Leitsatz (amtlich)
Liegt für das dem streitigen Veranlagungszeitraum vorangegangene Wirtschaftsjahr eine ordnungsmäßige Buchführung nicht vor, beruht aber die Gewinnermittlung für dieses Wirtschaftsjahr auf einer vom Betriebsprüfer gefertigten Vermögensaufstellung, so ist das Vermögen, das sich nach dieser Vermögensaufstellung ergibt, für den streitigen Veranlagungszeitraum "das Betriebsvermögen am Schluß des vorangegangenen Wirtschaftsjahres" im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG. Die vom BFH zur Frage des Bilanzenzusammenhangs entwickelten Grundsätze (vgl. BFH-Urteil I 136/60 S vom 27. März 1962, BFH 75, 10, BStBl III 1962, 273, und BFH-Beschluß Gr. S. 1/65 S vom 29. November 1965, BFH 84, 392, BStBl III 1966, 142) sind auch in Fällen dieser Art anzuwenden.
Normenkette
EStG 1960 § 4 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Bei der Revisionsklägerin (Steuerpflichtigen), die seit 1954 eine Tankstelle betreibt, wurde für die Veranlagungszeiträume 1954 bis einschließlich 1959 eine Betriebsprüfung durchgeführt. Da der Prüfer die von der Steuerpflichtigen nach der Methode der doppelten Buchführung geführten Aufzeichnungen nicht für ordnungsgemäß hielt, ermittelte er die Gewinne dieser Jahre im Wege einer Schätzung. Diese führte er in Anlehnung an die Vorschrift des § 4 Abs. 1 EStG in der Weise durch, daß er das Kapital bei Betriebsbeginn und das Kapital am 31. Dezember 1959 feststellte und die sich aus beiden Werten ergebende Differenz (nach Hinzurechnung der Entnahmen und nach Abzug der Einlagen) im Wege der Schätzung auf die einzelnen Jahre des Prüfungszeitraums verteilte. Das Kapital zum 31. Dezember 1959 ermittelte er durch Ansatz der einzelnen Aktiv- und Passivposten, wobei er sich teilweise auf die vorhandenen Buchführungsunterlagen (z. B. Entwicklung der Anlagewerte und des Inventars), teilweise auf die von einer Mineralölgesellschaft während der Betriebsprüfung angeforderten Kontenauszüge sowie auf Bankauszüge stützte. Als rein geschätzte Werte sind nur der Warenbestand (Autozubehör) in Höhe von 900 DM und die Hilfsstoffe (Heizöl usw.) in Höhe von 130 DM angesetzt.
Die vom Revisionsbeklagten (FA) unter Zugrundelegung dieser Feststellungen durchgeführten berichtigten Veranlagungen bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 1959 sind bestandskräftig.
Zum Zwecke der Gewinnermittlung für das Streitjahr 1960 erstellte die Steuerpflichtige eine "Eröffnungsbilanz zum 1.1.1960" und reichte sie dem FA ein. Diese Eröffnungsbilanz wich von der vom Betriebsprüfer zum 31. Dezember 1959 erstellten Vermögensübersicht in mehreren Punkten ab und ergab ein um 21 881 DM geringeres Kapital als vom Prüfer errechnet worden ist. Die Abweichungen betrafen im wesentlichen die Geschäftsbeziehungen zwischen der Steuerpflichtigen und der Mineralölgesellschaft. Der Vergleich des so von der Steuerpflichtigen errechneten Betriebsvermögens zum 1. Januar 1960 mit dem sich aus der Bilanz zum 31. Dezember 1960 ergebenden Betriebsvermögen wies nach Berücksichtigung der Einlagen und Entnahmen einen Gewinn 1960 in Höhe von 21 958 DM aus. Gleichwohl erklärte die Steuerpflichtige in ihrer Einkommensteuererklärung 1960 nur 77 DM als Gewinn aus Gewerbebetrieb, da nach den Grundsätzen des Bilanzenzusammenhangs nicht die von ihr erstellte Eröffnungsbilanz zum 1. Januar 1960, sondern die Vermögensaufstellung des Betriebsprüfers zum 31. Dezember 1959 der Gewinnermittlung 1960 zugrunde zu legen sei. Das Anfangskapital und damit auch der Gewinn 1960 ermäßige sich daher um 21 881 DM.
