Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallverhütungsvorschrift – Durchführung – Einzelfallanordnung – Rechtswidrigkeit – Begründungszwang einer Ermessensentscheidung – unterbliebene Ermessensausübung – Heilungsmöglichkeit – Ermessensreduktion – Panzerung eines Geldtransportfahrzeuges
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an die Begründung einer im Ermessen des Unfallversicherungsträgers stehenden Einzelfallanordnung zur Durchführung von Unfallverhütungsvorschriften.
Stand: 16. Oktober 2000
Normenkette
RVO § 712 Abs. 1 S. 2; SGB VII § 17 Abs. 1 S. 2; SGG § 54 Abs. 2 S. 2; SGB X § 35 Abs. 1 Sätze 1, 3, § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2
Beteiligte
Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Juli 1999, das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. November 1995 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 1995 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin, ein Sicherheits-, Transport- und Kurierdienstunternehmen, wendet sich gegen die Anordnung der Beklagten, ihre Geldtransporte entsprechend den Unfallverhütungsvorschriften (UVV) ua mit gepanzerten Fahrzeugen durchzuführen.
Die Beklagte wies die Klägerin, die ihr Mitglied ist, durch Schreiben vom 2. November 1994 darauf hin, daß gewerbliche Geldtransporte entgegen ihrer Praxis nur mit besonders gesicherten Geldtransportfahrzeugen durchgeführt werden dürften (§ 26 Abs 1 der UVV „Wach- und Sicherungsdienste” ≪VBG 68≫); die Voraussetzungen der in § 26 Abs 2 VBG 68 vorgesehenen Ausnahmeregelung seien nicht gegeben. Nach verschiedenen ergebnislos verlaufenen Gesprächen mit dem Geschäftsführer der Klägerin beanstandete die Beklagte daraufhin mit als „Besichtigungsbefund” bezeichnetem Bescheid vom 16. Januar 1995 ua, die Klägerin führe Geldtransporte in ungepanzerten Fahrzeugen durch, obwohl nicht ausgeschlossen sei, daß Außenstehende den Transport als Geldtransport erkennen könnten. Zudem würden Geldtransporte durch Boten in öffentlich zugänglichen Bereichen entgegen § 25 Abs 1 VBG 68 von nur einer Person durchgeführt, obwohl hierfür technische Ausrüstungen verwendet würden, die für Außenstehende nicht deutlich erkennbar seien und deshalb den Anreiz zu Überfällen nicht nachhaltig verringerten. Es werde ihr aufgegeben, diese Mängel unverzüglich zu beseitigen und dies bis zum 28. Februar 1995 schriftlich zu bestätigen.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1995). § 26 Abs 1 VBG 68 besage eindeutig, daß Geldtransporte nur mit gepanzerten Geldtransportfahrzeugen durchgeführt werden dürften; diese Vorschrift sei anderen Regelungen gegenüber vorrangig. Nach der Ausnahmeregelung des § 26 Abs 2 VBG 68 dürfe nur in besonderen Fällen, nicht jedoch bei gewerbsmäßig durchgeführten Geldtransporten verfahren werden. Über die Bestimmungen der VBG 68, über deren Auslegung die Klägerin bereits informiert worden sei, hinausgehende Auflagen seien nicht erteilt worden; die Mitbewerber auf dem Markt wendeten diese UVV ebenfalls an.
Das Sozialgericht Oldenburg (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1995). Die Klägerin habe die Beklagte im Wege der Einzelfallanordnung zur Beachtung der Regelungen der §§ 25 Abs 1 und 26 Abs 1 VBG 68 verpflichten dürfen, obwohl diese UVV für den Zuständigkeitsbereichbereich der Beklagten erst am 1. April 1995 in Kraft getreten seien. Durch das vom Gericht eingeholte kriminalpolizeiliche Sachverständigengutachten sei nachgewiesen, daß das von der Klägerin angewandte Sicherheitskonzept im Gegensatz zu den von der Beklagten erteilten Sicherheitsauflagen nur eine Scheinsicherheit biete.
Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 20. Juli 1999). Die Anordnung der Beklagten sei nicht zu beanstanden. Die Ermächtigungsgrundlage hierzu finde sich in § 712 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 17 Abs 1 Satz 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII). Allerdings könnten die Berufsgenossenschaften (BGen) ihre Mitglieder zur Befolgung von UVV erst dann verpflichten, wenn diese von der jeweiligen Vertreterversammlung beschlossen und anschließend bekanntgemacht worden seien. Die der streitigen Anordnung zugrundegelegte VBG 68 sei für den Bereich der Beklagten erst ab 1. April 1995 in Kraft getreten und ihre Heranziehung über § 2 Abs 1 VBG 1 iVm § 712 Abs 1 Satz 2 RVO im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip zumindest zweifelhaft. Einer abschließenden Entscheidung dieser Frage bedürfe es jedoch nicht. Denn die Klägerin könne sich auf die fehlende Anwendbarkeit der alsbald nach der Bescheiderteilung für den Bereich der Beklagten in Kraft getretenen VBG 68 nicht berufen. Ihr Beseitigungsanspruch sei mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens entfallen, da die Beklagte sofort wieder eine inhaltsgleiche Anordnung hätte erlassen dürfen; für den vorhergehenden Zeitraum bestehe mangels eines berechtigten Interesses der Klägerin kein Beseitigungsanspruch.
Die angefochtene Anordnung der Beklagten sei durch die Regelungen der VBG 68 gedeckt. Da die Klägerin ihre Geldtransporte nicht mit gepanzerten Geldtransportfahrzeugen durchführe, komme sie ihrer Verpflichtung gemäß § 26 Abs 1 VBG 68 nicht nach. Die Ausnahmevorschrift des § 26 Abs 2 VBG 68 greife im Hinblick darauf, daß die Transporte jedenfalls für „interessierte” Personen als Geldtransporte erkennbar seien, nicht ein. Beim Transport durch Boten könne die Klägerin auch nicht gemäß § 25 Abs 2 VBG 68 nur einen (statt zwei) Boten einsetzen, denn diese Transporte seien – zumal dabei ein Sicherheitsbehältnis verwendet werde – als Geldtransport erkennbar. Daß es bei der Klägerin bisher trotz der von ihr praktizierten Art der Geldtransporte zu keinen Unfällen, insbesondere Überfällen gekommen sei, stehe der Rechtmäßigkeit der Anordnung nicht entgegen, da es Ziel der UVV sei, aufgrund umfangreichen Erfahrungswissens erkannte generelle Unfallgefahren zu minimieren.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 712 Abs 1 Satz 2 RVO bzw § 17 Abs 1 Satz 2 SGB VII und § 54 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Da es sich um eine reine Anfechtungsklage handele, sei auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen. Im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides sei die Anordnung wegen Fehlens einer Rechtsgrundlage rechtswidrig gewesen; die nachträgliche Schaffung einer Rechtsgrundlage durch die Beklagte – Inkraftsetzen der VBG 68 für ihren Bereich – ändere daran nichts. Selbst wenn sich die Beklagte bei der Anordnung auf fremde UVV beziehen könnte, hätte sie das ihr durch § 712 Abs 1 Satz 2 RVO eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Eine Prüfung der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit habe nicht stattgefunden, obwohl die Verfügung für sie – die Klägerin – einen schwerwiegenden Eingriff darstelle, der wegen der geforderten erheblichen finanziellen Aufwendungen einem Berufsverbot gleichkomme. Die fehlende Ermessensausübung könne auch nicht nachgeholt werden. Die Anordnung in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sei auch deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte die Befugnis vorgetäuscht habe, aufgrund der VBG 68 tätig werden zu müssen, obwohl diese UVV für sie nicht verbindlich gewesen sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Juli 1999 und das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. November 1995 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 1995 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
- die Revision als unzulässig zu verwerfen,
- hilfsweise zurückzuweisen.
