Leitsatz (amtlich)
Wer sich verpflichtet hat, seinen Dienst an einem bestimmten Tage anzutreten, tritt mit diesem Tage auch dann in die Beschäftigung ein (RVO § 306 Abs 1), wenn er die Arbeit infolge Erkrankung nicht aufnehmen kann, es sei denn, daß er durch sein Verhalten zu erkennen gibt, daß ein Beschäftigungsverhältnis nicht begründet werden soll.
Normenkette
RVO § 306 Abs. 1 Fassung: 1956-06-12, § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1956-06-12; BGB § 677 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die klagende Betriebskrankenkasse (BKK) und die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) streiten darüber, welche von ihnen für die Folgen eines Unfalls der Bärbel G. aufzukommen hat. Diese war während einer - am 31. Dezember 1961 beendeten - Beschäftigung Mitglied der klagenden BKK gewesen. Vom 3. Januar 1962 an hatte sie eine neue Stellung in einer Wäschefabrik, die im Bezirk der beklagten AOK liegt, angenommen. Nachdem sie am Morgen dieses Tages gegen 6,00 Uhr die elterliche Wohnung verlassen hatte, um sich mit dem Bus zu der ca. 11 km entfernten neuen Arbeitsstelle zu begeben - ihre Arbeit sollte dort um 6,30 Uhr beginnen -, brach sie sich auf vereister Straße einen Fuß und war deswegen bis Ende März 1962 arbeitsunfähig; danach nahm sie ihre Arbeit bei dem neuen Arbeitgeber auf.
Die BKK, die ihr für die Zeit vom 5. Januar bis 31. März 1962 aufgrund des § 214 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Haus- und Krankengeld in Höhe von 452,92 DM gezahlt hat, verlangt dessen Erstattung von der AOK. Diese hält sich nicht für erstattungspflichtig, weil Bärbel G. im Zeitpunkt des Unfalles noch nicht ihr Mitglied gewesen sei. Sie sei noch nicht in den Betrieb des neuen Arbeitgebers eingegliedert gewesen und habe auch noch nicht dessen Direktionsrecht unterstanden. Erst mit der Aufnahme der Arbeit "mit dem Durchschreiten des Werktores") wäre das neue Beschäftigungsverhältnis begründet worden.
Das Sozialgericht (SG) ist dieser Auffassung nicht gefolgt und hat die beklagte AOK zur Erstattung des genannten Betrages verurteilt: Bei natürlicher Betrachtungsweise sei schon der Weg zur Arbeitsstätte als Teil des Beschäftigungsverhältnisses anzusehen, da der Arbeitnehmer mit dem Antritt des Weges seine Bereitschaft bestätige, sich der Verfügungsgewalt des Arbeitgebers zu unterstellen (Urteil vom 24. Juli 1963).
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die - vom SG zugelassene - Berufung der AOK als unbegründet zurückgewiesen. Es hat nicht als entscheidend angesehen, ob Bärbel G. im Zeitpunkt des Unfalles bereits in den Betrieb des neuen Arbeitgebers eingegliedert war. Die Eingliederung in den Betrieb sei nur ein Erscheinungsbild der für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis notwendigen persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers. Entscheidend für die Annahme eines solchen Beschäftigungsverhältnisses sei einerseits die Verfügungsmacht des Arbeitgebers und andererseits die Dienstbereitschaft des Arbeitnehmers. Beides habe hier im Zeitpunkt des Unfalles vorgelegen. Die Entfernung zum Arbeitsort sei auch nicht so weit gewesen, daß der Arbeitgeber seine Verfügungsmacht nicht hätte verwirklichen können (Urteil vom 26. November 1964).
Die beklagte AOK hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie beantragt unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1964 und des Sozialgerichts Köln vom 24. Juli 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die klagende BKK hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
II
Die Revision der beklagten AOK ist nicht begründet. Sie hat der klagenden BKK die von dieser aus Anlaß des fraglichen Unfalls erbrachten und der Höhe nach nicht streitigen Leistungen zu erstatten, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden hat.
Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß eine Krankenkasse einem früheren Mitglied nach § 214 RVO nicht leistungspflichtig ist, wenn inzwischen eine neue Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse begründet worden ist (vgl. § 214 Abs. 3 RVO und BSG 14, 278, 279). Leistet die früher zuständige Krankenkasse gleichwohl nach § 214 RVO, obwohl der Versicherte inzwischen Mitglied einer anderen Krankenkasse geworden ist, so erfüllt sie damit eine Verpflichtung der anderen Kasse und kann von dieser wie eine auftragslose Geschäftsführerin (vgl. §§ 677 ff BGB) Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen. Das gilt auch dann, wenn die früher zuständige Krankenkasse nur deswegen geleistet hat, weil die andere Kasse unter Verkennung ihrer Zuständigkeit ihre Leistungspflicht nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt hat (vgl. § 679 BGB und BSG 6, 197, 200 f; ferner BSG 16, 151, 156 und 222, 224).
