Entscheidungsstichwort (Thema)
Neue Tatsachen i.S. des § 173 Abs.1 Nr.1, 2 AO 1977: dem zuständigen Beamten möglicherweise bekannte Tatsachen, Veranlagung des neu zuständigen FA ohne die Steuerakten, Ermittlungspflicht des FG, Begriff der "Tatsache" - fehlende Begründung eines Verwaltungsakts als "Verletzung der Form" i.S. des § 127 AO 1977 - vergessene AfA keine offenbare Unrichtigkeit
Leitsatz (amtlich)
Im Rahmen des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 gilt eine Tatsache nicht als bekannt, die der zuständige Beamte lediglich hätte kennen können oder kennen müssen.
Orientierungssatz
1. Wird in der Steuererklärung die AfA nach § 7 Abs.5 EStG "vergessen" und veranlagt das neu zuständige FA ohne die noch beim "alten" FA befindlichen Steuerakten, so stellt die nicht gewährte AfA keine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 dar (vgl. hierzu Rechtsprechung). Es kommt aber eine Änderung des Steuerbescheids nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 in Betracht, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran angelastet werden kann, daß die tatsächlichen Voraussetzungen für die AfA dem FA erst nachträglich bekannt geworden sind.
2. Unter Tatsache i.S. des § 173 Abs.1 AO 1977 ist alles zu verstehen, was Merkmal oder Teilstück eines steuergesetzlichen Tatbestandes sein kann. Neu ist eine Tatsache, wenn sie dem zuständigen Bediensteten des FA beim Abschluß der Willensbildung in bezug auf den zu ändernden Steuerbescheid nicht bekannt war. Für § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 gilt Entsprechendes.
3. Das FG darf die Entscheidung über die Frage, ob die Kläger ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 trifft, nicht allein deswegen unterlassen, weil das FA sie in der Einspruchsentscheidung nicht getroffen hat. Die Verpflichtung des FG, die Spruchreife der Sache durch eigene Aufklärung herbeizuführen, gilt allerdings nicht ohne Einschränkung, z.B. dann nicht, wenn umfangreiche Feststellungen getroffen werden müssen. Sie gilt aber jedenfalls dann, wenn sich die entscheidungserheblichen Tatsachen aus den Akten des FA ergeben. Damit greift das FG nicht in die dem FA zustehenden Funktionen ein; im übrigen gebietet dies die Verfahrensökonomie.
4. Das Unterlassen der Begründung eines Verwaltungsakts ist eine "Verletzung der Form" i.S. des § 127 AO 1977, die den Verwaltungsakt nicht nichtig macht und nicht zu seiner Aufhebung führen kann, wenn in der Sache keine andere Entscheidung getroffen hätte werden können.
Normenkette
AO 1977 § 121 Abs. 1, §§ 125, 127, 129, 173 Abs. 1 Nrn. 1-2; EStG § 7 Abs. 5; FGO § 76 Abs. 1
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute, erklärten in ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (1988) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Absetzungen für Abnutzung (AfA) machten die Kläger nicht geltend, die dafür vorgesehenen Zeilen 47 bis 51 der Anlage V zur Einkommensteuererklärung hatten sie nicht ausgefüllt.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) veranlagte erklärungsgemäß. Die Einkommensteuerakten der Vorjahre lagen ihm dabei nicht vor. Sie befanden sich noch bei dem bis 1987 zuständigen FA E. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Unter Hinweis auf § 129 der Abgabenordnung (AO 1977) beantragten die Kläger knapp zwei Jahre später die Änderung des Bescheids. Sie machten geltend, die Fehlerhaftigkeit der Erklärung sei für das FA als offenbare Unrichtigkeit erkennbar gewesen. Dementsprechend seien bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung nunmehr AfA als Werbungskosten nach § 7 Abs.5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 8 958 DM zu berücksichtigen. Das FA lehnte den Antrag ab. Der Einspruch, mit dem die Kläger eine Änderung des Bescheids 1988 in erster Linie unter Berufung auf § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 begehrten, blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hob die angefochtene Verfügung des FA sowie die Einspruchsentscheidung auf und wies die Klage im übrigen ab. Das FA habe seine Entscheidung