Leitsatz (amtlich)
1. Der Senat hält an der ständigen Rechtsprechung fest (vgl. BFH-Urteil vom 27.August 1968 II R 82/67, BFHE 93, 344, BStBl II 1968, 781), daß für die Frage, ob ein Verlust am festgesetzten Kapital eingetreten ist, nicht die in der Bilanz ausgewiesenen Buchwerte, sondern die wahren Vermögenswerte maßgebend sind.
2. Unter dem durch den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung festgesetzten Kapital i.S. des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 ist der Kapital-Sollbetrag zu verstehen, dem das Gesellschaftsvermögen mindestens entsprechen soll. Der (teilweise) Verlust des Kapital-Sollbetrages löst den von § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 begünstigten Zweck aus.
3. Der Wortlaut des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 erlaubt es nicht, dem gezeichneten Kapital die stillen Reserven hinzuzurechnen, die von der Gesellschaft gebildet wurden und derentwegen frühere Verlustübernahmen des Organträgers dem vollen Gesellschaftsteuersatz unterlagen.
Normenkette
KVStG 1972 § 2 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, § 8 S. 1 Nr. 2, § 9 Abs. 2 Nr. 1
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GmbH, die mit ihren zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammengeschlossenen Gesellschafterinnen mit Wirkung ab dem 1.Januar 1976 einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abschloß. Aufgrund dieses Vertrages übernahmen die Gesellschafterinnen der Klägerin deren Verlust 1980 in Höhe von rd. 71,4 Mio DM. In der Verlustübernahme sehen die Beteiligten übereinstimmend eine gesellschaftsteuerpflichtige Leistung i.S. des § 2 Abs.1 Nr.2 i.V.m. § 4 des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG) 1972. Streitig ist nur die Höhe des anzuwendenden Steuersatzes.
Während die Klägerin für den gesamten Verlustausgleich die Anwendung des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 begehrte und begehrt, sah und sieht der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) in dem Verlustausgleich eine Maßnahme i.S. des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 nur bis zu einem Betrag von rd. 30,9 Mio DM, weil der weitergehende Verlust durch in den Jahren 1976 bis 1980 vorgenommene Importwarenabschläge (§ 80 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung --EStDV--) und Abschreibungen nach § 6 Abs.2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) entstanden sei. Das FA gewährte deshalb den ermäßigten Steuersatz nur für den Betrag von rd. 30,9 Mio DM und setzte die Gesellschaftsteuer durch Bescheid vom 11.August 1981 auf 560 214 DM fest. Die Klägerin wies demgegenüber bereits mit ihrem Einspruch darauf hin, daß die jetzt festgestellten stillen Reserven schon zu einer Besteuerung der Verlustausgleiche 1976 und 1977 mit dem normalen Steuersatz geführt hätten. Die stillen Reserven dürften deshalb bei der Ermittlung des "wirklichen Verlustes" 1980 nicht noch einmal berücksichtigt werden.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Nach § 2 Abs.1 Nr.2 KVStG 1972 unterliegen Leistungen, die von dem Gesellschafter einer inländischen Kapitalgesellschaft aufgrund einer im Gesellschaftsverhältnis begründeten Verpflichtung bewirkt werden, der Gesellschaftsteuer. Ergänzend dazu bestimmt § 2 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972, daß die Übernahme eines Verlustes der Kapitalgesellschaft durch den Gesellschafter als Leistung i.S. des § 2 Abs.1 Nr.2 KVStG 1972 gilt, wenn zwischen der Kapitalgesellschaft und dem Gesellschafter ein schriftlicher Ergebnisabführungsvertrag besteht. Gemäß § 4 KVStG 1972 wird die Steuerpflicht nicht dadurch ausgeschlossen, daß Leistungen i.S. des § 2 KVStG 1972 nicht vom Gesellschafter, sondern von einer Personenvereinigung bewirkt werden, an der der Gesellschafter beteiligt ist.
Zu diesen Voraussetzungen hat das FG in tatsächlicher Hinsicht in einer den erkennenden Senat bindenden Weise festgestellt (§ 118 Abs.2 FGO), daß die Klägerin eine GmbH war. Sie war damit Kapitalgesellschaft i.S. des § 5 Abs.1 Nr.3 KVStG 1972. Zwischen der Klägerin und ihren in einer GbR zusammengeschlossenen Gesellschafterinnen bestand ein schriftlicher Ergebnisabführungsvertrag. Aufgrund dieses Ergebnisabführungsvertrages übernahmen die Gesellschafter der Klägerin deren Verlust 1980 in Höhe von rd. 71,4 Mio DM. Damit gilt die Verlustübernahme als Leistung i.S. des § 2 Abs.1 Nr.2 KVStG 1972.
