Rn 149
Mit der gesetzlichen Neuregelung beabsichtigte der Gesetzgeber, Konfliktpotential zwischen dem selbstständig tätigen Schuldner sowie dem Insolvenzverwalter zu entschärfen sowie die Masse vor Masseverbindlichkeiten, die eng mit der selbstständigen Tätigkeit des Schuldners verbunden sind, zu schützen. Die Gesetzesbegründung der Bundesregierung zu der Neufassung von § 35 beruft sich im Wesentlichen auf die umfangreichen Probleme, die sich in der Insolvenzpraxis stellten, wenn der Schuldner vor Verfahrenseröffnung selbstständig tätig war und auch danach weiterhin selbstständig tätig sein wollte. Die seinerzeitigen Probleme traten insbesondere dadurch auf, dass nach der alten Rechtslage sämtliche Einkünfte, die der Schuldner nach der Verfahrenseröffnung erzielte, ohne Abzug für beruflich bedingte Ausgaben zur Insolvenzmasse zählten, wodurch der Anreiz für den Schuldner, offiziell – also mit Kenntnis des Insolvenzverwalters – außerhalb des Insolvenzverfahrens selbstständig tätig zu sein, gegen Null lief. Der Insolvenzverwalter hingegen musste bei einer selbstständigen Tätigkeit des Schuldners – auch wenn er dieser nicht zugestimmt hatte – verhindern, dass die Masse infolge der selbstständigen Tätigkeit mit Verbindlichkeiten, insbesondere Steuerverbindlichkeiten, belastet wurde. Daher waren Konflikte zwischen Schuldner und Insolvenzverwalter vorprogrammiert. Der Schuldner musste im Regelfall entweder heimlich tätig werden oder war zur Untätigkeit gezwungen, obwohl die Gläubiger ein großes Interesse daran haben, dass der Schuldner seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Anreicherung der Masse einsetzt. Die vorbezeichneten Probleme traten in der Praxis insbesondere dann auf, wenn die Schuldner nicht kooperationswillig waren. Aufgrund der bereits in § 32 Abs. 3 geregelten Freigabeoption ist dem neu eingefügten Abs. 2 in erster Linie Klarstellungsfunktion beizumessen. In Anlehnung an das Institut der Freigabe wollte der Gesetzgeber daher eine Gesetzesgrundlage schaffen, um den Schuldner zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit zu motivieren und zugleich eine Gefährdung der Masse zu verhindern.
Rn 150
Immer noch nicht abschließend geklärt ist, wodurch genau bei einer selbstständigen Tätigkeit des Schuldners Masseverbindlichkeiten begründet werden können. Auch der Gesetzgeber hat im Zusammenhang mit der Neufassung von § 35 solche Voraussetzungen nicht klar formuliert. Die Gesetzesmaterialien schweigen sich dazu aus, bei welchen Sachverhaltskonstellationen durch die selbstständige Tätigkeit des Schuldners Masseverbindlichkeiten begründet werden und somit eine Gefährdung der Masse anzunehmen ist. Insofern ist es bedenklich, dass die Gesetzesmaterialien teilweise in unzutreffender Weise den Eindruck erwecken, dass durch die selbstständige Tätigkeit des Schuldners per se Masseverbindlichkeiten begründet werden könnten. Als rechtlicher Anknüpfungspunkt für die Begründung von Masseverbindlichkeiten bei einer selbstständigen Tätigkeit des Schuldners ist zutreffenderweise auf § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Bezug zu nehmen. Die Begründung einer Masseverbindlichkeit durch die selbstständige Tätigkeit des Schuldners wird in Rechtsprechung und Literatur immer dann verneint, wenn diese ohne oder gegen den Willen des Insolvenzverwalters erfolgt oder wenn der Schuldner die steuerpflichtige Leistung durch seine Arbeit und mit Gegenständen erbracht hat, die gem. § 811 Nr. 5 ZPO unpfändbar sind. Die dem Insolvenzverwalter eingeräumte Freigabemöglichkeit kann insoweit aber nicht dazu führen, dass über den Anwendungsbereich von § 35 Abs. 2 hinaus die Begründung von Masseverbindlichkeiten unterstellt wird, nur weil der Insolvenzverwalter von seinem Freigaberecht keinen Gebrauch gemacht hat. Über § 35 Abs. 2 können daher die Tatbestandsvoraussetzungen insbesondere von § 55 Abs. 1 Nr. 1 nicht ersetzt werden, indem man das Dulden der selbstständigen Tätigkeit durch den Verwalter als "Handlung" klassifiziert. Eine solche Gesetzesauslegung stünde auch im klaren Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers, der im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch einmal eindeutig formuliert hat, dass Masseverbindlichkeiten im Insolvenzverfahren nur kraft Gesetzes gemäß § 54 entstehen oder durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter nach § 55 begründet werden und nicht per se dadurch, dass der Insolvenzverwalter es unterlässt, eine Freigabeerklärung abzugeben.