Entscheidungsstichwort (Thema)
Ganztägiger Unterricht iS des § 44 Abs 1 AFG
Leitsatz (amtlich)
Ein einmonatiges "Heimstudium", das einem Lehrgang mit Vollzeit- (Nah-) Unterricht vorgeschaltet ist und an Hand von lehrbuchartig gestalteten Blättern ohne mündliche oder schriftliche Beratung durch den Lehrer und ohne Leistungskontrolle durchgeführt wird, ist kein ganztägiger Unterricht iS des § 44 Abs 1 AFG.
Orientierungssatz
Ganztägiger Unterricht iS des § 44 Abs 1 AFG ist eine Veranstaltung, bei der - jedenfalls in der Regel und abgesehen von Vor- und Nacharbeiten - Lehrer und Schüler (Ausbildung und Auszubildende) in einem Raum bei Vortrag, Demonstration oder Diskussion tätig sind, und die vom Fernunterricht, der durch die räumliche Trennung von Lehrer und Schüler gekennzeichnet wird, klar abgegrenzt ist.
Normenkette
AFG § 34 Abs 1 S 1 Fassung: 1975-12-18, § 44 Abs 1 Fassung: 1975-12-18
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 22.08.1985; Aktenzeichen L 3 Ar 15/85) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 10.01.1985; Aktenzeichen S 2 Ar 112/84) |
Tatbestand
Im Prozeß geht es um die Frage, ob auch ein "Heimstudium" als ganztägiger Unterricht iS des § 44 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) anzusehen ist.
Die im Jahr 1952 geborene Klägerin, die als Diätassistentin beschäftigt gewesen war, nahm vom 1. März bis 30. Juni 1984 an einem Fortbildungslehrgang zur geprüften Pharmareferentin teil. Dieser bestand aus einem einmonatigen "Heimstudium" (März 1984) und einer dreimonatigen Ausbildung im Institut (April bis Juni 1984). Zum Heimstudium erhielt die Klägerin vom Ausbildungszentrum erstellte, lehrbuchartig gestaltete Blätter zur Verfügung gestellt, in denen Stoffgebiete behandelt wurden, die im Verlauf des Hauptlehrgangs zum Gegenstand des mündlichen Unterrichts und später auch der Abschlußprüfung gemacht wurden. Während der Zeit des Heimstudiums, das nach einer Bescheinigung des Ausbildungszentrums aus 150 Lernstunden bestand, fanden weder eine praktische Ausbildung noch eine zusätzliche mündliche oder schriftliche Beratung statt, auch wurden keine Leistungskontrollen durchgeführt.
Auf den im Februar 1984 gestellten Antrag der Klägerin hin bewilligte das Arbeitsamt O Unterhaltsgeld nach § 44 Abs 2 AFG und Ausbildungskosten für die Zeit vom 2. April bis 29. Juni 1984, lehnte aber mit Bescheid vom 29. Mai 1984 die Zahlung von Unterhaltsgeld für März 1984 ab. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat auf die Klage hin mit Urteil vom 10. Januar 1985 den Bescheid aufgehoben, die Beklagte verurteilt, der Klägerin für März 1984 Unterhaltsgeld zu gewähren und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Fernunterricht gelte nach § 7 Abs 4 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) ohne Rücksicht auf die Stundenzahl lediglich als Teilzeitunterricht; für einen solchen sehe aber das Gesetz kein Unterhaltsgeld vor. Außerdem müsse der Fernunterricht nach § 3 Abs 3 AFuU mit ergänzendem Nahunterricht verbunden sein. Der Hauptlehrgang könne nicht als ergänzender Nahunterricht betrachtet werden, weil sonst Schwergewicht und Bedeutung der Maßnahmeteile verkehrt würden.
Mit der Revision rügt die Klägerin die fehlerhafte Auslegung und Anwendung der §§ 34, 44 Abs 1 und 47 Abs 1 AFG. Nach ihrer Auffassung muß der Begriff "berufliche Fortbildung mit ganztägigem Unterricht" in § 44 Abs 1 AFG iS des in § 47 AFG bestimmten Zieles als ganztägige Beanspruchung durch die berufliche Umschulungsmaßnahme definiert werden. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie weist darauf hin, daß während der Zeit des Heimstudiums weder ein ganztägiger Unterricht noch ein Unterricht überhaupt stattgefunden habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Diese hat, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, keinen Anspruch auf Unterhaltsgeld für März 1984.
§ 44 Abs 1 AFG idF des Haushaltsstrukturgesetzes-AFG (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) bestimmt, daß Teilnehmern an Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung mit ganztägigem Unterricht ein Unterhaltsgeld gewährt wird. Die Vorschrift gilt entsprechend für Teilnehmer an Maßnahmen zur beruflichen Umschulung (§ 47 Abs 1 Satz 2 AFG in der gleichen Fassung), so daß nicht geprüft werden muß, ob die Ausbildung einer Diätassistentin zur Pharmareferentin eine Fortbildung oder eine Umschulung darstellt.
Das Heimstudium der Klägerin war nicht die Teilnahme an einem ganztägigen Unterricht. Dieser Begriff ist in § 34 Abs 1 Satz 1 AFG idF des HStruktG-AFG mit Vollzeitunterricht umschrieben und einerseits dem berufsbegleitenden Unterricht (Teilzeitunterricht) sowie andererseits dem Fernunterricht gegenübergestellt worden. Schon daraus ergibt sich, daß ganztägiger Unterricht iS des § 44 Abs 1 AFG eine Veranstaltung ist, bei der - jedenfalls in der Regel und abgesehen von Vor- und Nacharbeiten - Lehrer und Schüler (Ausbilder und Auszubildende) in einem Raum bei Vortrag, Demonstration oder Diskussion tätig sind, und die vom Fernunterricht, der durch die räumliche Trennung von Lehrer und Schüler gekennzeichnet wird, klar abgegrenzt ist.
