Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung eines Rechtsanwalts für Umsatzsteuer aus seiner Tätigkeit als Konkursverwalter
Leitsatz (NV)
1. In Fällen, in denen der haftungsbegründende Tatbestand vor dem 1. Januar 1977 verwirklicht worden ist, ist § 109 Abs. 1 AO Rechtsgrundlage für die Inanspruchnahme des Haftenden.
2. Ein Konkursverwalter haftet für die Zahlung einer Steuerschuld, soweit er durch schuldhaftes Verhalten im Rahmen der ihm zustehenden Vermögensverwaltung die ihm obliegenden steuerlichen Pflichten verletzt hat und dadurch Steuern verkürzt worden sind.
3. Zur Frage, ob die Betätigung des Rechtsanwalts als Konkursverwalter zu seiner Berufsausübung gehört.
4. Die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts als Haftenden ist in einem am 1. Januar 1977 anhängigen Verfahren nicht davon abhängig, daß im ehrengerichtlichen Verfahren eine Entscheidung dahin ergangen ist, die für die Erfüllung des Haftungstatbestands maßgebenden Handlungen enthielten eine Verletzung seiner Berufspflichten. Das gilt auch dann, wenn das Verfahren zwar am 1. Januar 1977 noch nicht anhängig war, der haftungsbegründende Tatbestand aber vor dem 1. Januar 1977 verwirklicht worden ist.
5. Eine Tatsachenfeststellung i.S. des § 118 Abs. 2 FGO liegt auch dann vor, wenn sie sich aus einem Bescheid ergibt, der Grundlage der angefochtenen finanzgerichtlichen Entscheidung ist, und wenn die Urteilsgründe des FG einen Hinweis auf diesen Bescheid enthalten; dabei ist nicht erforderlich, daß der Bescheid näher bezeichnet ist.
Normenkette
AO §§ 104, 109; AO 1977 § 191 Abs. 2; EGAO 1977 Art. 97 §§ 1, 11; FGO § 118 Abs. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein Rechtsanwalt, wurde durch Beschluß des Amtsgerichts zum Konkursverwalter über das Vermögen der X-AG ernannt. In dieser Eigenschaft verkaufte er im April 1972 an R. mehrere Grundstücke der Gemeinschuldnerin sowie die gesamten Maschinen und sonstigen Betriebseinrichtungen einer Schlachterei. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger durch Haftungsbescheid vom November 1978 für die - durch bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheid festgesetzte restliche - Umsatzsteuerschuld und für die angefallenen Säumniszuschläge als Haftenden in Anspruch.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen folgendes aus:
Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Klägers als Haftenden nach § 109 der Reichsabgabenordnung (AO) i.V. m. den §§ 103 und 104 AO lägen vor. Der Kläger habe als Konkursverwalter schuldhaft dadurch Steuern verkürzt, daß er die bei der Veräußerung von Anlagegütern der Gemeinschuldnerin angefallene und bestandskräftig festgesetzte Umsatzsteuerschuld nicht an das FA entrichtet habe. Das ,,Haftungsprivileg" nach § 109 Abs. 2 AO komme dem Kläger nicht zugute. Diese Vorschrift sei im Streitfall zwar anwendbar. Die anspruchsbegründende Pflichtverletzung des Klägers beziehe sich aber nicht auf den typisch anwaltlichen Bereich. Der Kläger habe nicht in Ausübung seines Berufs gehandelt. Der Konkursverwalter übe für den Gemeinschuldner unternehmerische Funktionen aus. Er sei als Organ mit dem Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft vergleichbar. Die vom FG vertretene Auffassung sei auch verfassungsrechtlich geboten. Das Amt des Konkursverwalters nähmen neben Rechtsanwälten hauptsächlich Volks-, Betriebs- und Sozialwirte wahr, vereinzelt auch Angehörige der steuerberatenden Berufe. Es sei nicht vertretbar, Rechtsanwälten und Angehörigen der steuerberatenden Berufe das Haftungsprivileg des § 109 Abs. 2 AO prinzipiell wegen deren Berufszugehörigkeit zuzuerkennen, während andere in gleicher Funktion tätige Personen dieses Privileg nicht genießen würden.