Das LSG hat auch mit Recht angenommen, daß Bärbel G. im Zeitpunkt des Unfalls Mitglied der beklagten AOK war und deshalb Anspruch auf deren Regelleistungen hatte (§ 206 RVO).
Nach § 306 Abs. 1 RVO beginnt bei Versicherungspflichtigen die Mitgliedschaft in der Krankenkasse "mit dem Tage des Eintritts in die versicherungspflichtige Beschäftigung". Hiernach wird die Kassenmitgliedschaft nicht erst mit dem Eintritt in die Beschäftigung, sondern schon "mit dem Tage" des Eintritts, d. h. mit dem Beginn des Eintrittstages, begründet (vgl. die Grundsätzliche Entscheidung 3171 des Reichsversicherungsamts - RVA -, AN 1928 IV, 182, 183). Voraussetzung für die - auf den Beginn des Eintrittstages zurückbezogene - Begründung der Kassenmitgliedschaft bleibt jedoch, daß der Betreffende im Laufe des Tages in die Beschäftigung eintritt. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn er aufgrund seines Arbeitsvertrages an diesem Tage den Dienst antreten soll. Hinzukommen muß vielmehr zu der schuldrechtlichen Pflicht zum Dienstantritt deren Erfüllung durch den "Eintritt in die Beschäftigung". Dazu ist nicht erforderlich, daß die Arbeit tatsächlich aufgenommen wird. Es genügt vielmehr, daß der Arbeitnehmer sich der Verfügungsmacht (Direktions-, Weisungsbefugnis) des neuen Arbeitgebers unterstellt und damit ein Glied, ein Angehöriger des Betriebes wird. Der Erwerb der Betriebszugehörigkeit, die Eingliederung in den Betrieb, die Unterordnung unter die Verfügungsmacht oder Direktionsbefugnis des Arbeitgebers - alle diese Begriffe kennzeichnen nur verschiedene Seiten desselben Vorgangs - braucht hiernach nicht notwendig mit der Aufnahme der Arbeit zusammenzufallen, wenn dies in der Lebenswirklichkeit auch regelmäßig so sein wird. Eine Ausnahme macht insbesondere der Fall, daß der Arbeitnehmer an dem für den Dienstantritt vereinbarten Tag durch eine Erkrankung oder aus anderen Gründen gehindert ist, die Arbeit aufzunehmen. Auch in diesem Fall wird er mit dem vereinbarten Tag Angehöriger des Betriebes, es sei denn, daß er durch sein Verhalten zu erkennen gibt, daß er den Dienst nicht antreten, nicht Arbeitnehmer des neuen Betriebes werden will.
Die Verfügungsmacht (Direktionsgewalt, Weisungsbefugnis) des Arbeitgebers über die Person eines am Tage des Dienstantritts arbeitsunfähigen Arbeitnehmers beschränkt sich allerdings auf Weisungen, die der Arbeitnehmer nach seinem körperlichen Zustand ausführen kann. So kann ihn der Arbeitgeber etwa anweisen, ein ärztliches Attest vorzulegen, oder ihn, wenn er ausgehen darf, zu einer Rücksprache im Betrieb bestellen. Nicht anders ist es aber auch, wenn der Arbeitnehmer nach Aufnahme der Arbeit arbeitsunfähig wird. Auch hier beschränkt sich die Verfügungsmacht des Arbeitgebers für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit auf die vom Arbeitnehmer ausführbaren Weisungen, ohne daß deswegen das Beschäftigungsverhältnis als solches unterbrochen wird (vgl. Hoffmann-Kreil, Krankenversicherung, 9. Auflage, § 165 Erl. III b; Grundsätzliche Entscheidung 3765 des RVA, AN 1930 IV, 259 f; BSG 12, 190). Das für die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses wesentliche Merkmal der Verfügungsmacht des Arbeitgebers über die Person des Arbeitnehmers hat somit keinen ein für allemal vorgegebenen Inhalt, namentlich braucht sich die Verfügungsmacht nicht notwendig auf die Verwertung der Arbeitskraft des Beschäftigten, d. h. auf die Erteilung von Weisungen am Arbeitsplatz, zu beziehen. Auch ein arbeitsunfähiger Beschäftigter untersteht, sofern nicht sein Verhalten dagegen spricht, weiterhin der - inhaltlich allerdings stark eingeschränkten - Direktionsgewalt des Arbeitgebers, bleibt also in den Betrieb "eingegliedert". Von daher ist es nur folgerichtig, auch die erstmalige Eingliederung in den Betrieb, den Erwerb der Betriebszugehörigkeit, nicht daran scheitern zu lassen, daß der Arbeitnehmer am Tage des Dienstantritts arbeitsunfähig ist.
