Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. zumutbare Verfahrensdauer. Anordnung des Ruhens des Verfahrens trotz Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Erschöpfung des Rechtsweges allein im vorläufigen Rechtsschutzverfahren (hier: Aussetzung der Vollziehung wegen Verfassungsmäßigkeit der in den Streitjahren 1981 bis 1983 geltenden Bestimmungen des § 32a Abs. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 8, § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG) genügt dann nicht, wenn das Hauptsacheverfahren ausreichende Möglichkeiten bietet, der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abzuhelfen und dadurch kein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht.
2. Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs bzw. eines Rechtsmittels ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG nicht schlechthin und ausnahmslos verfassungsrechtlich garantiert. Entscheidend ist vielmehr, daß ein ausreichender Rechtsschutz in der Hauptsache gewährt wird. Hiervon ausgehend begegnet weder die einschlägige gesetzliche Regelung des § 69 FGO noch ihre Anwendung verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Aussetzung der Vollziehung ist nicht allein deshalb geboten, weil die Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit verschiedener Normen behaupten und diese Verfassungswidrigkeit – zumindest zu einem Teil – auch in beim BVerfG anhängigen Verfahren geltend gemacht wird.
3. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Insbesondere muß dabei der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen Rechnung getragen werden. Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG ist es somit erforderlich, daß durch das Unterbleiben einer gerichtlichen Entscheidung wesentliche, anderweitig nicht zu verhindernde Nachteile entstanden sind oder alsbald entstehen (hier: drei Jahre Dauer eines Verfahrens wegen Aussetzung der Vollziehung).
4. Lehnt das Finanzgericht zwar die Aussetzung der Vollziehung ab, ordnet jedoch das Ruhen des Verfahrens in der Hauptsache an, bestehen dagegen wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen der jeweiligen Entscheidungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; AO 1977 § 227; FGO § 69 Abs. 3; BVerfGG § 90 Abs. 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
FG Nürnberg (Beschluss vom 09.12.1988; Aktenzeichen VI 346/85) |
Gründe
1. Soweit die Beschwerdeführer die Verfassungsmäßigkeit der in den Streitjahren 1981 bis 1983 geltenden Bestimmungen des § 32a Abs. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 8, § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG angreifen, steht einer Prüfung in der Sache der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Dieser erfordert, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus auch sonstige prozessuale Möglichkeiten ergreifen muß, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken. Daraus folgt, daß die Erschöpfung des Rechtsweges im vorläufigen Rechtsschutzverfahren dann nicht genügt, wenn das Hauptsacheverfahren ausreichende Möglichkeiten bietet, der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abzuhelfen, und dieser Weg dem Beschwerdeführer zumutbar ist. Das ist regelmäßig anzunehmen, wenn mit der Verfassungsbeschwerde Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen, wenn die Entscheidung weiterer tatsächlicher und einfachrechtlicher Aufklärung bedarf und wenn dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache kein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht.
Nach diesen Grundsätzen sind die Beschwerdeführer auf die Erschöpfung des Rechtsweges in der Hauptsache zu verweisen, denn ihre Verfassungsbeschwerde stützt sich insoweit auf behauptete Grundrechtsverletzungen, die sich auf die Hauptsache beziehen: So rügen sie die Verfassungswidrigkeit des Grund- und Kinderfreibetrages sowie die Regelung der Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen für selbständig Tätige. Für die Klärung dieser Rechtsfragen bedarf es vertiefter tatsächlicher und rechtlicher Erwägungen, die in einem lediglich summarischen Verfahren wie dem Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO nicht angestellt werden. Ein schwerer, unabwendbarer und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zureichend ausräumbarer Nachteil für die Beschwerdeführer ist – zumal in Anbetracht ihrer in den Streitjahren gezeigten steuerlichen Leistungsfähigkeit – nicht ersichtlich.
2. Im übrigen läßt der Beschluß des Finanzgerichts einen Verfassungsverstoß nicht erkennen.
a) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die Möglichkeit, Gerichte anzurufen, sondern ebenso die Effektivität des Rechtsschutzes. Dazu gehört, daß unkorrigierbare Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer staatlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden. Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs bzw. eines Rechtsmittels ist hiernach unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG indessen nicht schlechthin und ausnahmslos verfassungsrechtlich garantiert. Entscheidend ist vielmehr, daß ein ausreichender Rechtsschutz in der Hauptsache gewährt wird. Hiervon ausgehend begegnet weder die einschlägige gesetzliche Regelung des § 69 FGO noch ihre Anwendung im konkreten Fall verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Aussetzung der Vollziehung ist nicht allein deshalb geboten, weil die Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit verschiedener Normen behaupten und diese Verfassungswidrigkeit – zumindest zu einem Teil – auch in beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren geltend gemacht wird.
b) Die Rüge der Beschwerdeführer, in der dreijährigen Verfahrensdauer vor dem Finanzgericht bis zur Entscheidung über ihren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sei eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG zu sehen, greift gleichfalls nicht durch.
Zwar gehört zu dem aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Gebot eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auch, daß dieser innerhalb angemessener Zeit gewährt wird. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist allerdings nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Insbesondere muß dabei der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen Rechnung getragen werden. Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG ist es somit erforderlich, daß durch das Unterbleiben einer gerichtlichen Entscheidung wesentliche, anderweitig nicht zu verhindernde Nachteile entstanden sind oder alsbald entstehen.
Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint die Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens zwar nicht bedenkensfrei; ein wesentlicher, anderweitig nicht zu verhindernder Nachteil kann jedoch in dieser zeitlichen Verzögerung für die Beschwerdeführer nicht gesehen werden. Selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, daß in der Belastung mit Säumniszuschlägen ein schwerwiegender, wesentlicher Nachteil läge, so können die Beschwerdeführer diesen anderweitig beseitigen, weil sie die Möglichkeit haben, den durch ein infolge langer Verfahrensdauer entstandenen Schaden in einem gesonderten Billigkeitsverfahren, der den Erlaß der fraglichen Beträge nach § 227 AO zum Gegenstand hat, geltend zu machen.
c) Soweit schließlich die Beschwerdeführer den Umstand angreifen, daß das Finanzgericht zwar die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt, jedoch das Ruhen des Verfahrens in der Hauptsache angeordnet hat, lassen sich verfassungsrechtliche Bedenken ebenfalls nicht finden. Die jeweilige Entscheidung beruht auf unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung bezieht sich insbesondere auf die Frage, ob die in einem Steuerbescheid getroffene Entscheidung ernstlich zweifelhaft ist. Hingegen betrifft die Anordnung des Ruhens des Verfahrens eine Maßnahme, die aus verfahrensökonomischen Gründen etwa dann ergehen kann, wenn – wie im vorliegenden Verfahren – die Durchführung eines Musterverfahrens abgewartet werden soll. Ein verfassungsrechtlich bedeutsamer Widerspruch zwischen diesen beiden Entscheidungen ist weder von den Beschwerdeführern dargetan noch ersichtlich.
Fundstellen