Die Bedenken der Revision gegen die Einbeziehung des § 34 AFG greifen nicht durch. Da diese Vorschrift im Allgemeinen Teil des Vierten Unterabschnitts "Förderung der beruflichen Bildung" des Zweiten Abschnitts "Beschäftigung und Arbeitsmarkt" des AFG steht, nämlich in der Abteilung I "Allgemeine Vorschriften", gilt sie, ohne daß es einer besonderen Verweisung bedarf, für alle Bestimmungen des Vierten Unterabschnitts, also auch für die §§ 44 und 47 AFG. Daß § 47 Abs 2 Satz 2 AFG zwar die entsprechende Geltung der §§ 41 bis 44 und 46 AFG, nicht aber die des § 34 AFG vorschreibt, ergibt sich daraus, daß die §§ 41 bis 46 AFG zu den Regeln über die berufliche Fortbildung und nicht, wie § 47 AFG, zu den Regeln über die berufliche Umschulung gehören, also zu dieser Vorschrift nicht, wie § 34 AFG, im Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen stehen. Die Revision meint dazu ferner, die Einengung des Begriffs "berufliche Fortbildung mit ganztägigem Unterricht" in § 44 Abs 1 AFG auf die Definition beruflicher Bildungsmaßnahmen in § 34 Abs 1 Satz 1 AFG sei nicht geboten; wenn in § 47 Abs 1 Satz 2 AFG bestimmt sei, daß § 44 AFG entsprechend gelte, so schließe das nicht aus, daß Maßnahmen beruflicher Umschulung, die ausschließlich in Werkstätten durchgeführt würden und der Vermittlung von beruflichen (handwerklichen) Fähigkeiten dienten, gefördert würden, obwohl dort kein Vollzeitunterricht iS von § 34 AFG stattfinde. Diese Auffassung geht jedoch fehl. Wenn auch durch die Verweisung in § 47 Abs 1 Satz 2 AFG klargestellt ist, daß nur Umschulungsmaßnahmen in Unterrichtsform mit Unterhaltsgeld gefördert werden, muß es trotzdem für den Unterrichtscharakter als ausreichend angesehen werden, daß in einer qualifizierten Lehrstätte unter Anleitung und Unterrichtung einer gleichermaßen qualifizierten Fachkraft das theoretisch erworbene Wissen in die Praxis fachgerecht umgesetzt wird (SozR 4100 § 47 Nr 12 S 24).
Der Auffassung, daß Heimstudium kein ganztägiger Unterricht iS des § 44 Abs 1 AFG ist, steht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht entgegen. Der 7. Senat hat ausgeführt, daß Vollzeitunterricht nicht nur als die Vermittlung theoretischer Kenntnisse und die praktische Unterweisung durch Lehrkräfte verstanden werden müsse, sondern auch die Zeiten umfasse, die der Lehrgangsteilnehmer benötige, um das Maßnahmeziel zu erreichen; es komme darauf an, in welchem zeitlichen Ausmaß der Teilnehmer außer durch die Unterrichtszeit durch Vor- und Nacharbeit, Hausaufgaben und Wegezeiten gehindert gewesen sei, einer Beschäftigung nachzugehen (SozR 4460 § 11 Nr 6). Der erkennende Senat hat einen Fernunterrichtslehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur unter gewissen Umständen einer Schulausbildung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) gleichgeachtet, aber das nicht für diejenigen Zeiträume gelten lassen, in denen es dem Schüler weitgehend überlassen ist, den Unterrichtsstoff durchzuarbeiten, und eine stetige Kontrolle des Leistungsstandards des Schülers nicht gewährleistet ist (BSGE 43, 44, 47 f = SozR 2200 § 1262 Nr 9). Die in den beiden Entscheidungen genannten Voraussetzungen liegen bei dem Heimstudium der Klägerin nicht vor; ein gewisses Maß von "Nah"-Unterricht verlangt auch der 7. Senat, und der erkennende Senat hat sich nicht mit dem Begriff "ganztägiger Unterricht", sondern mit dem Begriff "Schulausbildung" nach § 36 AVG befaßt.
Auf die von der Revision erwogene Frage, ob die Klägerin wegen der Teilnahme an der Maßnahme, und zwar auch wegen des Heimstudiums, so beansprucht war, daß sie daneben keine Berufstätigkeit ausüben konnte, kommt es nicht an. Das AFG hat zur Voraussetzung von Barleistungen nicht nur die Unmöglichkeit einer Berufstätigkeit, sondern darüber hinaus die Erfüllung bestimmter Bedingungen gemacht, die hier nicht vollständig vorliegen.
Ob unter gewissen Umständen der Fernunterricht - insbesondere hinsichtlich der Kontrolle durch den Maßnahmeträger - derartig intensiv ausgestaltet sein kann, daß er dem ganztägigen Unterricht (Vollzeitunterricht) iS der §§ 44 Abs 1 und 34 Abs 1 Satz 1 AFG gleichzustellen ist (so insbesondere Gagel, AFG, § 34 Anm 24) oder ob hilfsweise die Regelung des § 3 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) herangezogen werden kann, braucht hier nicht entschieden zu werden. Denn das Heimstudium, dem sich die Klägerin unterzogen hat, erfüllte weder die von Gagel aufgestellten Richtlinien noch die Voraussetzungen, unter denen Ausbildungsförderung hätte geleistet werden können (§ 3 Abs 2 und 3 BAföG).
Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen