Leitsatz (amtlich)
Der Alleingesellschafter einer GmbH haftet neben dieser mit für die von der Gesellschaft geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge, wenn seine Berufung auf die rechtliche Selbständigkeit der GmbH sich als Rechtsmißbrauch darstellt. Ob dies zutrifft, entscheiden die Umstände des Einzelfalles. Rein objektive Gesichtspunkte wie die Tatsache, daß der Alleingesellschafter die GmbH beherrschte und als gleichzeitiger Geschäftsführer für die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge sorgen mußte, reichen zur Annahme eines Rechtsmißbrauchs noch nicht aus.
Normenkette
RVO § 1299 Fassung: 1959-02-23, § 1396 Fassung: 1957-02-23; GmbHG § 13 Fassung: 1892-04-20; AVG § 118 Fassung: 1959-07-23, § 78 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1960 wird aufgehoben, soweit es der Berufung der Beklagten stattgegeben und über die Kosten entschieden hat. Insoweit wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter einer inzwischen aufgelösten GmbH. Er bezieht seit dem Jahre 1954 eine Rente aus der Angestelltenversicherung (AnV). Mit Bescheid vom 31. Oktober 1957 teilte die beklagte Bundesversicherungsanstalt dem Kläger mit, daß die GmbH der Allgemeinen Ortskrankenkasse E (Beigeladene Nr. 2) an Sozialversicherungsbeiträgen rund 21.000 DM schulde; da der Kläger hierfür persönlich hafte, behalte sie - gemäß § 78 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) i. V. m. Art. 2 § 25 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - an seiner Rente vom 1. September 1957 an bis zur Abdeckung der Beitragsschulden monatlich jeweils einen Teilbetrag ein.
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hob den Bescheid auf (Urteil vom 3. Juni 1958). Auf die Berufung der Beklagten stellte ihn das Bayerische Landessozialgericht (LSG) wieder her, soweit darin Beitragsschulden zur AnV aufgerechnet wurden (Urteil vom 19. Juli 1960). Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Beklagte wenigstens in diesem Umfang aufrechnen durfte.
Das LSG stimmte der Beklagten zu, daß der Kläger für die Beitragsschulden der GmbH hafte. Es folgte der zivilgerichtlichen Rechtsprechung, die trotz der rechtlichen Selbständigkeit der GmbH unter besonderen Umständen - wenn Treu und Glauben dies fordern - den Alleingesellschafter mit seinem Vermögen für die Schulden der Gesellschaft einstehen läßt. Diese besonderen Umstände erblickte das LSG in der Bestrafung des Klägers wegen betrügerischen Bankrotts und in seiner Pflicht als Geschäftsführer, für die Abführung der Beiträge zu sorgen.
Der Kläger legte die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag,
das Berufungsurteil aufzuheben, soweit es das erstinstanzliche Urteil abändert, dieses wiederherzustellen und die Kosten der 2. und 3. Instanz der Beklagten und den Beigeladenen aufzuerlegen.
Er rügte Verstöße gegen das materielle und prozessuale Recht: Das LSG habe weder tatsächlich noch rechtlich ausreichend dargetan, warum er für die behaupteten Beitragsschulden der GmbH hafte; es habe zwischen der Schadenshaftung des Geschäftsführers und der Haftung des Alleingesellschafters nicht unterschieden sowie verkannt, daß bürgerlich-rechtliche Ansprüche streitig seien, über die weder die Beklagte noch die Sozialgerichte entscheiden könnten; nach § 78 AVG dürfe mit Ansprüchen dieser Art gegen den Rentenanspruch gar nicht aufgerechnet werden.
Die Beklagte und die Beigeladenen beantragten die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig. Auf sie hin ist das Berufungsurteil im angefochtenen Teil - soweit es der Berufung der Beklagten stattgegeben hat - und in der Kostenentscheidung aufzuheben. Das LSG muß nochmals verhandeln und entscheiden, ob der Bescheid vom 31. Oktober 1957 rechtmäßig ist, soweit die Beklagte mit den Beitragsschulden zur AnV gegen den Rentenanspruch des Klägers aufgerechnet hat.
Die Befugnis der Sozialgerichte, über den Klageanspruch zu entscheiden, wird durch den Hinweis des Klägers auf den angeblich bürgerlich-rechtlichen Charakter der von der Beklagten geltend gemachten Gegenforderung nicht in Zweifel gezogen. Es ist nicht klar, ob der Kläger mit diesem Einwand schon die Zulässigkeit seiner eigenen Klage bestreiten will. Jedenfalls ist für sie der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben, weil die Anfechtungsklage, die der Kläger gegen den die Aufrechnung verfügenden Verwaltungsakt der Beklagten erhoben hat (§ 54 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung (§ 51 Abs. 1 SGG) betrifft. Die Beteiligten streiten, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist. Dieser Verwaltungsakt regelt die Erfüllung eines Rentenanspruchs aus der AnV, mithin eine Angelegenheit der Sozialversicherung. Alle übrigen Streitfragen sind nur Vorfragen der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts, die die Zulässigkeit der Klage nicht berühren.
Nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen entscheiden die Gerichte über alle Vorfragen selbst, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Letzteres ist hier nicht der Fall. Es braucht insbesondere nicht entschieden zu werden, ob die Sozialgerichte, wenn umstrittene bürgerlich-rechtliche Forderungen aufgerechnet werden, ebenso wie die Zivilgerichte bei der Aufrechnung mit streitigen öffentlich-rechtlichen Forderungen (BGH 16, 124) bis zur Entscheidung des anderen Gerichtszweiges das Verfahren aussetzen müßten. Denn die Gegenforderung, um die es hier geht, ist ebenfalls eine öffentlich-rechtliche Forderung aus dem Bereich der Sozialversicherung. Einzelne Ausführungen der Beteiligten dürfen nicht darüber täuschen, daß die Beklagte den Kläger als Mitschuldner einer gegen die GmbH gerichteten Beitragsforderung und nicht als Schadensstifter aus unerlaubter Handlung (§§ 823 ff BGB, vgl. hierzu BGH NJW 1962, 200) in Anspruch nimmt. Nach § 78 AVG könnte sie mit einem (bürgerlich-rechtlichen) Schadensersatzanspruch auch gar nicht aufrechnen. Wer die Beiträge zur AnV schuldet, ist aber im Recht der Sozialversicherung geregelt.
In der Sache ist der Ausgangspunkt des LSG ebenfalls zutreffend. Die Beklagte durfte gemäß § 78 AVG gegen den Rentenanspruch des Klägers (nur) aufrechnen, wenn dieser der Beklagten die Beiträge zur AnV schuldete (BSG 15, 36; SozR § 1299 RVO Aa 4 Nr. 2). Das LSG hat nicht verkannt, daß für die wohl 1952/1953 entstandenen Beitragsschulden an sich die aufgelöste GmbH einzustehen hatte, weil sie der Arbeitgeber i. S. des § 182 AVG aF der bei der Gesellschaft Beschäftigten gewesen ist (vgl. EuM 41, 508). Die Mithaftung des Klägers hat das LSG aus dessen Stellung als alleiniger Gesellschafter hergeleitet; als früherer Geschäftsführer wäre der Kläger dagegen - trotz der Strafvorschriften in §§ 205 AVG aF, 1488, 1492, 533, 536 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF - in keinem Falle Mitschuldner der Beiträge gewesen.
Zu Recht hat das LSG angenommen, daß auch im öffentlichen Recht der Gläubiger einer Forderung gegen eine juristische Person unter besonderen Umständen auf die hinter der juristischen Person stehenden Kräfte "durchgreifen" kann. Die in der Rechtsprechung der Zivilgerichte entwickelten Grundsätze (BGH 22, 226; BB 1958, 169 und 1961, 988) gelten hier genauso. Auch im öffentlichen Recht ist es notwendig, Rechtsmißbräuche zu verhüten und Entscheidungen zu treffen, die dem Zweck der Rechtsordnung entsprechen. Der Alleingesellschafter einer GmbH haftet daher für öffentlich-rechtliche Forderungen gegen die GmbH neben dieser mit, wenn seine Berufung auf die rechtliche Selbständigkeit der GmbH (§ 13 GmbH-Gesetz) sich als Rechtsmißbrauch darstellen würde.
Wann ein solcher Rechtsmißbrauch vorliegt, entscheiden die Umstände des Einzelfalls. Allgemeine Richtlinien lassen sich dafür nicht geben. Mit dem Bundesgerichtshof besteht jedoch Anlaß, vor einem leichtfertigen Übergehen der juristischen Person zu warnen. Wenn auch der Durchgriff auf den Gesellschafter nicht nur bei einem absichtlichen Rechtsmißbrauch statthaft ist, so reichen andererseits rein objektive Gesichtspunkte zur Annahme eines Rechtsmißbrauchs nicht aus. Es genügt daher nicht, daß der Kläger als Alleingesellschafter und gleichzeitiger Geschäftsführer die GmbH beherrschte und als Geschäftsführer für die Erfüllung der der GmbH erwachsenen Verbindlichkeiten sorgen mußte. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte verlangt mit Recht das Hinzutreten weiterer (qualifizierender, subjektiver) Umstände, die das Verhalten des Alleingesellschafters erst als Rechtsmißbrauch kennzeichnen. Die vorwerfbare Handlungsweise muß sich dabei immer auf die streitige Forderung beziehen. Im vorliegenden Falle scheiden deshalb, weil die Beitragsschulden kraft Gesetzes entstanden sind, die Umstände aus, die bei rechtsgeschäftlichem Handeln bedeutsam wären (Rechtsschein usw.). Dem Kläger könnte aber etwa zur Last gelegt werden, daß er es hätte vermeiden können und müssen, daß die Beitragsschulden bei der GmbH entstanden und dann nicht erfüllt werden konnten. War die Gesellschaft schon vor der Entstehung dieser Schulden nicht mehr lebensfähig und mußte dies der Kläger - als Alleingesellschafter oder als Geschäftsführer - erkennen, so hätte er die geschäftliche Tätigkeit der GmbH und, worauf es hier besonders ankommt, die versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse der Angestellten beenden müssen.
