Entscheidungsstichwort (Thema)
Rehabilitierung gegen strafgerichtliche Entscheidungen der DDR
Leitsatz (amtlich)
1. Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, nach der eine Verurteilung durch ein DDR-Gericht wegen Fahnenflucht in der Regel keinen Anspruch auf strafrechtliche Rehabilitierung begründet, verletzt den Verurteilten nicht in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
2. Das Rehabilitierungsgericht verletzt den Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes), wenn es die Tatsachenfeststellungen des DDR-Gerichts schlicht übernimmt, obwohl der Vortrag politischer Verfolgung Anlaß zur Prüfung gegeben hätte.
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
Der Beschluß des Oberlandesgerichts Rostock vom 20. Juni 1994 – II WsRH 57/94 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Rostock zurückverwiesen.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Der Beschwerdeführer war von einem Militärgericht der DDR wegen Fahnenflucht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Er wendet sich gegen die Ablehnung seiner Rehabilitierung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz.
I.
1. a) Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer strafrechtlichen Rehabilitierung sind in § 1 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes in der Fassung vom 29. Oktober 1992 – StrRehaG – (BGBl I S. 1814), gleichlautend in der Fassung vom 5. Juli 1997 (BGBl I S. 1613), bestimmt:
Aufhebung rechtsstaatswidriger Entscheidungen
(1) Die strafrechtliche Entscheidung eines staatlichen deutschen Gerichts in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 ist auf Antrag für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben (Rehabilitierung), soweit sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist, insbesondere weil
1. die Entscheidung politischer Verfolgung gedient hat; dies gilt in der Regel für Verurteilungen nach folgenden Vorschriften:
- Landesverräterische Nachrichtenübermittlung (§ 99 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968 in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Dezember 1988 …);
- Staatsfeindlicher Menschenhandel (§ 105 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik …);
- Staatsfeindliche Hetze (§ 106 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik …);
- Ungesetzliche Verbindungsaufnahme (§ 219 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik …);
- Ungesetzlicher Grenzübertritt (§ 213 Abs. 1, 2, 3 Satz 2 Nr. 3 bis 6, oder Abs. 4 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik …);
- Boykotthetze gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 (…);
- Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung (§ 256 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik …) oder § 43 des Gesetzes über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. März 1982 (…);
- nach Vorschriften, die den unter den Buchstaben a bis g genannten Vorschriften inhaltlich entsprechen, sowie
- Hochverrat, Spionage, Anwerbenlassen zum Zwecke der Spionage, Landesverräterische Agententätigkeit, Staatsverbrechen, die gegen einen verbündeten Staat gerichtet sind, Unterlassung der Anzeige einer dieser Straftaten, Geheimnisverrat (§§ 96, 97, 98, 100, 108, 225 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit diesen Vorschriften, §§ 245 oder 246 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik …) oder nach inhaltlich entsprechenden Vorschriften, wenn die Tat für die Bundesrepublik Deutschland, einen mit ihr verbündeten Staat oder für eine Organisation begangen worden sein soll, die den Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung verpflichtet ist, oder
2. die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Mißverhältnis zu der zugrundeliegenden Tat stehen.
(2) …
b) Im Rehabilitierungsverfahren gilt nach § 10 StrRehaG der Amtsermittlungsgrundsatz:
Ermittlung des Sachverhalts
(1) Das Gericht ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Dabei bestimmt es Art und Umfang der Ermittlungen, insbesondere etwaiger Beweiserhebungen, nach pflichtgemäßem Ermessen.
(2) …
c) Rechtsfolgen der Rehabilitierung sind die Erstattung der Kosten des früheren Strafverfahrens (§ 6 StrRehaG), die Rückübertragung oder Rückgabe von eingezogenen Vermögenswerten (§ 3 Abs. 2 StrRehaG i. V. m. dem Vermögens- und dem Investitionsvorranggesetz), bei Freiheitsentziehung die Gewährung einer Kapitalentschädigung (§ 17 StrRehaG) und von Unterstützungsleistungen bei besonderer Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage (§ 18 StrRehaG), eine Beschädigtenversorgung bei gesundheitlicher Schädigung infolge der Freiheitsentziehung (§ 21 StrRehaG) und im Falle des Todes eine Hinterbliebenenversorgung (§ 22 StrRehaG) sowie die Anerkennung der Haftzeit als Zeitraum einer versicherungspflichtigen Tätigkeit bei der Rentenversicherung (Art. 2 § 19 Nr. 16 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung – Renten-Überleitungsgesetz – RÜG vom 25. Juli 1991, BGBl I S. 1606, 1669). Außerdem führt die Rehabilitierung zur Beendigung der Vollstreckung (§ 4 StrRehaG) und zur Tilgung der Verurteilung im Bundeszentralregister (§ 5 StrRehaG).