Sie meint, die Revisionsbegründung der Klägerin entspreche nicht den Erfordernissen des § 164 Abs 2 SGG. Im übrigen hält sie das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor, sie habe das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt, denn sie habe sich für die Einzelanordnung erst nach mehreren Unterredungen mit der Klägerin und deren endgültiger Ablehnung, ihren Betrieb umzustellen, entschieden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Klägerin entspricht entgegen der Auffassung der Beklagten den Erfordernissen des § 164 Abs 2 SGG und ist daher zulässig. Sie ist auch begründet. Die angefochtene Anordnung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Rechtmäßigkeit der Anordnung beurteilt sich noch nach den Vorschriften der RVO. Bei einer isolierten Anfechtungsklage – wie der hier vorliegenden – ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsaktes bzw des Widerspruchsbescheides maßgeblich (vgl BSG, Urteile vom 4. Mai 1999 – B 2 U 11/98 R – = SozR 3-2200 § 664 Nr 2 mwN und vom 2. November 1999 – B 2 U 25/98 R – = SozR 3-2200 § 708 Nr 1; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 54 RdNrn 32 und 33a mwN). Gemäß Art 36 Satz 2 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (UVEG) vom 7. August 1996 (BGBl I 1254) sind die die Prävention regelnden Vorschriften der §§ 1 Nr 1 und 14 bis 25 des Art 1 UVEG am Tag nach der Verkündung des Gesetzes, also am 20. August 1996 in Kraft getreten (vgl BSG, Urteil vom 2. November 1999 aaO). Da der angefochtene Widerspruchsbescheid bereits am 23. Februar 1995 ergangen ist, sind auf ihn die Regelungen der zu diesem Zeitpunkt noch geltenden RVO anzuwenden.
Nach § 712 Abs 1 Satz 2 RVO können die BGen im Einzelfall Anordnungen zur Durchführung von UVV oder zur Abwendung besonderer Unfall- oder Gesundheitsgefahren treffen. Dabei kann eine Frist zur Mängelbeseitigung gesetzt und eine schriftliche Mitteilung von dem betroffenen Unternehmer über die getroffenen Maßnahmen verlangt werden (§ 10 Abs 2 VBG 1). Bei einer solchen Anordnung handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt, dessen Erlaß und Inhalt im pflichtgemäßen Ermessen der BG stehen (vgl Kutscher/Stoy in Schulin, HS-UV, § 40 RdNr 74; Schmitt, SGB VII, § 17 RdNr 8; KassKomm-Ricke, SGB VII, § 17 RdNr 3). Denn aus dem in § 712 Abs 1 Satz 2 RVO enthaltenen Wort „können” geht hervor, daß der BG hinsichtlich des Erlasses einer Anordnung gegen ein Mitgliedsunternehmen sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen zusteht; es handelt sich nicht um ein bloßes „Kompetenz-Kann”. Dies bedeutet, daß die BG ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG), während dem Betroffenen ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens zusteht.
Die streitigen Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihrem Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Nach § 35 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein schriftlicher Verwaltungsakt schriftlich zu begründen. Nach § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X muß die Begründung eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hat, „auch” die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Ist die Begründung unterblieben, darf sie mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens oder, falls ein solches nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden (§ 41 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 SGB X). Werden erst später – wie hier in der Revisionserwiderung – Ermessenserwägungen mitgeteilt, die bei Erlaß des Bescheides oder Widerspruchsbescheides noch angestellt worden seien, dürfen sie nicht berücksichtigt werden (BSG SozR 1300 § 35 Nr 4; BSG, Urteil vom 18. April 2000 – B 2 U 19/99 R). Ein ohne die gebotene Begründung ergangener schriftlicher Verwaltungsakt ist rechtswidrig. Dies gilt entsprechend auch dann, wenn die Verwaltung von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat; der Betroffene ist auch dann in seinem Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung verletzt, der Bescheid ist rechtswidrig. Die unterbliebene Ermessensausübung darf ebenfalls mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens bzw der Klageerhebung nachgeholt werden (BSG, Urteil vom 14. Februar 1989 – 7 RAr 62/87 – = HV-Info 1989, 821; BSGE 61, 184, 198 = SozR 1300 § 44 Nr 26; BSG, Urteil vom 18. April 2000 – B 2 U 19/99 R).