Das FA schloß sich dem Vorbringen der Steuerpflichtigen nicht an. Es legte der Einkommensteuer-Veranlagung 1960 einen Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von 21 958 DM zugrunde.
Einspruch und Berufung der Steuerpflichtigen blieben ohne Erfolg.
Das FG begründete seine Entscheidung damit, daß die vom Betriebsprüfer zum 31. Dezember 1959 gefertigte Aufstellung über das Betriebsvermögen nicht als Jahresschlußbilanz angesehen werden könne. Diese Aufstellung habe dem Prüfer nur als Grundlage für eine Gewinnschätzung gedient. Wenn die angesetzten Werte zum Teil falsch gewesen seien, so habe dies zwar Einfluß auf die Höhe der geschätzten Besteuerungsgrundlagen in den Vorjahren haben können; da die auf diesen geschätzten Grundlagen beruhenden Einkommensteuerbescheide jedoch rechtskräftig geworden seien, komme eine Nachprüfung nicht mehr in Betracht.
Fehle aber der vom Prüfer gefertigten Aufstellung der Charakter einer Jahresschlußbilanz, so sei die Steuerpflichtige nicht gehalten gewesen, die darin aufgenommenen Werte fortzuführen, soweit diese unrichtig seien. Vielmehr habe sie eine Anfangsbilanz auf den 1. Januar 1960 errichten und dieser diejenigen Bilanzierungswerte zugrunde legen müssen, die sich nach den handels- oder steuerrechtlichen Vorschriften ergäben. Als Gewinn des Jahres 1960 sei dann der Unterschiedsbetrag zwischen dem in dieser Anfangsbilanz ausgewiesenen Betriebsvermögen und dem in der Bilanz zum 31. Dezember 1960 ausgewiesenen Betriebsvermögen nach Berücksichtigung der Einlagen und Entnahmen anzusehen.
Mit der gemäß § 184 FGO als Revision zu behandelnden Rb. beantragt die Steuerpflichtige die Aufhebung der Vorentscheidungen und die Freistellung von der Einkommensteuer. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 4 Abs. 1 EStG. Die Bilanzwerte zum 31.12.1959 seien im Wege der Inventur festgestellt worden. Auf dieser Grundlage habe das FA in zutreffender Anwendung des steuerlichen Gewinnbegriffs den Gewinn für die Veranlagungszeiträume 1954 bis 1959 mit insgesamt 40 500 DM errechnet und im Schätzungswege auf die einzelnen Veranlagungszeiträume aufgeteilt. Die Auffassung des FG, der vom Prüfer zum 31. Dezember 1959 gefertigten Betriebsvermögensaufstellung komme die Wirkung einer Schlußbilanz nicht zu, sei unrichtig. Bilanz im Sinne der Vorschriften über die Gewinnermittlung sei jede Vermögensübersicht, die ein Betriebsvermögen ausweise, das einem Vermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 EStG zugrunde gelegen habe. Daß diverse Positionen einer solchen Vermögensübersicht fehlerhaft seien, nehme dieser nicht den Charakter einer Bilanz.