Der Kläger legte mit folgender Begründung Revision ein:
Das FG verkenne Sinn und Zweck der Haftungsbeschränkung nach § 109 Abs. 2 AO. Diese Vorschrift sei vor allem deshalb geschaffen worden, um zu verhindern, daß die Anwaltschaft sich von der steuerberatenden Tätigkeit zurückziehe. Gerade bei der Konkursverwaltertätigkeit von Anwälten müßten häufig auch steuerliche Fragen überprüft und Vorschriften des Steuerrechts vielfältiger Art beachtet werden, wie der Streitfall beweise. Da der Haftungsmaßstab nach § 109 Abs. 1 AO - ausreichend sei bereits leichte Fahrlässigkeit - wesentlich schärfer sei als der nach § 69 der Abgabenordnung (AO 1977), habe der Gesetzgeber in § 109 Abs. 2 AO für bestimmte Berufsgruppen ein gewisses Haftungskorrektiv geschaffen, um die grundsätzlich scharfe Haftung abzumildern; andernfalls sei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen gewesen, daß Rechtsanwälte sich wegen des hohen Haftungsrisikos nicht mehr zur Übernahme steuerberatender Tätigkeit oder eines Konkursverwalteramts bereitgefunden hätten. Im übrigen sei zu berücksichtigen, daß der Anwalt neben einem Konkursverwalteramt seine eigene Anwaltspraxis zu betreuen habe. In Anbetracht der dadurch bedingten verstärkten Arbeitsbelastung ließen sich gerade auch bei der Konkursverwaltertätigkeit im Zusammenhang mit der Prüfung steuerlicher Fragen Fehlbeurteilungen durch den Anwalt nicht ohne weiteres ausschließen. Auch deshalb habe der Gesetzgeber es für gerechtfertigt erachtet, durch die einschränkende Regelung in § 109 Abs. 2 AO einen gewissen Ausgleich für den scharfen Haftungsmaßstab nach § 109 Abs. 1 AO zu schaffen. Die Betrachtungsweise des FG führe auch dazu, daß der mit § 109 Abs. 2 AO bezweckte Schutz der Anwaltschaft weitgehend gegenstandslos und zumindest lückenhaft werde.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil sowie den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es führt aus, daß es die Rechtsauffassung des FG zur Auslegung des § 109 Abs. 2 AO teile, unabhängig davon aber weiterhin die Auffassung vertrete, daß § 191 Abs. 2 AO 1977 und nicht § 109 Abs. 2 AO anwendbar sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Entscheidung des FG, nach der der angefochtene Haftungsbescheid rechtmäßig ist, ist frei von Rechtsirrtum.
1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß im Streitfall § 109 Abs. 1 AO Rechtsgrundlage für die Inanspruchnahme des Klägers als Haftenden ist. Aus Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) ergibt sich, daß diese Vorschrift in den Fällen anwendbar bleibt, in denen der haftungsbegründende Tatbestand nicht nach dem 31. Dezember 1976 verwirklicht worden ist. So liegt hier der Fall, weil die steuerbegründenden Lieferungen vor diesem Stichtag bewirkt worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes - UStG -).
2. Nach § 109 Abs. 1 AO i.V.m. § 104 AO haften Personen, denen eine Vermögensverwaltung aufgrund behördlicher Anordnung zusteht, für die Zahlung einer Steuerschuld, soweit sie durch schuldhaftes Verhalten im Rahmen der ihnen zustehenden Vermögensverwaltung die ihnen obliegenden Pflichten im Sinne des § 104 AO verletzt haben und dadurch Steuern verkürzt worden sind. Den Ausführungen des FG ist zu entnehmen, daß dieser gesetzliche Tatbestand im Streitfall im Jahre 1972 und damit nicht erst nach dem 31. Dezember 1976 verwirklicht worden ist. Zur Vermögensverwaltung nach Anordnung der Behörde im Sinne des § 104 AO gehört auch die Tätigkeit des vom Gericht ernannten Konkursverwalters (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 104 A 1).
Nach den Ausführungen des FG ist die bestandskräftig festgesetzte Umsatzsteuer im Jahre 1972 entstanden. Die Umsätze hätten in den Voranmeldungen angegeben und die Steuer im Jahre 1972 gezahlt werden müssen (§ 18 Abs. 2 UStG). Durch die Nichtzahlung ist der Umsatzsteueranspruch verkürzt worden. Der Kläger hat, wie das FG rechtsfehlerfrei dargelegt hat, auch schuldhaft gehandelt. Gegen die Erfüllung der Voraussetzungen nach § 109 Abs. 1 AO haben die Beteiligten im Revisionsverfahren auch keine Einwendungen erhoben.
3. Ein Rechtsanwalt ist aufgrund § 109 Abs. 2 Satz 1 AO wegen Handlungen, die er in Ausübung seines Berufs vorgenommen hat, nach § 109 Abs. 1 AO allerdings nur dann haftbar, wenn diese Handlungen eine Verletzung seiner Berufspflicht enthalten.