2. Gemäß § 8 Satz 1 Nr.2 KVStG 1972 wird in den Fällen des § 2 Abs.1 Nr.2 KVStG 1972 die Gesellschaftsteuer vom Wert der Leistung erhoben. Da die Leistung im Streitfall in der Verlustübernahme durch die Gesellschafter der Klägerin bestand, bildet der übernommene Verlust den Steuermaßstab. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der Senat auch insoweit gebunden ist, betrug er rd. 71,4 Mio DM.
3. a) Gemäß § 9 Abs.1 Nr.2 KVStG 1972 beträgt der Steuersatz grundsätzlich 1 v.H. des Steuermaßstabes. Gemäß § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 ermäßigt sich der Steuersatz um 50 v.H., wenn der (hier:) nach § 2 Abs.1 Nr.2 KVStG 1972 steuerpflichtige Rechtsvorgang entweder zur Deckung einer Überschuldung oder zur Deckung eines Verlustes an dem durch den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung festgesetzten Kapital erforderlich ist.
b) Eine Überschuldung i.S. des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 ist gegeben, wenn die Schulden der Kapitalgesellschaft den Wert ihres Aktivvermögens übersteigen. Das FG hat zwar in tatsächlicher Hinsicht keine Feststellungen zur Höhe des Aktivvermögens und zur Höhe der Schulden der Klägerin getroffen. Es hat jedoch stille Reserven in Höhe von 40,5 Mio DM für das Ende des Wirtschaftsjahres 1980 festgestellt. Auch gehen die Beteiligten übereinstimmend davon aus, daß die stillen Reserven in Höhe von 40,5 Mio DM eine den Betrag von 30,9 Mio DM übersteigende Überschuldung ausschließen. Bei dieser Sachlage machen die fehlenden Feststellungen zum Aktivvermögen und zur Höhe der Schulden der Klägerin keine Aufhebung der Vorentscheidung und keine Zurückverweisung der Sache an das FG erforderlich. Durch den Erlaß eines Vorbescheides erhalten die Beteiligten Gelegenheit, evtl. Bedenken gegen dieses Vorgehen vorzubringen.
c) Ein Verlust an dem durch Gesellschaftsvertrag oder Satzung festgesetzten Kapital ist gegeben, wenn der Aktivsaldo zwischen dem (Brutto-)Vermögen und den Schulden der Kapitalgesellschaft niedriger als das gezeichnete Kapital ist. Dazu haben sowohl der Reichsfinanzhof --RFH-- (vgl. Urteile vom 14.Juli 1925 II A 368/25, RFHE 17, 49, RStBl 1925, 202; vom 3.Mai 1927 II A 113/27, RStBl 1927, 182; vom 13.Mai 1930 II A 169/30, Mrozek, Steuerrechtsprechung in Karteiform --StRK--, Kapitalverkehrsteuergesetz 1922, § 13 zu b, Rechtsspruch 30; vom 12.Januar 1934 II A 540/32, RStBl 1934, 700) als auch der Bundesfinanzhof --BFH-- (vgl. Urteil vom 27.August 1968 II R 82/67, BFHE 93, 344, 347, BStBl II 1968, 781, m.w.N.) zum KVStG 1922 und zum KVStG 1959 entschieden, daß für die Frage, ob ein Verlust am festgesetzten Kapital vorliegt, nicht die in der Bilanz ausgewiesenen, sondern die wahren Vermögenswerte maßgebend sind. An dieser Auffassung hält der erkennende Senat auch für die Anwendung des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 fest. Die Vorschrift bestimmt nicht näher, wann eine Überschuldung bzw. wann ein Verlust an dem festgesetzten Kapital gegeben ist. Dies ist durch Auslegung der Vorschrift entsprechend ihrem Wortlaut, ihrem Bedeutungszusammenhang innerhalb des Gesetzes sowie der Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers zu bestimmen. Dabei ist einmal von Bedeutung, daß die Vorschrift in beiden hier interessierenden Tatbestandsalternativen einem einheitlichen Zweck dient; sie soll die Sanierung notleidend gewordener Kapitalgesellschaften durch Zuführung neuen Kapitals begünstigen (vgl. BFH-Urteil vom 21.September 1977 II R 21/73, BFHE 124, 79, BStBl II 1978, 136, m.w.N.). Der einheitliche Zweck spricht dann aber dafür, die Überschuldung einerseits und den Verlust am festgesetzten Kapital andererseits nach einheitlichen Grundsätzen zu ermitteln.
Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 dem § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1934 und 1959 sowie dem § 13 Buchst.b KVStG 1922 sachlich entspricht. Für alle genannten Vorgänger-Vorschriften hatten aber der RFH bzw. der BFH --wie oben dargelegt-- die Auffassung vertreten, daß sowohl für die Frage, ob eine Überschuldung vorliegt, als auch für die Frage, ob das festgesetzte Kapital verloren gegangen ist, auf die wahren Vermögenswerte abzustellen ist. Hätte der Gesetzgeber des KVStG 1972 diese Rechtsprechung als unzutreffende Auslegung des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 verstanden, so hätte eine Änderung der Vorschriften des KVStG 1972 auf der Hand gelegen. Der Gesetzgeber des KVStG 1972 sah jedoch keine Notwendigkeit, § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 abweichend von seinen Vorgänger-Vorschriften zu formulieren. Dies muß in dem Sinne verstanden werden, daß er die ständige Rechtsprechung zu den Vorgänger-Vorschriften billigend in Kauf nahm.