Das FA stellte zur Revision keinen Antrag und verzichtete auf weitere Ausführungen zur Sache.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist begründet.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG in Verbindung mit § 5 EStG ist Gewinn der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluß des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluß des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen. Die Auffassung der Vorinstanz, die vom Betriebsprüfer zum 31. Dezember 1959 gefertigte Vermögensaufstellung müsse schon deshalb bei der Gewinnermittlung 1960 außer Betracht bleiben, weil sie nicht als eine auf der Grundlage einer ordnungsmäßigen Buchführung erstellte Schlußbilanz auf den 31. Dezember 1959 anzusehen sei, findet in § 4 EStG keine Stütze. In der Regel ist zwar ein den steuerlichen Bilanzierungsvorschriften genügender Wertansatz für die einzelnen Wirtschaftsgüter nur möglich, wenn eine ordnungsgemäße Buchführung vorhanden ist. Indes erscheint es bei Betrieben einfacherer Art, die sich nur einer geringen Zahl von Wirtschaftsgütern bedienen, denkbar, daß die richtigen Werte der Wirtschaftsgüter unter Beachtung dieser Vorschriften auch dann festgestellt werden können, wenn nur unvollständige Aufzeichnungen vorhanden sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Gewerbebetrieb - wie im vorliegenden Falle - erst einige Jahre besteht. Kann aber das Betriebsvermögen zum Schluß eines Wirtschaftsjahres ermittelt werden und geschieht dies, so ist dieses Betriebsvermögen der Gewinnermittlung dieses Wirtschaftsjahres zugrunde zu legen, wie es im vorliegenden Falle auch geschehen ist. Daß hierbei die Werte zweier untergeordneter Posten geschätzt wurden, ist unbeachtlich, da erkennbar ist, daß auch diese Wirtschaftsgüter nicht unter Verkennung der Vorschrift des § 6 EStG angesetzt wurden. Das sich aus der Vermögensaufstellung zum 31. Dezember 1959 des Betriebsprüfers ergebende Betriebsvermögen ist somit als Betriebsvermögen am Schluß des dem Streitjahr vorangegangenen Wirtschaftsjahres im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG anzusehen.
Hieraus und aus den vom Senat zur Frage des Bilanzenzusammenhangs entwickelten Grundsätzen, denen der Große Senat des BFH beigetreten ist (vgl. BFH-Urteil I 136/60 S vom 27. März 1962, BFH 75, 10, BStBl III 1962, 273, und BFH-Beschluß Gr.S. 1/65 S vom 29. November 1965, BFH 84, 392, BStBl III 1966, 142), ergibt sich, daß das vom Betriebsprüfer zum 31. Dezember 1959 errechnete Betriebsvermögen - unabhängig davon, ob es zutreffend ermittelt wurde - auch der Gewinnermittlung des Streitjahres zugrunde gelegt werden muß; denn auf diesem Betriebsvermögen beruht die bestandskräftig durchgeführte Einkommensteuer-Veranlagung 1959. Die vom BFH im Urteil I 136/60 S, a. a. O., und im Beschluß Gr.S. 1/65 S, a. a. O., entwickelten Grundsätze sind wesentlich mit beeinflußt von der Überlegung, daß es nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Sinn und Zweck des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG entspricht, fehlerhafte Bilanzierungen in der Weise auszugleichen, daß frühere Einnahmen in einer späteren Gewinnperiode herangezogen, früher eingetretene Verluste in einem späteren Bilanzzeitraum steuerlich berücksichtigt werden. Die Zweischneidigkeit der Veranlagungsbilanzen und der durch sie bewirkte selbsttätige Ausgleich von Bilanzierungsfehlern machen den steuerrechtlichen Gehalt des Grundsatzes der Bilanzkontinuität aus. Diese Überlegung muß auch in den Fällen der vorliegenden Art berücksichtigt werden, in denen zwar eine auf ordnungsmäßiger Buchführung beruhende Schlußbilanz des Vorjahres fehlt, statt ihrer aber auf Grund anderweitig festgestellter Werte eine Vermögensaufstellung gefertigt werden konnte und gefertigt wurde, auf der die Gewinnermittlung des Vorjahres beruht. Der Senat ist der Auffassung, daß eine solche Vermögensaufstellung ebenso als Bilanz "am Schluß des vorangegangenen Wirtschaftsjahres" anzusehen ist, wie eine auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung erstellte Schlußbilanz.
Das Urteil des RFH I A 259/32 vom 10. Oktober 1933 (RStBl 1934, 141) steht dem nicht entgegen. In dem dort entschiedenen Fall waren der Buchführung und damit der auf ihr beruhenden Schlußbilanz des Vorjahres die Ordnungsmäßigkeit abgesprochen und der Gewinn des Vorjahres ohne Rücksicht auf die Schlußbilanz mit einem Vomhundertsatz des Umsatzes geschätzt worden. Ein Zusammenhang zwischen Schlußbilanz und zu versteuerndem Gewinn des Vorjahres fehlte. Gerade dadurch unterscheidet sich aber jener Sachverhalt von dem hier zu entscheidenden Fall.
Fundstellen
Haufe-Index 412861 |
BStBl II 1968, 261 |
BFHE 1968, 76 |