Auch wenn der Senat davon ausgeht, daß § 109 Abs. 2 Satz 1 AO im Streitfall anwendbar ist - Art. 97 § 11 EGAO 1977 spricht dafür -, ist der Haftungsbescheid rechtmäßig. Dabei braucht nicht entschieden zu werden, ob der Kläger die genannten Handlungen in Ausübung seines Berufs vorgenommen und dabei Berufspflichten verletzt hat.
Hat er die Handlungen nicht in Ausübung seines Berufs vorgenommen, so ist seine Inanspruchnahme nach § 109 Abs. 1 AO nicht davon abhängig, daß die Handlungen eine Verletzung von Berufspflichten enthalten.
Hat der Kläger die Handlungen in Ausübung seines Berufs vorgenommen, so enthalten sie schon deshalb eine Verletzung von Berufspflichten, weil dann die ordnungsgemäße Voranmeldung und fristgerechte Zahlung der durch das Verhalten des Klägers entstandenen Umsatzsteuer als Berufspflicht anzusehen ist. Ein Rechtsanwalt hat im Rahmen seiner Berufsausübung auch die steuerrechtlichen Pflichten ordnungsgemäß zu erfüllen (vgl. Isele, Bundesrechtsanwaltsordnung, S. 717f.).
Im Schrifttum herrscht die Meinung vor, daß die Betätigung des Rechtsanwalts als Konkursverwalter zur Berufsausübung gehört (vgl. Isele, a.a.O., S. 3 und S. 513f.; Altenhoff, Rechtsberatungsgesetz, 6. Aufl., Rz. 317; Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 191 AO 1977 Anm. 81; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 5; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 191 AO 1977 Anm. 4; Helsper in Koch, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 191 Rz. 9). Auch der Bundesfinanzhof - BFH - (Urteil vom 17. Oktober 1957 V 167/55 U, BFHE 65, 573, BStBl III 1957, 453) hat diese Meinung vertreten. Ob die Entscheidung des BFH (Urteil vom 27. Juni 1973 I R 172/71, BFHE 110, 171, BStBl II 1973, 832), daß Steuerbevollmächtigte, die als Liquidatoren juristischer Personen tätig werden, nicht in Ausübung ihres Berufs handeln, zu einer anderen Entscheidung Anlaß gibt, wie das FG meint, braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden, da der Kläger, wie dargelegt, unabhängig davon als Haftender in Anspruch zu nehmen ist, ob er in Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt gehandelt hat.
4. Entgegen der Auffassung des Klägers ist seine Inanspruchnahme als Haftender nicht davon abhängig, daß im ehrengerichtlichen Verfahren eine Entscheidung dahin ergangen ist, die Handlungen, die zur Erfüllung des Haftungstatbestandes nach § 109 Abs. 1 AO geführt haben, enthielten eine Verletzung der Berufspflichten des Klägers als Rechtsanwalt. Anstelle der Regelung in § 109 Abs. 2 Satz 2 AO ist im Streitfall diejenige in § 191 Abs. 2 AO 1977 anzuwenden. Das folgt aus Art. 97 § 1 EGAO 1977. Nach dieser Vorschrift ist ein Verfahren, das am 1. Januar 1977 anhängig war, nach den Vorschriften der AO 1977 zu Ende zu führen, soweit in den dem Art. 97 § 1 EGAO 1977 nachfolgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist.
a) Im Streitfall kann aufgrund der Ausführungen des FG zwar nicht festgestellt werden, daß das Verfahren wegen der streitbefangenen Haftung bereits am 1. Januar 1977 anhängig war. Darauf kommt es aber auch nicht an. Sollte das Haftungsverfahren am 1. Januar 1977 noch nicht anhängig gewesen sein, so muß aus Art. 97 § 1 Abs. 1 EGAO 1977 entnommen werden, daß das gesamte Haftungsverfahren nach den Vorschriften der AO zu führen ist, soweit sich aus den Vorschriften des EGAO 1977 nichts anderes ergibt. Daraus folgt, daß das Haftungsverfahren im Streitfall unabhängig davon nach den Vorschriften der AO 1977 geführt werden muß, ob es am 1. Januar 1977 anhängig war.
b) Die Änderungen gegenüber der Regelung in Art. 97 § 1 EGAO 1977 hinsichtlich der Haftung sind in Art. 97 § 11 EGAO 1977 bestimmt. In dieser Vorschrift ist § 191 Abs. 2 AO 1977 zwar nicht genannt. Daraus folgt jedoch nicht, daß § 191 Abs. 2 AO 1977 im Streitfall etwa wegen der Verwirklichung des haftungsbegründenden Tatbestands vor dem 1. Januar 1977 nicht anwendbar sei.
