Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung. soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Sekundäropfer. Fehlen einer personalen Beziehung zum Primäropfer. zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen. Rechtsanwendung im Einzelfall. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung
Orientierungssatz
1. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang zwischen der Gewalttat und den psychischen Auswirkungen beim Sekundäropfer begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt (vgl BSG vom 12.6.2003 - B 9 VG 1/02 R = BSGE 91, 107 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3).
2. Wendet sich der Kläger in der Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde dagegen, dass das LSG - ausgehend von der Rechtsprechung des BSG - im konkreten Einzelfall nicht die erforderliche zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Ereignis angenommen hat, wird hiermit keine grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache dargelegt.
3. Folgt das Gericht der vom Beklagten vertretenen Rechtsauffassung, muss der Kläger zur Darlegung einer Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 EUGrdRCh, Art 6 Abs 1 MRK) darlegen, wieso er keine Gelegenheit gehabt haben sollte, sich zu dieser Rechtsauffassung zu äußern.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 62; GG Art. 103 Abs. 1; EUGrdRCh Art. 47 Abs. 2; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 24. September 2013 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt in der Hauptsache Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), nachdem er am 2.9.2006 als zufällig vorbeikommender Passant auf dem M.
eine durch eine Gewalttat schwerverletzte sterbende Frau auffand, ohne ihr wegen ihres aggressiven Hundes am Tatort helfen zu können. Der Beklagte lehnte die begehrte Opferentschädigung ab (Bescheid vom 30.1.2008, Widerspruchsbescheid vom 31.7.2008). Das SG hat den Beklagten nach neurologisch-psychiatrischer Begutachtung des Klägers verurteilt, als Schädigungsfolge "Posttraumatische Belastungsstörung" anzuerkennen und für die Zeit vom 2.9.2006 bis zum 2.3.2007 einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 sowie für die anschließende Zeit einen GdS von 40 festzustellen (Gerichtsbescheid vom 1.7.2011). Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG die Klage nach weiterer sozialmedizinischer Begutachtung abgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, zwar seien nach der Rechtsprechung des BSG auch Sekundäropfer in den Schutzbereich des § 1 Abs 1 OEG einbezogen. Es fehle jedoch die in diesen Fällen vorausgesetzte zeitliche, örtliche und personale Nähe zur Gewalttat (Urteil vom 24.9.2013).
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und des Verfahrensfehlers.
1. Der Kläger legt die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN).
Der Kläger wirft zwar die Rechtsfrage auf, "ob ein Sekundäropfer bei einer zeitlichen und örtlichen Nähe zum Primäropfer wie (im) hier gegebenen Fall auch ohne persönliche Nähe (wie z.B. Ehe, etc.) einen Anspruch auf Leistungen nach § 1 Abs. 1 OEG haben kann, wenn das Sekundäropfer zwar nicht Zeuge der Gewalttat, aber Zeuge des Sterbens bzw. der Rechtsfolge war, unmittelbar nach dem Gewaltakt am Tatort eintrifft und subjektiv noch der Auffassung ist, dass es sich am Tatort in unmittelbarer Gefahr befindet."
Der Senat lässt dahingestellt, ob der Kläger hiermit eine in allen Punkten hinreichend klare Rechtsfrage formuliert. Jedenfalls aber fehlt es an der erforderlichen Darlegung des Klärungsbedarfs. Klärungsbedürftigkeit ist ua dann nicht gegeben, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65) oder wenn sich für die Antwort in höchstrichterlichen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte finden lassen (vgl BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8). Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann dennoch klärungsbedürftig sein, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 S 19 mwN), was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl BSG Beschluss vom 31.7.2013 - B 9 SB 98/12 B - RdNr 9).
Danach hätte sich die Beschwerdebegründung näher mit der vom LSG zugrunde gelegten Rechtsprechung des erkennenden Senats auseinandersetzen müssen, die davon ausgeht, dass auch Sekundäropfer in den Schutzbereich des § 1 Abs 1 OEG einbezogen sein können, wenn die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sind, dass beide eine natürliche Einheit bilden. In diesem Zusammenhang hätte die Beschwerdebegründung insbesondere darauf eingehen müssen, dass maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs die zeitliche, örtliche und personale Nähe ist, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt (BSGE 91, 107, 109 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3 S 11).
Hiervon ausgehend hätte in der Beschwerdebegründung dargelegt werden müssen, dass diese Rechtsprechung keine ausreichenden Anhaltspunkte zur Beurteilung der vorliegenden Situation gibt und der weiteren Konkretisierung bedarf. Dies ist nicht der Fall. Der Sache nach wendet sich die Beschwerdebegründung mit ihrer detailgenauen Fragestellung dagegen, dass das LSG - ausgehend von der Rechtsprechung des BSG - im Fall des Klägers nicht die (vom Kläger in seiner Frage unterstellte) erforderliche zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Ereignis angenommen hat, obwohl der Kläger unmittelbar nach Verletzung des Opfers am Tatort eintraf, dem Sterben des Opfers zusehen musste und subjektiv das Gefühl hatte, am Tatort selbst gefährdet zu sein. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist jedoch nur dann dargelegt, wenn aufgrund der Ausführungen des Beschwerdeführers zu erwarten ist, dass die Entscheidung geeignet ist, in künftigen Revisionsverfahren die Rechtseinheit zu erhalten oder zu sichern oder die Fortbildung des Rechts zu fördern. Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist dagegen nicht, ob das LSG die Sache richtig entschieden hat. Gerade dies macht aber der Kläger zum Gegenstand seiner Nichtzulassungsbeschwerde. Im Kern möchte er nämlich die Würdigung der Einzelumstände durch das Berufungsgericht durch seine eigene Würdigung ersetzt wissen. Damit wendet sich die Beschwerdebegründung gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG. Diese ist indessen nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Soweit er geltend macht, nach der Entscheidung des SG und dem im Erörterungstermin vom Berichterstatter beim LSG vorgeschlagenen Vergleich auf der Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens sei er von der Entscheidung des LSG-Senats überrascht worden, macht er allerdings sinngemäß eine Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) in Gestalt einer Überraschungsentscheidung geltend. Allerdings darf ein Urteil nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerfG ≪Kammer≫ NJW 2003, 2524 ; BSG Beschluss vom 3.2.2010 - B 6 KA 45/09 B - mwN). Der Grundsatz soll indes lediglich verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Auffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. In diesem Rahmen besteht hingegen kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichtet, die Beteiligten vor einem Urteil die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1). Der Kläger legt nicht dar und kann angesichts des Vortrags des Beklagten sowie Verlaufs des Erörterungstermins auch nicht darlegen, wieso er keine Gelegenheit gehabt sollte, sich zu der vom Beklagten vertretenen Rechtsauffassung, der das LSG schließlich gefolgt ist, zu äußern.
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen