Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Amtsermittlungspflicht. Beweisantrag. Fragerecht gegenüber einem Sachverständigen. Rechtliches Gehör
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
2. Ein Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung des Fragerechts gegenüber einem Sachverständigen gestützt werden, wenn der Kläger nicht alles ihm prozessual Zumutbare unternommen hat, um rechtliches Gehör zu erhalten, was die Darlegung umfasst, den Antrag auf Ladung der Sachverständigen zu einer Befragung bis zum Schluss aufrechterhalten zu haben.
3. Das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte nicht, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen.
Normenkette
SGG §§ 62, 73 Abs. 6 S. 7, §§ 103, 109, 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, § 169 Sätze 2-3; ZPO §§ 85, 397, 402-403, 411 Abs. 4; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 26.02.2020; Aktenzeichen S 25 R 534/19) |
Bayerisches LSG (Urteil vom 24.11.2021; Aktenzeichen L 6 R 184/20) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. November 2021 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Der im Jahr 1971 geborene Kläger begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer. Seinen im Juli 2017 gestellten (weiteren) Rentenantrag lehnte der beklagte Rentenversicherungsträger nach Einholung eines internistischen und - im Widerspruchsverfahren - eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens ab. Der Kläger könne trotz der bei ihm bestehenden somatoformen Schmerzstörung jedenfalls leichte Tätigkeiten weiterhin vollschichtig verrichten (Bescheid vom 2.1.2018, Widerspruchsbescheid vom 15.3.2019). Im Klageverfahren hat das SG ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten von W anfertigen lassen. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, dass der Kläger trotz bestehender Symptome einer Fibromyalgie, die allerdings nicht strukturiert behandelt werde, bei Beachtung bestimmter qualitativer Einschränkungen leichte Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne. Das SG hat daraufhin die Klage abgewiesen (Urteil vom 26.2.2020). Das LSG hat noch ein Gutachten von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie P, zugleich zertifizierte Schmerzgutachterin der Interdisziplinären Gesellschaft für psychosomatische Schmerztherapie, eingeholt. Nach deren Beurteilung bestehen keine befundgestützten Belege für eine Begrenzung der Restleistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten auf weniger als sechs Stunden täglich im Zeitraum ab Juli 2017. Im Verlauf des Jahres 2020 sei es jedoch zu einer Verschlechterung - auch aufgrund eines jetzt erheblichen Alkoholproblems - gekommen. Ab dem Zeitpunkt ihrer Untersuchung im Mai 2021 und zunächst bis mindestens Ende 2022 sei daher die Leistungsfähigkeit des Klägers auf unter drei Stunden pro Tag gesunken. Daraufhin hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG ein vom Kläger angenommenes Teilanerkenntnis abgegeben und sich zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit von Dezember 2021 bis Dezember 2022 verpflichtet. Hinsichtlich der weitergehenden Klage auf Bewilligung einer unbefristeten Rente ab Antragstellung hat das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 24.11.2021).
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Er macht Verfahrensmängel geltend.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist. Der Kläger hat einen Verfahrensmangel (Revisionszulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht ausreichend bezeichnet. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die Umstände, aus denen sich der Verfahrensfehler ergeben soll, substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung des Klägers nicht gerecht.
a) Er rügt zunächst eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG, weil das LSG seiner im Schriftsatz vom 10.10.2021 vorgetragenen Bitte nicht nachgekommen sei, die Sachverständige P zur mündlichen Verhandlung zu laden und darüber zu befragen, warum sie eine befristete Rente empfehle, obwohl sie einer Reha-Maßnahme keine Erfolgsaussichten beimesse. Diesem Beweisantritt sei das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.
Es kann offenbleiben, ob damit dargetan ist, dass der Kläger einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag iS von § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 403 ZPO gegenüber dem LSG angebracht hat (vgl dazu zB BSG Beschluss vom 13.8.2020 - B 5 R 121/20 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 10.2.2022 - B 5 R 276/21 B - juris RdNr 7, jeweils mwN). Jedenfalls ergibt sich aus der Beschwerdebegründung nicht, dass der Antrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zu Protokoll aufrechterhalten wurde oder im Urteil des LSG wiedergegeben ist (vgl zu diesem Erfordernis grundlegend BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 - stRspr). Der Kläger benennt auch keine konkreten Umstände, aufgrund derer es dem Berufungsgericht "hinreichend deutlich" hätte sein müssen, dass der im Termin nicht anwesende Kläger an dem in seinem Schriftsatz vom 10.10.2021 enthaltenen Antrag weiterhin festhalte. Insbesondere gibt die Beschwerdebegründung keinen entsprechenden Antrag der damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers wieder, die ihn in der mündlichen Verhandlung vertreten und auch das Teilanerkenntnis für ihn angenommen haben.
b) Im Kern rügt der Kläger mit seinem Vorbringen zur unterbliebenen Ladung von P eine Verletzung seines Rechts auf Befragung der Sachverständigen (vgl § 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, § 411 Abs 4 ZPO; s hierzu zuletzt BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 148/21 B - juris RdNr 6 ff). Da das Fragerecht gegenüber einem Sachverständigen letztlich eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt, muss auch insoweit aufgezeigt werden, dass der Kläger alles ihm prozessual Zumutbare unternommen hat, um rechtliches Gehör zu erhalten. Das umfasst die Darlegung, den Antrag auf Ladung der Sachverständigen zu einer Befragung bis zum Schluss aufrechterhalten zu haben (vgl BSG Beschluss vom 24.2.2021 - B 13 R 37/20 B - juris RdNr 11 f; BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 148/21 B - juris RdNr 8). Ausführungen dazu, dass die vormaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 24.11.2021 auf einer Befragung der Sachverständigen P bestanden haben, enthält die Beschwerdebegründung jedoch nicht. Das Verhalten seiner Prozessbevollmächtigten muss sich der selbst nicht zum Termin erschienene Kläger zurechnen lassen (vgl § 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 ZPO).
c) Soweit der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend macht, hat er das Vorliegen eines solchen Verfahrensfehlers nicht schlüssig aufgezeigt. Er beanstandet insoweit, das LSG habe die Ausführungen im Gutachten von P, die Durchführung einer Reha-Maßnahme sei angesichts der Persönlichkeitsstörung des Klägers mit sehr rigiden Verhaltensmustern nur fraglich mit Erfolgsaussichten verbunden, in seinem Urteil "nicht berücksichtigt". Woraus sich im Einzelnen ergeben soll, dass das Berufungsgericht die genannte Einschätzung der Sachverständigen als wesentliches Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen habe, erschließt sich aus der Beschwerdebegründung jedoch nicht. Diese setzt sich insbesondere nicht näher damit auseinander, auf welche Weise sich das LSG mit den Aussagen der Sachverständigen zu Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation befasst hat (vgl Urteilsumdruck S 6). Letztlich rügt der Kläger, das LSG habe sich die von ihm für zutreffend erachtete Bedeutung dieser Aussage der Sachverständigen nicht zu Eigen gemacht. Hierin liegt schon im Ansatz keine Gehörsverletzung, da das Verfahrensgrundrecht die Gerichte nicht verpflichtet, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (stRspr; vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 9.2.2022 - 2 BvR 613/21 - juris RdNr 4 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Düring Körner Gasser
Fundstellen
Dokument-Index HI15161238 |