Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. elektronischer Rechtsverkehr. Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs. vorübergehende technische Störung. kein Wiedereinsetzungsgrund. wiederholter Fristverlängerungsantrag. Vertrauen auf dritte Fristverlängerung. Vorliegen von besonders schwerwiegenden Gründen. Arbeitsüberlastung
Orientierungssatz
1. Vorübergehende technische Störungen des elektronischen Rechtsverkehrs stellen keinen Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dar.
2. Das Vertrauen auf die Bewilligung eines dritten Fristverlängerungsantrags ist nur bei Vorliegen von besonders schwerwiegenden Gründen gerechtfertigt.
3. Bei einer länger andauernden - auch krankheitsbedingten - Arbeitsüberlastung muss ein Bevollmächtigter sobald wie möglich geeignete Maßnahmen zur Verringerung der Belastung treffen, zB durch Heranziehung zusätzlicher Mitarbeiter (vgl BGH vom 23.11.2000 - I ZB 34/00 = juris RdNr 15).
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1, §§ 65, 65d S. 3, § 73 Abs. 4 S. 1, § 164 Abs. 2 Sätze 1-2; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2022 wird abgelehnt.
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2022 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für stationäre Liposuktionen. Während sie mit ihrer Klage vor dem SG erfolgreich war (Urteil vom 8.1.2021), hat das LSG die Klage unter Aufhebung des Urteils des SG abgewiesen (Urteil vom 13.9.2022). Gegen das ihr am 23.9.2022 zugestellte Urteil des LSG hat die Klägerin am Montag, den 24.10.2022 Revision eingelegt. Der Vorsitzende des erkennenden Senats hat die Frist für die Revisionsbegründung antragsgemäß bis zum 23.12.2022 und nachfolgend nochmals bis zum 10.2.2023 verlängert (Schreiben vom 28.11.2022 und 22.12.2022, dem Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 5.12.2022 und 2.1.2023). Mit einem am 9.3.2023 beim BSG eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin die Revision begründet und beantragt, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren.
Zu ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trägt die Klägerin vor: Durch ein Versehen der sorgfältig angeleiteten und überwachten Assistentin der Bundesrechtsabteilung ihres Bevollmächtigten sei der Fristverlängerungsantrag am 10.2.2023 nicht an das Bundessozialgericht übermittelt und der Fristablauf erst am darauffolgenden Montag, den 13.2.2023 bemerkt worden. Die Assistentin habe absprachegemäß einen weiteren Fristverlängerungsantrag vorbereitet und zusammen mit weiteren Schreiben in das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) des für die Bearbeitung des Verfahrens zuständigen Rechtsanwaltes L eingestellt und diesen darüber informiert. Der Versuch, die Nachrichten zu versenden, sei aufgrund technischer Störungen mehrfach fehlgeschlagen. Bei dem wiederholten Einstellen der Nachrichten für den Versand durch Rechtsanwalt L habe die Assistentin vergessen, den Fristverlängerungsantrag in der hier vorliegenden Sache noch einmal einzustellen. Sie habe sich mit dem Rechtsanwalt zu ihrem Feierabend dahingehend verständigt, dass sämtliche Fristabläufe für den 10.2.2023 im beA als Entwürfe hochgeladen seien und er den Versand per beA noch einmal am Abend probieren würde. Als er dann am späten Abend gegen 22.25 Uhr die Nachrichten aus den Entwürfen erfolgreich habe versenden können, sei der Fristverlängerungsantrag nicht dabei gewesen. Ein Ausstreichen der Frist im Rahmen der Fristenkontrolle habe um diese Uhrzeit nicht mehr erfolgen können. Der Fehler sei deshalb erst beim Austragen der Fristen am darauffolgenden Montag, den 13.2.2023 bemerkt worden.
II. Die nicht in der gesetzlichen Frist begründete Revision ist durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 und 3 SGG; dazu 1.). Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ist abzulehnen (dazu 2.).
1. Nach § 164 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden (§ 164 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Klägerin hätte ihre Revision, die sie rechtzeitig gegen das ihr am 23.9.2022 mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung zugestellte LSG-Urteil eingelegt hat, nach der bereits zwei Mal verlängerten Frist bis zum Ablauf des 10.2.2023 begründen müssen. Dem genügt die erst am 9.3.2023 beim BSG eingegangene Revisionsbegründung nicht.