Bei der Beurteilung dieser Frage ist zu beachten, daß eine Regelung entsprechend derjenigen in § 109 Abs. 2 Satz 2 AO nicht in die AO 1977 aufgenommen worden ist. Sie war zunächst in § 69 des Entwurfs einer AO der Bundesregierung (BTDrucks VI/1982) vorgesehen, wurde aber vom Finanzausschuß des Deutschen Bundestages gestrichen (vgl. Bericht und Antrag des Finanzausschusses zu § 69, BTDrucks 7/4292 S. 23), und zwar mit der Begründung, es sei systematisch nicht zu vertreten, die Haftung eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe von einer vorherigen ehren- oder berufsgerichtlichen Maßnahme abhängig zu machen (vgl. Ausführungen in Bericht und Antrag des Finanzausschusses, BTDrucks 7/4292 S. 8 unter I. 4. b), ff), auf die sich die Ausführungen über die Streichung des § 69 Abs. 2 des Regierungsentwurfs der AO beziehen). Anstelle der Regelung in § 69 Abs. 2 des Regierungsentwurfs der AO wurde sodann auf Anregung des Finanzausschusses die Regelung in § 191 Abs. 2 AO 1977 in den Entwurf aufgenommen (vgl. Bericht und Antrag des Finanzausschusses, BTDrucks 7/4292 S. 34 zu § 191, und S. 104, § 191 Abs. 2). Dieser Regelung liegt - wie derjenigen in § 411 AO 1977 - erkennbar die Erwägung zugrunde, den Sachverstand der Berufskammern für Haftungsverfahren gegen Angehörige der steuerberatenden Berufe zwar nutzbar zu machen (vgl. Bericht und Antrag des Finanzausschusses, BTDrucks 7/4292 S. 8), ohne jedoch die Entscheidung darüber, ob eine Pflichtverletzung vorliegt, der Finanzbehörde zu entziehen.
Aus dieser Entwicklung des § 191 Abs. 2 AO 1977 ist ersichtlich, daß diese Vorschrift an die Stelle des § 109 Abs. 2 Satz 2 AO getreten ist. Da in Art. 97 § 11 EGAO 1977 für die Anwendung des § 191 Abs. 2 AO 1977 keine besondere Regelung getroffen ist, muß aus Art. 97 § 1 EGAO 1977 gefolgert werden, daß § 191 Abs. 2 AO 1977 und nicht § 109 Abs. 2 Satz 2 AO in Haftungsverfahren anwendbar ist, die am 1. Januar 1977 anhängig waren oder erst nach diesem Zeitpunkt anhängig geworden sind.
Für die Anwendbarkeit des § 191 Abs. 2 AO 1977 anstelle der Regelung in § 109 Abs. 2 Satz 2 AO ist ohne Bedeutung, ob diese zuletzt genannte Regelung Auswirkungen auf die Voraussetzungen für eine Haftung nach § 109 Abs. 1 AO und infolgedessen materiell-rechtliche Auswirkungen hatte und ob aufgrund der Regelung in Art. 97 § 1 EGAO 1977 in Fällen, in denen der haftungsbegründende Tatbestand zwar vor dem 1. Januar 1977, das Haftungsverfahren aber nach diesem Zeitpunkt durchgeführt oder weitergeführt wird, grundsätzlich auch die Vorschriften der AO 1977 in materiell-rechtlicher Hinsicht anzuwenden sind. Denn § 191 Abs. 2 AO 1977 betrifft das Verfahren im Sinne des Art. 97 § 1 EGAO 1977, und aus dieser Vorschrift ist zu entnehmen, daß grundsätzlich zumindest alle Vorschriften der AO 1977, die das Verfahren betreffen, anzuwenden sind, wenn das Verfahren nach dem 1. Januar 1977 durchgeführt oder weitergeführt wird. Eine Einschränkung dahin, daß Vorschriften über die Führung des Verfahrens, die materiell-rechtliche Auswirkungen haben, grundsätzlich nicht anzuwenden seien, kann der Regelung in Art. 97 § 1 EGAO 1977 nicht entnommen werden. Sie wäre auch mit dem Sinn und Zweck des § 191 Abs. 2 AO 1977 nicht vereinbar. Wie sich aus der aufgezeigten Entwicklungsgeschichte dieser Vorschrift ergibt, ist sie mit dem Ziel erlassen worden, eine als systemwidrig erkannte Regelung, wie sie in § 109 Abs. 2 AO und zunächst auch in dem Regierungsentwurf einer AO enthalten war, zu ersetzen. Diesem Gesetzeszweck würde es nicht gerecht, wenn § 109 Abs. 2 Satz 2 AO weiterhin angewandt würde.