zu § 129 AO 1977 unter Verletzung des § 88 AO 1977 getroffen; es habe mit einer Entscheidung warten müssen, bis ihm die Akten des zuvor zuständigen FA E vorlagen. Da das FA bis zum Abschluß des Einspruchsverfahrens auch die rechtlichen Voraussetzungen des § 129 AO 1977 nicht näher dargelegt habe, fehle der ablehnenden Entscheidung die gemäß § 121 Abs.1 AO 1977 erforderliche Begründung. Zu Unrecht berufe sich das FA auch darauf, daß ihm der Inhalt der beim FA E verbliebenen Akten trotz Wechsels der örtlichen Zuständigkeit i.S. von § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 bekanntgewesen sei. Die Sache sei nur entscheidungsreif, wenn das FA festgestellt hätte, daß alle Voraussetzungen des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977, insbesondere mangelndes grobes Verschulden der Kläger, gegeben seien. Das sei bisher nicht geschehen, daher sei ein Bescheidungsurteil gemäß § 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geboten.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung der §§ 173 Abs.1 Nr.2, 129, 121 Abs.1 AO 1977, § 96 Abs.1 Satz 1 FGO. Durch den Zuständigkeitswechsel seien die einmal bekanntgewordenen Tatsachen nicht wieder unbekannt geworden. Das neu zuständig gewordene FA trete in die Verfahrensstellung des zuvor zuständigen FA ein.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger haben keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet, sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
1. a) Das FA hat es zu Recht abgelehnt, den Einkommensteuerbescheid 1988 gemäß § 129 AO 1977 zu ändern.
Danach kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten jederzeit berichtigen, insgesamt also mechanische Versehen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. März 1987 VI R 63/84, BFH/NV 1987, 480). Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung oder Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen, schließen die Anwendung des § 129 AO 1977 aus (BFH-Urteile vom 24. Mai 1977 IV R 44/74, BFHE 122, 393, BStBl II 1977, 853, und in BFH/NV 1987, 480). Entgegen der Ansicht des FG konnte das FA danach die Voraussetzungen des § 129 AO 1977 ohne Rechtsverstoß bereits deshalb verneinen, weil die AfA in der Einkommensteuererklärung der Kläger nicht angesetzt worden war und das FA ohne die Kenntnis der Akten der Vorjahre diesen Fehler der Kläger als offenbare Unrichtigkeit nicht erkennen konnte (BFH-Urteile vom 31. Juli 1990 I R 116/88, BFHE 162, 115, BStBl II 1991, 22, m.w.N., und vom 23. Januar 1991 I R 26/90, BFH/NV 1992, 359).
b) Abgesehen davon, daß der Senat die Auffassung des FG, die Verfügung des FA vom 3. Juni 1991 enthalte keine Begründung i.S. des § 121 Abs.1 AO 1977, nicht teilt, hätte die Verfügung nicht allein wegen Verletzung des § 121 Abs.1 AO 1977 aufgehoben werden dürfen. Nach § 127 AO 1977 kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO 1977 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über die Form zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Letzteres ist hier der Fall (vgl. oben zu 1. a). Eine Verletzung der Form ist auch das Unterlassen der Begründung (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 121 AO, Tz.13, § 127 AO, Tz.6); sie macht den Verwaltungsakt nicht nichtig (BFH-Beschluß vom 17. Juli 1984 VII S 9/84, BFH/NV 1986, 583). Wenn aber der Steuerpflichtige keinen Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts hat, dann ist auch das FG nicht berechtigt, diesen aufzuheben.
2. Das FG hat die Einspruchsentscheidung auch deshalb aufgehoben, weil das FA zu Unrecht "die Tatsache der angefochtenen AfA" i.S. des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 als ihm bekannt angesehen habe.
Unter Tatsache i.S. des § 173 Abs.1 AO 1977 ist alles zu verstehen, was Merkmal oder Teilstück eines steuergesetzlichen Tatbestandes sein kann (BFH-Urteile vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960, und vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346). Im Streitfall sind das die tatsächlichen Voraussetzungen der AfA gemäß § 7 Abs.5 EStG im Streitjahr 1988.