2. Der Klägerin ist auch nicht antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren (§ 67 Abs 1 SGG).
Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs 1 und Abs 2 Satz 1 und 2 SGG).
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Klägerin hat schuldhaft die Revisionsbegründungsfrist versäumt, wobei sie sich das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten und des bei diesem angestellten Rechtsanwaltes L zurechnen lassen muss (§ 73 Abs 4 Satz 1 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO; vgl zur Verschuldenszurechnung allgemein BSG vom 28.6.2018 - B 1 KR 59/17 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 15 RdNr 7 mwN; zur Zurechnung des Verschuldens eines angestellten Rechtsanwalts, dem der Rechtsstreit zur selbstständigen Bearbeitung übertragen worden ist vgl BGH vom 9.6.2004 - VIII ZR 86/04 - NJW 2004, 2901 = juris RdNr 8). Nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin ist der mit der Sache betraute Rechtsanwalt L seiner (eigenen) Obliegenheit zur Fristenkontrolle nicht hinreichend nachgekommen (dazu b). Zudem ist auch nicht erkennbar, aus welchen Gründen er darauf vertrauen durfte, dass seinem erneuten Fristverlängerungsantrag entsprochen wird (dazu c). Die vorübergehenden technischen Störungen des elektronischen Rechtsverkehrs stellen keinen Wiedereinsetzungsgrund dar (dazu a).
a) Dass der elektronische Versand von Nachrichten am Tag des Fristablaufs aufgrund von technischen Störungen vorübergehend unmöglich war, begründet für sich genommen keinen Wiedereinsetzungsgrund. Ungeachtet des Umstandes, dass nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin am späten Abend des 10.2.2023 der elektronische Versand wieder möglich war und durch Rechtsanwalt L hinsichtlich anderer Dokumente auch tatsächlich erfolgt ist, hätte insofern nach § 65d Satz 3 SGG die Möglichkeit bestanden, andere Übermittlungswege (ua Briefpost oder Telefax) zu nutzen (vgl dazu Gädeke in jurisPK-ERV, 2. Aufl 2022, § 65d SGG RdNr 29 ff, Stand 24.3.2023). Diese musste dem Bevollmächtigten der Klägerin bekannt sein (vgl BayVGH vom 2.5.2022 - 6 ZB 22.30401 - NVwZ 2022, 1392, 1393 = juris, jeweils RdNr 9).
b) Das Unterlassen der hinreichenden Fristenkontrolle durch Rechtsanwalt L begründet ein Verschulden. Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt; er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern (vgl BSG vom 1.11.2017 - B 14 AS 26/17 R - RdNr 6; BGH vom 2.4.2008 - XII ZB 189/07 - NJW 2008, 2589 mwN).
Ein Rechtsanwalt ist aber verpflichtet, durch organisatorische Maßnahmen Fehlerquellen bei der Behandlung von Fristsachen in größtmöglichem Umfang auszuschließen; hierzu gehört insbesondere eine wirksame Ausgangskontrolle, durch die gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich rechtzeitig hinausgehen (vgl BSG vom 29.12.2015 - B 13 R 392/15 B - juris RdNr 8 mwN). Die Ausgangskontrolle für fristwahrende Schriftsätze kann zB derart organisiert sein, dass ein Fristenkalender geführt wird, in dem für jeden fristwahrenden Schriftsatz die maßgebliche Frist eingetragen und erst nach tatsächlich erfolgter Absendung durchgestrichen wird, sowie, dass am Schluss eines jeden Arbeitstages eine Überprüfung der noch erforderlichen Erledigungen stattfindet (vgl BSG, aaO, mwN). Eine bloße Prüfung, ob der für die Gerichtspost bestimmte Ausgangskorb leer ist, reicht nicht aus (vgl BGH vom 16.2.2010 - VIII ZB 76/09 - NJW 2010, 1378 = juris RdNr 7).