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Beklagte bei Erlaß der angefochtenen Bescheide kein Ermessen ausgeübt oder ihr Ermessen zwar betätigt, in den angefochtenen Bescheiden aber nicht begründet hat, da in beiden Fällen dieselben Rechtsfolgen der Anfechtung eintreten. Die Bescheide sind jedenfalls im Hinblick auf die Ermessensausübung nicht hinreichend begründet. Wie bei einer gebundenen Entscheidung (s § 35 Abs 1 Satz 2 SGB X) müssen Ermessensentscheidungen die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe anführen. Darüber hinaus („auch”) müssen sie die Gründe für die darauf beruhende und somit erst daran anschließende Ausübung des Ermessens erkennen lassen (vgl KassKomm-Krasney, § 35 SGB X RdNr 6; BSG, Urteil vom 18. April 2000 – B 2 U 19/99 R). Die Begründung einer solchen Entscheidung muß mithin zunächst deutlich machen, daß die Verwaltung überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 10; BSG, Urteil vom 18. April 2000 – B 2 U 19/99 R); bei einer sog „Ermessensreduzierung auf Null” ist auch dies darzulegen (KassKomm-Krasney aaO). Erforderlich ist sodann eine auf den Einzelfall eingehende Darlegung, daß und welche Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen stattgefunden hat und welchen Erwägungen dabei die tragende Bedeutung zugekommen ist (vgl Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl 1997, § 35 SGB X RdNr 2 mwN), damit dem Betroffenen bzw dem Gericht die Prüfung ermöglicht wird, ob die Ermessensausübung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Daran mangelt es hier.
Die Begründung des Bescheides vom 16. Januar 1995 enthält keinen Hinweis darauf, daß die Beklagte von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht bzw überhaupt erkannt hat, daß sie hier ein Ermessen auszuüben hat. Es wird nicht einmal erwähnt, daß es sich um eine in ihrem Ermessen stehende Anordnung handelt. Die von der Beklagten gewählte Ausdrucksweise deutet vielmehr allein auf eine gebundene Entscheidung hin. Hinsichtlich der einzelnen Gegenstände der Anordnung wird jeweils der Tatbestand des Verstoßes gegen die UVV durch bestimmte Verhaltensweisen der Klägerin festgestellt und als – offenbar zwingende – Rechtsfolge die unverzügliche Beseitigung dieser Mängel nebst Verpflichtung zur Ausführungsanzeige innerhalb einer bestimmten – offenbar starr vorgegebenen – Frist angeordnet. Der Begriff „Ermessen” oder darauf hindeutende Erwägungen finden sich an keiner Stelle.
Auch im Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1995 sind keine Erwägungen zur Ausübung des Ermessens zu finden. Es wird lediglich der Sachverhalt sehr eingehend geschildert und darauf hingewiesen, der Klägerin sei bereits durch umfassende Information die Auffassung der Beklagten bekannt gewesen; Auflagen, die über die Bestimmungen der UVV hinausgingen, seien nicht erteilt worden und Mitbewerber wendeten die UVV an. Diese Feststellungen lassen wie bereits diejenigen im Bescheid vom 16. Januar 1995 nicht erkennen, daß und in welcher Weise die Beklagte hier von einer Ermessensentscheidung ausgegangen wäre und insbesondere das Für und Wider in bezug auf die getroffene Anordnung erwogen hätte (vgl BSG Urteil vom 18. April 2000 – B 2 U 19/99 R); die obigen Ausführungen hierzu gelten entsprechend.