Gibt er allerdings durch Handlungen oder Unterlassungen zu erkennen, daß er den Dienst nicht antreten will (er teilt dies z. B. dem Arbeitgeber ausdrücklich mit oder läßt längere Zeit nichts von sich hören, obwohl er den Arbeitgeber von seiner Erkrankung durchaus benachrichtigen könnte), so kommt ein Beschäftigungsverhältnis nicht zustande. Ob es zustandekommt, wenn der Arbeitgeber etwa im Hinblick auf die Erkrankung des Arbeitnehmers seine Einstellung ablehnt, läßt der Senat offen. Von Bedeutung könnte insoweit sein, daß der Arbeitnehmer, der für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert ist, ähnlich wie im Falle des Annahmeverzuges des Arbeitgebers (vgl. § 615 BGB und Grundsätzliche Entscheidung 3102 des RVA, AN 1927, 581, sowie EuM Bd. 22, 238) grundsätzlich seinen Lohnanspruch behält (vgl. § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB und die entsprechenden Regelungen im HGB und in der Gewerbeordnung).
Im vorliegenden Fall hatte sich Bärbel G. an dem für die Aufnahme der Arbeit vereinbarten Tag (3. Januar 1962) auf den Weg zur neuen Arbeitsstelle begeben, um die Arbeit zu der vom Arbeitgeber bestimmten Zeit (6,30 Uhr) aufzunehmen. Damit hatte sie zu erkennen gegeben, daß sie die von ihr vertraglich übernommene Pflicht, ihren Dienst am 3. Januar 1962 anzutreten, auch erfüllen wollte. Der Ausnahmefall, daß der Arbeitnehmer durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt, daß er seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nicht nachkommen will, liegt hier also nicht vor. Daraus folgt, daß Bärbel G. trotz ihrer Arbeitsunfähigkeit schon am 3. Januar 1962 zur Verfügung des neuen Arbeitgebers gestanden hat, mag dessen Verfügungsmacht, wie ausgeführt, wegen ihrer Erkrankung zunächst auch noch stark eingeschränkt gewesen sein. Sie ist somit an diesem Tage in ihre neue Beschäftigung eingetreten und Mitglied der beklagten AOK geworden.
Wenn das RVA in einer Entscheidung aus dem Jahre 1940 (GE 5404, AN 1941 II, 70) angenommen hat, daß zwar der Weg zur Aufnahme der Arbeit im Regelfall der tatsächlichen Arbeitsleistung gleichzustellen sei, weil im allgemeinen bereits mit diesem Wege die Verfügungsgewalt des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer beginne, daß dies jedoch nur gelte, wenn der Arbeitgeber nach den räumlichen Verhältnissen des Einzelfalles seine Verfügungsgewalt unschwer verwirklichen könne, der Arbeitnehmer also für ihn tatsächlich erreichbar sei, so kann der Senat dem nicht voll beitreten. Wie die Verfügungsmacht des Arbeitgebers sich gegenständlich nicht darin zu äußern braucht, daß dem Arbeitnehmer Weisungen hinsichtlich der Ausführung der Arbeit erteilt werden, so setzt sie auch der Intensität nach nicht jederzeitige "Erreichbarkeit" des Arbeitnehmers voraus. Von der körperlichen Nähe oder Entfernung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kann deshalb die Annahme der Verfügungsmacht nicht abhängig gemacht werden.
Die Auffassung des Senats entspricht auch der im neueren arbeitsrechtlichen Schrifttum vertretenen Lehre, die schärfer als früher zwischen dem Arbeitsvertrag, der den Arbeitnehmer zunächst nur verpflichtet, in den Dienst des Arbeitgebers zu treten, und dem tatsächlichen Dienstantritt, d. h. der Einstellung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber, unterscheidet. Erst mit der Einstellung geht das schuldrechtliche Arbeitsverhältnis in den Erfüllungszustand über, wobei die Einstellung aber nicht mit der Aufnahme der Arbeit zusammenzufallen braucht, was namentlich für einen am Tage des Dienstantritts arbeitsunfähigen Arbeitnehmer gilt (vgl. dazu Nikisch, Arbeitsrecht, 1. Bd., 3. Aufl., S. 158 ff, 193 ff, insbesondere 197; ebenso im Ergebnis Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., 1. Bd., S. 118 f Anm. 11).
Da Bärbel G. somit im Zeitpunkt des Unfalls Mitglied der beklagten AOK war, hat diese der klagenden BKK die von ihr aufgewendeten Leistungen zu erstatten.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 707735 |
BSGE, 124 |
NJW 1967, 1389 |