Das FG ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, daß diese Tatsachen dem FA mit dem Schreiben der Kläger vom 14. Mai 1991 nachträglich bekanntgeworden sind, d.h. daß sie dem FA neu waren. Neu ist eine Tatsache gemäß § 173 Abs.1 AO 1977 dann, wenn sie dem zuständigen Bediensteten des FA beim Abschluß der Willensbildung in bezug auf den zu ändernden Steuerbescheid nicht bekannt war (BFH-Urteil vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492, zu 1. a). Diese Entscheidung ist zwar zu § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 ergangen. Für § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 gilt jedoch Entsprechendes. Das Vorliegen der AfA-Voraussetzungen war dem FA nicht bereits deshalb bekannt, weil sie zum Teil --d.h. was die Voraussetzungen des § 7 Abs.5 EStG für die Vorjahre betraf-- dem FA E bekannt waren, bei dem die Kläger für die Vorjahre zur Einkommensteuer veranlagt worden waren. Die Entscheidungen des BFH, die im Falle des Zuständigkeitswechsels die Kenntnis des alten FA beim neu zuständigen FA unterstellen, betreffen § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 (z.B. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1993 III R 74/82, BFH/NV 1994, 315, zu 3.). Im Rahmen des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 kann eine Tatsache dagegen nicht als bekannt gelten, die der zuständige Beamte lediglich hätte kennen können oder kennen müssen; das FA kann sich nicht zum Nachteil der Steuerpflichtigen auf sein eigenes Versäumnis oder Verschulden berufen (vgl. BFH-Urteile vom 13. April 1967 V 57/65, BFHE 88, 540, BStBl III 1967, 519, zu § 222 Abs.1 Ziff.1 der Reichsabgabenordnung, und vom 9. August 1991 III R 24/97, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65).
Eine Änderung gemäß § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ist hier nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Ansatz der AfA gemäß § 7 Abs.5 EStG erst mit Bekanntwerden ihrer tatsächlichen Voraussetzungen beantragt wurde (vgl. BFH-Urteil in BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960).
Obwohl im Streitfall eine neue Tatsache gegeben ist, kann der streitige Einkommensteuerbescheid 1988 nur geändert werden, wenn die Kläger kein grobes Verschulden daran trifft, daß diese Tatsache erst nachträglich bekannt wurde (§ 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977). Das FG hat dazu zu Unrecht keine Feststellungen getroffen, so daß die Sache zurückzuverweisen war (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
Das FG durfte die Entscheidung über die Frage, ob die Kläger ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 trifft, nicht allein deshalb unterlassen, weil das FA sie in der Einspruchsentscheidung nicht getroffen hatte. Das FG ist grundsätzlich verpflichtet, die Spruchreife einer Sache durch eigene Aufklärung (§ 76 Abs.1 Satz 1 FGO) herbeizuführen. Diese Verpflichtung gilt allerdings nicht ohne Einschränkung, z.B. dann nicht, wenn umfangreichere Feststellungen getroffen werden müssen (vgl. BFH-Urteile vom 8. Dezember 1983 IV R 170/81, BFHE 139, 553, BStBl II 1984, 200, und vom 7. April 1987 IX R 103/85, BFHE 150, 124, BStBl II 1987, 707, unter 2.).
Sie gilt aber jedenfalls dann, wenn sich die entscheidungserheblichen Tatsachen aus den Akten des FA ergeben. Nachdem es im Streitfall im Gegensatz zum FA die Neuheit der Tatsache i.S. des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 bejaht hatte, hätte das FG durch eigene Ermittlungen die Sache grundsätzlich soweit zur Spruchreife bringen müssen, daß eine Entscheidung darüber, ob das FA im Ergebnis zu Recht die Voraussetzungen des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 verneint hatte, möglich war (vgl. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17.Aufl., § 101 FGO Anm.3). Damit greift das FG nicht in den Finanzbehörden zustehenden Funktionen ein; im übrigen gebietet dies die Verfahrensökonomie (vgl. dazu Kühn/Hofmann, AO, FGO, 17.Aufl., § 101 FGO Anm.3; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 101, Anm.4; Tipke/Kruse, a.a.O., § 101 FGO Tz.2). Das FG wird im zweiten Rechtsgang die erforderlichen Ermittlungen nachholen.
Fundstellen
Haufe-Index 66095 |
BFH/NV 1997, 243 |
BStBl II 1997, 422 |
BFHE 182, 2 |
BFHE 1997, 2 |
BB 1997, 982 (Leitsatz) |
DB 1997, 1064 (Leitsatz) |
DStRE 1997, 433-434 (Leitsatz und Gründe) |
DStZ 1997, 763 (Leitsatz) |
HFR 1997, 465-466 (Leitsatz) |
StE 1997, 272 (Kurzwiedergabe) |