Aus einer Versagung der Rehabilitierung ergibt sich freilich noch nicht, daß die zugrundeliegende Verurteilung des DDR-Gerichts vollstreckt und in das Bundeszentralregister eingetragen würde. Dies hat der Gesetzgeber gesondert geregelt: Die Vollstreckung aus der strafrechtlichen Verurteilung eines DDR-Gerichts ist unzulässig, wenn gerichtlich festgestellt wird, daß die Verurteilung mit rechtsstaatlichen Maßstäben nicht vereinbar ist, daß Art oder Höhe der Rechtsfolge nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht angemessen sind oder daß sie dem Zweck eines Bundesgesetzes widersprechen (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 Buchstabe d des Einigungsvertrags). Entscheidungen der DDR-Gerichte werden nach § 64 a Abs. 3 Nrn. 1, 2 Bundeszentralregistergesetz – BZRG – in der Fassung des Einigungsvertrags (Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 2 Buchstabe a des Einigungsvertrags) nicht in das Bundeszentralregister eingetragen, wenn der zugrundeliegende Sachverhalt im Zeitpunkt der Übernahme des BZRG nicht mehr mit Strafe bedroht oder mit Ordnungsmitteln belegt oder die Entscheidung mit rechtsstaatlichen Maßstäben nicht vereinbar ist.
2. Bereits im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl II S. 889), der in Artikel 18 die Fortgeltung der Entscheidungen der Gerichte der DDR anordnet, bekräftigten die Vertragsparteien ihre Absicht, „daß unverzüglich eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind” (Art. 17). Einen wichtigen Teil dieses Auftrags wollte der Gesetzgeber mit dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz erfüllen (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 15. November 1991, BTDrucks 12/1608, S. 13), das die nach dem Beitritt der DDR zunächst nach Maßgabe des Einigungsvertrags fortgeltenden Kassationsvorschriften der Strafprozeßordnung der DDR und Regelungen des Rehabilitierungsgesetzes der DDR abgelöst hat.
3. Verurteilungen wegen Fahnenflucht hat der Gesetzgeber – anders als Verurteilungen wegen Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung – nicht in den Regelkatalog des § 1 Abs. 1 StrRehaG aufgenommen. Dies entsprach der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. In deren Begründung heißt es, Fahnenflucht sei „überwiegend kein politisches Delikt” gewesen, könne aber im Einzelfall der allgemeinen Regelung des § 1 Abs. 1 StrRehaG untergeordnet werden, während „die Aufnahme der die Wehrdienstverweigerung betreffenden Tatbestände des DDR-Strafrechts […] der politischen Bedeutung der Wehrdienstverweigerung als Widerstand gegen das Regime Rechnung” trage (BTDrucks 12/2820, S. 28). Bereits der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, in dessen Regelkatalog weder Verurteilungen wegen Fahnenflucht noch wegen Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung enthalten waren, festgehalten, daß „Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen […] zu politischen Zwecken unterdrückt und unter Strafe gestellt” worden sei (BTDrucks 12/1608, Anlage 2, S. 33).
4. In der DDR wurde durch das Wehrpflichtgesetz vom 24. Januar 1962 (GBl DDR I S. 2) die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Zugleich wurde das Strafgesetzbuch durch das Militärstrafgesetz (MStG) vom 24. Januar 1962 (GBl DDR I S. 25) u. a. um den Tatbestand der Fahnenflucht ergänzt (§ 4 MStG). Zuständig für Militärstrafsachen waren ab 1963 die Militärgerichte (Erlaß des Staatsrates der DDR über die Stellung und die Aufgaben der Gerichte für Militärstrafsachen ≪Militärgerichtsordnung≫ vom 4. April 1963, GBl DDR I S. 71; ebenso Militärgerichtsordnung des Nationalen Verteidigungsrats vom 27. September 1974, GBl DDR I S. 481, geändert am 28. Juni 1979, GBl DDR I S. 155).
§ 4 MStG lautete:
Fahnenflucht
(1) Wer es unternimmt, seine Truppe, seine Dienststelle, seinen Einsatzort oder einen anderen für ihn bestimmten Aufenthaltsort zu verlassen oder zu diesem nicht zurückzukehren, um sich dem Wehrdienst zu entziehen, wird mit Zuchthaus bis zu acht Jahren bestraft.
(2) Auf Zuchthaus nicht unter zwei Jahren ist zu erkennen, wenn
- die Fahnenflucht mit dem Ziel begangen wird, das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen,
- zur Verwirklichung der Fahnenflucht von dem Täter Gewalt gegen andere Personen angewendet oder mit Gewalt gedroht wird,
- die Fahnenflucht von mindestens zwei Personen oder
- die Tat von einem Offizier begangen wurde.
(3) …
Mit Gesetz vom 12. Januar 1968 (GBl DDR I S. 97) wurde § 4 MStG durch § 254 StGB/DDR (GBl DDR I S. 1, 45) – der Straftatbestand, nach dem der Beschwerdeführer verurteilt wurde – ersetzt:
Fahnenflucht
(1) Wer seine Truppe, seine Dienststelle oder einen anderen für ihn bestimmten Aufenthalt verläßt oder ihnen fernbleibt, um sich dem Wehrdienst zu entziehen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren bestraft.
(2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn die Tat
- mit dem Ziel begangen wird, das Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen oder diesem fernzubleiben;
- unter Mitnahme einer Waffe erfolgt oder zur Verwirklichung der Tat Gewalt gegen andere Personen angewandt oder mit Gewalt gedroht wird;
- von mindestens zwei Militärpersonen gemeinschaftlich begangen wird.
(3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.
(4) …
5. Die Straftatbestände der Wehrdienstentziehung und -verweigerung, die im Regelkatalog des § 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG aufgeführt sind, lauteten:
a) § 256 StGB/DDR:
Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung
(1) Wer sich dem Wehrdienst durch Täuschung entzieht oder sich weigert, den Wehrdienst zu leisten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Strafarrest bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer mit dem Ziel, seine Dienstfähigkeit zu beeinträchtigen, sich Verletzungen oder andere Gesundheitsschäden beibringt oder durch andere Personen beibringen läßt oder wer eine Dienstunfähigkeit vortäuscht.
(3) Der Versuch ist strafbar.
(4) Wer die Tat im Verteidigungszustand begeht, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
b) § 43 Wehrdienstgesetz/DDR:
Strafbestimmungen
(1) Wer vorsätzlich
- dem Einberufungsbefehl zur Ableistung des Wehrdienstes nicht oder nicht pünktlich Folge leistet,
- den Einberufungsbefehl nicht annimmt und dadurch den Wehrdienst nicht oder nicht pünktlich antritt oder
- sich dem Dienstantritt zur Ableistung des Wehrdienstes entzieht oder andere Handlungen begeht, um seine Einberufung zu verhindern, oder an solchen Handlungen mitwirkt,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer die Tat während der Mobilmachung oder im Verteidigungszustand begeht, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
6. Nach bundesdeutschem Recht wird Fahnenflucht mit Freiheitstrafe bis zu fünf Jahren bestraft (§ 16 Wehrstrafgesetz); gleiches gilt für die Dienstflucht nach § 53 Zivildienstgesetz. Diese Strafbestimmungen gelten auch für Totalverweigerer, die sowohl die Ableistung des Wehrdienstes als auch des Zivildienstes verweigern (vgl. Riegel in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 16 Wehrstrafgesetz, Rn. 9, und § 53 Zivildienstgesetz, Rn. 6).
Der Straftatbestand der Fahnenflucht im Wehrstrafgesetz vom 30. März 1957 (BGBl I S. 298) in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Mai 1974 (BGBl I S. 1213), zuletzt geändert durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 164, 187), lautet seit 1957 unverändert:
§ 16 Fahnenflucht
(1) Wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verläßt oder ihr fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Wehrdienst dauernd oder für die Zeit eines bewaffneten Einsatzes zu entziehen oder die Beendigung des Wehrdienstverhältnisses zu erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) Stellt sich der Täter innerhalb eines Monats und ist er bereit, der Verpflichtung zum Wehrdienst nachzukommen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren.
