Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsfrage. Beweiswürdigung. Sachaufklärung. Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Beweisantrag
Leitsatz (redaktionell)
1. Mit der Frage, wie sich das Gericht zu verhalten habe, wenn unterschiedliche Gutachten vorlägen die jeweils zu anderen Ergebnissen gelangten, die jedoch für den Verfahrensausgang essentiell wichtig seien, wird keine Rechtsfrage bezeichnet, sondern diese Fragestellung zielt auf die Klärung und Bewertung von Tatsachen ab und beinhaltet im Kern letztlich eine Frage der Beweiswürdigung und der Sachaufklärung.
2. Die Zulassung der Revision kann nicht mit der Behauptung verlangt werden, das LSG habe gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verstoßen.
3. Die Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht ist nur statthaft, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
4. Ein Beschwerdeführer kann die gesetzlichen Beschränkungen der Verfahrensrügen nicht dadurch erfolgreich umgehen, dass er die Rügen in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung kleidet.
Normenkette
SGG § 73 Abs. 4, §§ 103, 106, 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
SG Braunschweig (Entscheidung vom 16.06.2015; Aktenzeichen S 11 SB 55/12) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 29.11.2018; Aktenzeichen L 10 SB 74/15) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. November 2018 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Das LSG hat mit Urteil vom 29.11.2018 den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger ab November 2018 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 festzustellen. Soweit der Kläger die Feststellung eines GdB von mehr als 30 für die Zeit vor Januar 2013 und von mehr als 40 für die Zeit von November 2018 begehre, sei ein solcher Anspruch nicht gegeben. Nach den insgesamt vorliegenden medizinischen Befunden sei die Vergabe eines Einzel-GdB für den Bereich des rechten Kniegelenks für die Zeit vor Januar 2013 nicht gerechtfertigt, für die Zeit danach liege der Gesamt-GdB nicht über 40. Insoweit gehe der Senat davon aus, dass eine Verschlechterung der Situation der Hüftgelenke mit der Folge eines höheren Einzel-GdB auch für die Zeit seit Januar 2013 nicht nachgewiesen sei. Für die Zeit seit November 2018 habe der Kläger allerdings Anspruch auf die Feststellung eines GdB von 50, weil die Beeinträchtigung durch die durch Endoprothesen versorgten Hüftgelenke mit einem Wert von 20 nicht mehr ausreichend bemessen sei. Zusätzlich zu der Schmerzhaftigkeit der linken Hüfte sei bei der Bewertung des GdB zu berücksichtigen, dass auch das linke obere Sprunggelenk beeinträchtigt sei, sodass sich die nachteilig auf die Gehfunktion auswirkenden Störungen besonders ungünstig ergänzten. Der Senat habe sich von dem Vorliegen der letztlich für die Höherbewertung des GdB maßgebenden Funktionsstörungen erst anlässlich der von dem Kläger im Termin der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Schilderung seiner Einschränkungen überzeugen können, sodass die Feststellung eines GdB von 50 erst ab dem Monat der mündlichen Verhandlung in Betracht komme.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgrund die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, eine Divergenz und einen Verfahrensmangel geltend.
II
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung vom 6.2.2019 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe in der hierfür erforderlichen Weise nicht dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - Juris RdNr 6 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Der Kläger trägt vor, im vorliegenden Fall existierten unterschiedliche Gutachten, die jeweils zu einem anderen Ergebnis gelangten, indem sie den GdB unterschiedlich hoch bewerteten. Es gehe daher um die "Frage, wie sich das Gericht zu verhalten hat, wenn unterschiedliche Gutachten vorliegen die jeweils zu anderen Ergebnissen gelangen, die jedoch für den Verfahrensausgang essentiell wichtig sind".