Die Anwendung des § 191 Abs. 2 AO 1977 führt auch nicht zu einer verfassungswidrigen Rückwirkung. Die Regelung in § 109 Abs. 2 Satz 2 AO betrifft die Befugnis zur Entscheidung darüber, ob eine Verletzung der Berufspflicht vorliegt; sie enthält also Verfahrensrecht. Auch die Regelung in § 191 Abs. 2 AO 1977 gehört zum Verfahrensrecht. Grundsätzlich ist es verfassungsrechtlich aber unbedenklich, das Verfahrensrecht vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an auf in zu diesem Zeitpunkt bereits anhängige Verfahren anzuwenden; der Bürger kann nicht darauf vertrauen, daß Verfahrensrecht unverändert bleibt (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 11. März 1975 2 BvR 135-139/75, BVerfGE 39, 156, 167, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des BVerfG).
Im Schrifttum (Tipke/Kruse, a.a.O., 11. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 5) wird allerdings die Auffassung vertreten, daß in Fällen, in denen der haftungsbegründende Tatbestand vor dem 1. Januar 1977 verwirklicht worden ist, § 109 Abs. 2 AO und nicht § 191 Abs. 2 AO 1977 anzuwenden sei. Diese Auffassung wird daraus gefolgert, daß § 191 Abs. 2 AO 1977 in Art. 97 § 11 EGAO 1977 nicht genannt ist. Dieser Auffassung ist zumindest hinsichtlich der Regelung in § 109 Abs. 2 Satz 2 AO nicht zu folgen. Sie berücksichtigt nicht, daß die Regelung, wie dargelegt, die Verfahrensführung betrifft, als solche durch § 191 Abs. 2 AO 1977 ersetzt worden ist und daß infolgedessen § 191 Abs. 2 AO 1977 aufgrund des Art. 97 § 1 EGAO 1977 anzuwenden ist. Aus diesem Grunde war eine besondere Regelung über die Anwendbarkeit des § 191 Abs. 2 AO 1977 auch für Fälle, in denen der haftungsbegründende Tatbestand vor dem 1. Januar 1977 verwirklicht worden ist und das Verfahren am 1. Januar 1977 noch nicht abgeschlossen war, nicht erforderlich.
5. Da im Streitfall § 191 Abs. 2 AO 1977 anzuwenden ist, reicht es für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids aus, daß der zuständigen Rechtsanwaltskammer Gelegenheit zur Äußerung zu der Frage nach einer Verletzung von Berufspflichten gegeben worden ist. Davon kann im Streitfall ausgegangen werden. In den Gründen des FG ist zwar nicht ausdrücklich erwähnt, daß das FA der zuständigen Rechtsanwaltskammer Gelegenheit zur Stellungnahme im Sinne des § 191 Abs. 2 AO 1977 gegeben hat. Daraus folgt im Streitfall jedoch nicht, daß es insoweit an einer entsprechenden Tatsachenfeststellung des FG fehlt. Eine Tatsachenfeststellung im Sinne des § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegt zumindest auch dann vor, wenn sie sich aus einem Bescheid ergibt, der Grundlage der finanzgerichtlichen Entscheidung ist, und wenn die Urteilsgründe des FG einen Hinweis auf diesen Bescheid enthalten, wobei nicht erforderlich ist, daß der Bescheid näher bezeichnet ist (vgl. Entscheidungen des BFH vom 17. Juli 1967 GrS 3/66, BFHE 91, 213, 217, BStBl II 1968, 285, und vom 10. Mai 1968 VI R 7/66, BFHE 92, 333, 335, BStBl II 1968, 589). Das trifft im Streitfall zu.
Das FA hat im Einspruchsbescheid darauf hingewiesen, daß es die Rechtsanwaltskammer auf die vermeintliche Pflichtverletzung und auf die beabsichtigte Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner - vor Erlaß des Haftungsbescheids - hingewiesen und daß die Rechtsanwaltskammer keine Stellungnahme abgegeben habe. Das FG hat diesen Einspruchsbescheid durch den Hinweis auf das erfolglose Einspruchsverfahren in den Urteilsgründen in Bezug genommen. Im übrigen ergeben sich weder aus den Ausführungen des FG noch aus denen der Beteiligten Anhaltspunkte dafür, daß die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung unzutreffend seien.
Fundstellen
Haufe-Index 414269 |
BFH/NV 1986, 134 |