Dass eine solche Fristen- und Ausgangskontrolle am Abend des 10.2.2023 tatsächlich stattgefunden oder aus den Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zurechenbaren Gründen nicht stattgefunden hat, hat die Klägerin nicht dargelegt und ist auch nicht erkennbar. Nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin und der zur Glaubhaftmachung vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der für ihren Bevollmächtigten tätigen Assistentin P war vielmehr zu dem Zeitpunkt, als Frau P am 10.2.2023 in den Feierabend ging, der Fristverlängerungsantrag in dem vorliegenden Verfahren noch nicht an das BSG übersandt worden. Sie hatte die an diesem Tag noch zu versendenden Fristsachen in Absprache mit Rechtsanwalt L lediglich für den Versand durch diesen vorbereitet und in dessen beA eingestellt, dabei aber versehentlich den Fristverlängerungsantrag in der vorliegenden Sache vergessen. Eine Überwachung der Fristwahrung und Austragung im Fristenkalender konnte durch Frau P an diesem Tage folglich nicht mehr erfolgen. Ungeachtet des Umstandes, dass die Überwachung von Fristen im Revisionsverfahren gesteigerten Anforderungen unterliegt und regelmäßig nicht zu den delegierbaren Routineangelegenheiten gehört (vgl etwa BSG vom 1.11.2017 - B 14 AS 26/17 R - juris RdNr 7 mwN; BSG vom 5.12.2017 - B 12 P 2/16 R - juris RdNr 11), wäre es insofern die Aufgabe von Rechtsanwalt L gewesen, die Einhaltung der beim Verlassen des Büros durch Frau P noch offenen Fristen nach dem Versand selbst abschließend zu kontrollieren und im Fristenkalender zu notieren. Dann wäre ihm das Versehen von Frau P aufgefallen und hätte er den Fristverlängerungsantrag noch rechtzeitig übersenden können.
c) Die Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist nach § 164 Abs 2 Satz 2 SGG, über die von dem bzw der Vorsitzenden des Senats nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden wird, erfordert das Vorbringen eines plausiblen Grundes hierfür (vgl BSG vom 5.8.2020 - B 4 AS 6/20 R - juris RdNr 5 mwN). Bei einem weiteren Verlängerungsantrag darf mit einer Bewilligung grundsätzlich nur gerechnet werden, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles keine andere Entscheidung erwarten lassen (vgl BGH vom 4.3.2004 - IX ZB 121/03 - NJW 2004, 1742 = juris RdNr 4; Heinz in BeckOGK, SGG, § 164 RdNr 35, Stand 1.5.2023). Das Vertrauen auf eine dritte Fristverlängerung ist nur noch bei besonders schwerwiegenden Gründen gerechtfertigt (vgl Greger in Zöller, ZPO, 34. Aufl 2022, § 233 RdNr 23.19 mwN).
Nachdem die Frist für die Revisionsbegründung vom Vorsitzenden des erkennenden Senats bereits zwei Mal verlängert worden war, hätte es daher der Darlegung besonderer Umstände bedurft, um ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin auf eine nochmalige Bewilligung der am letzten Tag der Frist beantragten Fristverlängerung zu rechtfertigen. Solche besonderen Umstände lassen sich dem Vorbingen der Klägerin nicht entnehmen. Allein der von Frau P in ihrer eidesstattlichen Versicherung dargelegte Umstand, dass die Bundesrechtsabteilung des Bevollmächtigten der Klägerin seit Ende Oktober 2021 krankheitsbedingt nur durch Rechtsanwalt L und sie besetzt gewesen sei und sich zum Ende des Jahres 2022 zahlreiche Fristen angesammelt hätten, reicht hierfür nicht aus. Bei einer länger andauernden - auch krankheitsbedingten - Arbeitsüberlastung muss der Bevollmächtigte sobald wie möglich geeignete Maßnahmen zur Verringerung der Belastung treffen, zB durch Heranziehung zusätzlicher Mitarbeiter (vgl BGH vom 23.11.2000 - I ZB 34/00 - juris RdNr 15).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. |
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Schlegel |
Geiger |
Bockholdt |
Fundstellen
NJW 2024, 239 |
NZS 2023, 958 |