein entscheidungsbefugten Pfarrers als einzige Erkenntnisquelle stützen dürfen.
4. Die unterlassene Beiziehung der den Streitfall betreffenden Akten berührt die Grundordnung des Verfahrens; entgegen der Auffassung der Kläger ist es unerheblich, daß das FA von sich aus keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO).
Dem Senat sind eigene Tatsachenfeststellungen verwehrt (§ 118 Abs. 2 FGO). Die Sache geht daher an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das FG auch berücksichtigen, daß allein entscheidungserheblich ist, ob mit der im Streitjahr 1983 geleisteten Zahlung der Kirche Kirchensteuer erstattet worden ist.
Fundstellen
Haufe-Index 421592 |
BFH/NV 1997, 293 |