Der Klägerin ist zwar zuzugeben, daß z.B. der in §§ 30, 31 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) zum Ausdruck kommende zentrale Gedanke der Kapitalerhaltung einer Kapitalgesellschaft (vgl. dazu Scholz/Westermann, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 7.Aufl., § 30 Anm.1) auch eine andere Auslegung des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 plausibel erscheinen lassen würde. Es ist jedoch nicht zu erkennen, daß § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 ein derart weitgehendes Ziel verfolgt, zumal die §§ 30, 31 GmbHG nur vor Kapitalverlusten durch offene oder verdeckte Ausschüttungen, nicht aber vor Kapitalverlusten durch Jahresfehlbeträge schützen.
d) Das in § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 erwähnte "durch den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung festgesetzte Kapital" ist begrifflich mit dem gezeichneten Kapital i.S. des § 272 Abs.1 des Handelsgesetzbuches (HGB) n.F., mit dem Grundkapital i.S. der §§ 1 Abs.2 und 6 des Aktiengesetzes (AktG) bzw. mit dem Stammkapital i.S. der §§ 3 Abs.1 Nr.3 und 5 GmbHG identisch. Hierunter ist der im Gesellschaftsvertrag oder in der Gesellschaftssatzung stets festzusetzende Kapital-Sollbetrag zu verstehen, dem das Gesellschaftsvermögen mindestens entsprechen soll und dessen (teilweiser) Verlust den von § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 begünstigten Zweck auslöst. Der Wortlaut der Vorschrift erlaubt es nicht, dem gezeichneten Kapital die stillen Reserven hinzuzurechnen, die von der Gesellschaft gebildet wurden und derentwegen frühere Verlustübernahmen dem vollen Gesellschaftsteuersatz unterlagen. § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 begünstigt nur Verluste am "festgesetzten Kapital", nicht aber auch Verluste am Eigenkapital, dessen Zufuhr der Gesellschaftsteuer unterlag. Dies folgt nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, sondern ebenso z.B. aus § 2 Abs.1 Nr.1 KVStG 1972, der auf die Kapitalzufuhr nicht abstellt. Auch im übrigen muß auf die Zufuhr des "festgesetzten Kapitals" keine Gesellschaftsteuer erhoben worden sein. Das "festgesetzte Kapital" kann z.B. durch Erhöhung des Nennkapitals aufgrund einer Umwandlung offener Rücklagen gesellschaftsteuerfrei entstanden sein (§ 7 Abs.3 Nr.2 Buchst.a KVStG 1972). Umgekehrt begründet § 2 Abs.1 Nrn.2 bis 4 KVStG 1972 eine Gesellschaftsteuerpflicht für solche Rechtsvorgänge, die zwar zur Bildung von Eigenkapital, nicht aber zur Bildung eines "festgesetzten Kapitals" führen. Dies macht deutlich, daß § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 losgelöst davon anzuwenden ist, ob das verloren gegangene "festgesetzte Kapital" der Gesellschaftsteuer unterworfen war. Entsprechend kann auch nicht umgekehrt aus der Zufuhr von der Gesellschaftsteuer unterworfenem Eigenkapital gefolgert werden, dieses sei als "festgesetztes Kapital" zu behandeln. Das "festgesetzte Kapital" i.S. des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 ist ein aliud gegenüber dem der Gesellschaftsteuer unterworfenen Eigenkapital. Der Wortlaut des Gesetzes erlaubt es nicht, den einen Begriff durch den anderen zu ersetzen. Zwar hätte der Gesetzgeber § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 auch im Sinne des Klagebegehrens fassen können. Da er dies jedoch nicht getan hat, sind die Gerichte und die Verwaltung an den geltenden Gesetzestext gebunden (Art.20 Abs.3 des Grundgesetzes).
4. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG verfügte die Klägerin zum Ende ihres Wirtschaftsjahres 1980 über stille Reserven in Höhe von rd. 40,5 Mio DM. Diese stillen Reserven schließen einen Verlust am "festgesetzten Kapital" der Klägerin über den Betrag von 30,9 Mio DM hinaus aus. Deshalb hat das FG die Klage zu Recht abgewiesen. Bezüglich des den Betrag von 30,9 Mio DM übersteigenden Verlustes sind die Voraussetzungen des § 9 Abs.2 Nr.1 KVStG 1972 nicht erfüllt.
Fundstellen
Haufe-Index 62106 |
BFH/NV 1989, 7 |
BStBl II 1989, 246 |
BFHE 155, 160 |
BFHE 1989, 160 |
BB 1989, 1678-1679 (LT1-3) |
DB 1989, 462-463 (LT) |
HFR 1989, 200 (LT) |