In dem angefochtenen Urteil fehlen ausreichende Feststellungen, ob die Berufung des Klägers auf die rechtliche Selbständigkeit der GmbH gegenüber den Beitragsschulden zur AnV in diesem Sinne ein Rechtsmißbrauch ist. Es ist schon nicht zu ersehen, welche Beitragsschulden zur AnV überhaupt bestehen und wann sie entstanden sind. Schon der Bescheid der Beklagten war in dieser Beziehung mangelhaft, weil darin nur von "Gesamtsozialversicherungsbeiträgen" von "rund 21.000 DM" die Rede war. Mag damit auch der mit solchen Schulden aufrechnende Verwaltungsakt gerade noch ausreichend bestimmt gewesen sein, so hätte doch das LSG über die Beitragsschulden zur AnV genauere Feststellungen treffen müssen. Zur Annahme eines Rechtsmißbrauchs genügte es nicht, daß der Kläger als Geschäftsführer für die Abführung der Beiträge zu sorgen hatte. Das Verhalten des Klägers bei der Entstehung der dann nicht erfüllten Beitragsschulden zur AnV mußte im einzelnen geklärt werden. Seine Bestrafung wegen betrügerischen Bankrotts ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Wie die Urteilsgründe des Landgerichts (LG) erweisen, auf die sich das LSG bezogen hat, ist die Straftat im August 1953 begangen worden, als die Beitragsschulden zur AnV wohl längst entstanden waren. Nach diesen Urteilsgründen hat die Straftat auch der Sache nach mit den Beitragsschulden nichts zu tun; es handelte sich vielmehr um die Beseitigung von Werkzeugen, für die das LG dem Kläger unter Zubilligung mildernder Umstände die gesetzliche Mindeststrafe von drei Monaten auferlegte; dabei stellte das LG fest, daß ein erheblicher Schaden kaum entstanden sei, weil die Werkzeuge gegenüber den sonstigen Vermögenswerten der GmbH nur Bruchteilswert besessen hätten.
Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts muß das Urteil des LSG aufgehoben werden. Der Senat kann aus dem gleichen Grunde keine eigene Entscheidung in der Sache treffen; deshalb muß das LSG nochmals prüfen, ob hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Kläger gegen Treu und Glauben verstößt, wenn er sich gegenüber den Beitragsforderungen zur AnV auf die rechtliche Selbständigkeit der GmbH beruft. Das LSG wird dabei wohl auch klären müssen, in welcher wirtschaftlichen Lage sich die GmbH befand, als diese Beitragsschulden entstanden, ob die GmbH damals schon lebensunfähig gewesen ist, ob der Kläger dies auch erkennen und bis zu welchem Zeitraum er daraufhin die Beschäftigungsverhältnisse der bei der GmbH tätigen Angestellten beenden konnte. In diesem Zusammenhang wird sich das LSG näher mit dem Urteil des LG befassen müssen. Nach diesem Urteil soll die GmbH im Jahre 1952 infolge einer Krise der Textilbranche in Absatzstockungen und Liquiditätsschwierigkeiten geraten und im März 1953 zahlungsunfähig geworden sein; im gleichen Monat soll der Kläger die Eröffnung des Vergleichsverfahrens beantragt haben. Das LG hat dem Kläger bescheinigt, daß er bis zum 30. März 1953 die Bücher der GmbH ordnungsgemäß geführt habe; es hat bei der Strafzumessung berücksichtigt, daß der Kläger den Zusammenbruch des Unternehmens nicht verschuldet habe; dieser sei zum wesentlichen Teil durch äußere Umstände bedingt, gegen die der Kläger machtlos gewesen sei.
In seinem neuen Urteil wird das LSG auch noch über die Kosten des Berufungsverfahrens und die des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
BSGE 19, 18 (LT1) |
BSGE, 18 |
BB 1963, 900 (LT1) |
NJW 1963, 1373 |
NJW 1963, 1373 (LT1) |
RegNr, 1879 |
MDR 1963, 626 (LT1) |
SozR § 1396 RVO (LT1), Nr 1 |