Damit hat er jedoch bereits keine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet. Vielmehr zielt die Fragestellung auf die Klärung und Bewertung von Tatsachen ab und beinhaltet im Kern letztlich eine Frage der Beweiswürdigung und der Sachaufklärung. Die Zulassung der Revision kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG aber nicht mit der Behauptung verlangt werden, das LSG habe gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verstoßen. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass die Beschwerde ausdrücklich eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG geltend macht, sondern auch dann, wenn sie ihre Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG in das Gewand einer Grundsatzrüge zu kleiden versucht. Entsprechendes gilt für die Sachaufklärungsrüge. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG ist die Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG nur statthaft, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Ein Beschwerdeführer kann diese gesetzlichen Beschränkungen der Verfahrensrügen in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - soweit sie reichen - nicht dadurch erfolgreich umgehen, dass er die Rügen in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung kleidet (vgl BSG Beschluss vom 28.2.2018 - B 1 KR 65/17 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 25.10.2017 - B 1 KR 18/17 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - Juris RdNr 6). Der Kläger zeigt nicht auf, dass es hier um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung geht, bei der die gesetzlichen Beschränkungen der Verfahrensrügen nicht greifen. So betreffen die Ausführungen des Klägers in der Beschwerdebegründung auch nur die aus seiner Sicht fehlerhaften tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des LSG in seinem Einzelfall. Aber selbst wenn man die von dem Kläger formulierte Frage in eine Rechtsfrage "umdeuten" könnte und wollte, hat er es unterlassen, die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung darzulegen. Er geht nicht darauf ein, inwieweit die Frage bereits durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt sei. Die bloße Behauptung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Art, "die bislang nicht höchstrichterlich entschieden wurde", reicht nicht aus.
2. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die in zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht. Die Beschwerdebegründung muss also erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das Revisionsgericht die höchstrichterliche Rechtsprechung in einem künftigen Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, zB BSG Beschluss vom 13.12.2017 - B 5 R 256/17 B - Juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 13 R 140/17 B - Juris RdNr 12 f). Hierzu fehlen Ausführungen in der Beschwerde vollständig.
3. Der Kläger hat auch den geltend gemachten Verfahrensmangel einer fehlenden Sachaufklärung (§ 103 SGG) nicht in der gebotenen Weise bezeichnet.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensfehler kann aber nach § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG nicht - wie oben bereits ausgeführt - auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) gestützt werden. Letzteres ist hier der Fall, soweit der Kläger dem LSG in der Beschwerdebegründung vorwirft, es sei zu weiteren Ermittlungen verpflichtet gewesen und er deshalb mit der Auswertung und Würdigung der vorliegenden Sachverständigengutachten durch das Berufungsgericht nicht einverstanden ist (vgl BSG Beschluss vom 10.1.2005 - B 1 KR 69/03 B - Juris RdNr 8). Auf Mängel in der Beweiswürdigung kann die Nichtzulassungsbeschwerde zudem selbst dann nicht gestützt werden, wenn offensichtliche Widersprüche zwischen der Folgerung des Gerichts und der Aussage von Sachverständigen vorliegen sollten (vgl BSG Beschluss vom 25.10.2017 - B 1 KR 18/17 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 8.10.1992 - 13 BJ 89/92 - Juris RdNr 5).
Soweit der Kläger rügt, das LSG hätte ein weiteres Sachverständigengutachten in Auftrag geben müssen, kann er sich schon deshalb nicht auf den Verfahrensfehler einer unterlassenen Sachaufklärung mit Erfolg berufen, weil er keinen bis zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom LSG aufrechterhaltenen Beweisantrag benannt hat, den das LSG übergangen haben könnte (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG; zu den Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge siehe hierzu allgemein Senatsbeschluss vom 21.12.2017 - B 9 SB 70/17 B - Juris RdNr 3).
4. Schließlich war der Senat nicht verpflichtet, den Prozessbevollmächtigten des Klägers entsprechend seiner Bitte in der Beschwerdebegründung um einen rechtlichen Hinweis, "soweit weitere Ausführungen als nötig erachtet werden", vorab auf die Unzulänglichkeit des Beschwerdevortrags aufmerksam zu machen. Das Gesetz unterstellt, dass ein Rechtsanwalt in der Lage ist, Formerfordernisse einzuhalten; gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang vor dem BSG gemäß § 73 Abs 4 SGG. § 106 Abs 1 SGG gilt insoweit nicht. Ein Rechtsanwalt muss in der Lage sein, ohne Hilfe durch das Gericht, eine Nichtzulassungsbeschwerde ordnungsgemäß zu begründen (stRspr, zB BSG Beschluss vom 21.7.2010 - B 7 AL 60/10 B - Juris RdNr 7).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
5. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13041581 |