Die Voraussetzungen des § 35 Abs 2 SGB X, bei deren Vorliegen ausnahmsweise auf eine Begründung verzichtet werden kann, liegen nicht vor. Danach bedarf es einer Begründung – außer in anderen, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen – nicht, soweit demjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, die Auffassung der Behörde über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder auch ohne schriftliche Begründung für ihn ohne weiteres erkennbar ist (Nr 2 aaO). Der Klägerin war zwar nach den Feststellungen im Berufungsurteil die Auffassung der Beklagten dazu bekannt, inwieweit ihre Geldtransporte nicht den UVV entsprechen sollten. Nicht bekannt war ihr jedoch, ob und ggf mit welchen Erwägungen die Beklagte ihr Ermessen ausgeübt hat und ob sie die von ihr, der Klägerin, im Rahmen der Unterredungen bzw im Schreiben vom 16. November 1994 vorgebrachten Argumente überhaupt berücksichtigt hat. Zudem wurden Verstöße gegen § 25 Abs 1 VBG 68 vor Erlaß des Bescheides weder schriftlich noch mündlich angesprochen, wie sich aus den vom LSG in der angefochtenen Entscheidung in Bezug genommenen Akten der Beklagten (Aktennotizen, Gesprächsvermerke usw) ergibt. Hier wären indes zunächst im Rahmen der Begründung die Erwägungen mitzuteilen gewesen, welche die Beklagte veranlaßt haben, sofort zum Mittel einer Anordnung zu greifen.
Insbesondere aber fehlt es an der Mitteilung von Erwägungen hinsichtlich der festgesetzten Frist zur Beseitigung der gerügten Mängel, denn Setzung und Bemessung einer solchen Frist steht ebenfalls im pflichtgemäßen Ermessen der BG (vgl Kutscher/Stoy in Schulin, HS-UV, § 40 RdNr 75). Hierzu hätte indes besonderer Anlaß bestanden, nachdem der Klägerin laut Vermerk des Technischen Aufsichtsbeamten der Beklagten vom 9. Januar 1995 in den Verwaltungsakten, auf die das LSG im Tatbestand des angefochtenen Urteils wegen der Einzelheiten des Sachverhalts Bezug genommen hatte, zunächst in Vorgesprächen eine Übergangsfrist jedenfalls für die Umstellung auf gepanzerte Geldtransportfahrzeuge von „bis zu eineinhalb Jahren” angeboten worden war und nunmehr durch die streitige Anordnung eine um ein Mehrfaches kürzere Frist von lediglich ca eineinhalb Monaten zur Beseitigung der beanstandeten Mängel gesetzt wurde. Eine solch kurze Frist dürfte nach allgemeiner Lebenserfahrung zur Beschaffung entsprechend gepanzerter Fahrzeuge und zur Umstellung des Betriebsablaufs schon aus organisatorischen Gründen kaum ausreichen. Zu Recht macht die Klägerin in diesem Zusammenhang auch geltend, daß nicht erkennbar sei, inwieweit die Beklagte Erwägungen hinsichtlich der im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Verhältnismäßigkeit ihrer Anordnung angestellt habe, obwohl dies angesichts der ihr durch die Umsetzung der Anordnung entstehenden enormen finanziellen Aufwendungen, die ihrer Ansicht nach einem „Berufsverbot” gleichkämen, nahegelegen hätte.
Nach alledem waren die Urteile der Vorinstanzen ebenso wie die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufzuheben, so daß auch offenbleiben kann, ob die nach Erlaß der angefochtenen Bescheide ohne Rückwirkung erlassene VBG 68 als Rechtsgrundlage entweder mittelbar über § 2 Abs 1 VBG 1 oder im Wege eines späteren Wegfalls des Beseitigungsanspruchs – wie das LSG meint – für die getroffene Anordnung herangezogen werden kann und ob die VBG 68 von der Beklagten zutreffend ausgelegt worden ist. Denn die fehlende Begründung der Ermessensausübung, die auch bei Geltung der VBG 68 zur Rechtswidrigkeit führen würde, könnte hierdurch nicht geheilt werden.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 514949 |
FA 2001, 96 |
SozR 3-2200 § 712, Nr. 1 |