(4) Die Vorschriften über den Versuch der Beteiligung nach § 30 Abs. 1 des Strafgesetzbuches gelten für Straftaten nach Absatz 1 entsprechend.
Schließlich bestimmt § 18 Abs. 1 Wehrstrafgesetz:
§ 18 Dienstentziehung durch Täuschung
(1) Wer sich oder einen anderen Soldaten durch arglistige, auf Täuschung berechnete Machenschaften dem Wehrdienst dauernd oder für eine gewisse Zeit, ganz oder teilweise entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) …
Der Straftatbestand der Dienstflucht im Zivildienstgesetz vom 30. Januar 1960 (BGBl I S. 10) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. September 1994 (BGBl I S. 2811), zuletzt geändert durch die Sechste Zuständigkeitsanpassungs-Verordnung vom 21. September 1997 (BGBl I S. 2390, 2393), lautet seit 1960 unverändert:
Dienstflucht
(1) Wer eigenmächtig den Zivildienst [bis zum 1. Oktober 1973: Ersatzdienst] verläßt oder ihm fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Zivildienst dauernd oder für den Verteidigungsfall zu entziehen oder die Beendigung des Zivildienstverhältnisses zu erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) Stellt sich der Täter innerhalb eines Monats und ist er bereit, der Verpflichtung zum Zivildienst nachzukommen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren.
(4) Die Vorschriften über den Versuch der Beteiligung nach § 30 Abs. 1 des Strafgesetzbuches gelten für Straftaten nach Absatz 1 entsprechend.
Einen dem § 256 Nr. 1 StGB/DDR entsprechenden Tatbestand kennt das bundesdeutsche Recht nicht.
II.
Der Verfassungsbeschwerde liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1. Mit Urteil vom 17. Oktober 1974 wurde der Beschwerdeführer vom Militärgericht Rostock wegen Fahnenflucht nach § 254 Abs. 1 StGB/DDR zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt, die er vollständig verbüßt hat.
Das Militärgericht Rostock stellte fest, der Beschwerdeführer sei im Mai 1974 zur Ableistung des Grundwehrdienstes zur Volksmarine einberufen und dort innerhalb des Feuerwehrzuges eingesetzt worden. Am 28. Juli 1974 habe er seine Einheit unerlaubt verlassen und sei zu seiner Ehefrau gefahren. Fahndungsmaßnahmen hätten zwei Tage später zu seiner Festnahme und Rückführung zur Dienststelle geführt. Am 1. August 1974 habe der Beschwerdeführer mit dem Entschluß, fahnenflüchtig zu werden, erneut unerlaubt in Zivilkleidung die Dienststelle verlassen und sich mit seiner – von ihm zuvor instruierten – Ehefrau getroffen. Bei seiner Festnahme zwei Tage später habe er erklärt, daß er nicht bereit sei, seinen Wehrdienst abzuleisten, und sich innerhalb der DDR habe verstecken wollen.
Zur Strafzumessung führte das Militärgericht aus, bei dem Beschwerdeführer handele es sich – wie bereits im Gutachten des Zentralen Lazaretts ausgeführt – um einen willensschwachen, unausgeglichenen, sehr eigenwilligen jungen Menschen, der nicht bereit sei, seine staatsbürgerliche Pflicht entsprechend seinem Fahneneid zu erfüllen. Seine Einstellung zur Ableistung des Wehrdienstes sei „äußerst negativ”. Diese negative Einstellung sei bereits dadurch begründet worden, daß der Beschwerdeführer vor seiner Einberufung ständig Westfernsehen gesehen habe. Diese Sendungen hätten nachhaltig auf seine Bewußtseinsbildung eingewirkt. Er habe durch seine Tat eine schwerwiegende Mißachtung der militärischen Disziplin gezeigt, die sich negativ auf die Gefechtsbereitschaft seiner Einheit ausgewirkt habe. Er weigere sich weiterhin hartnäckig, seinen Wehrdienst abzuleisten, und gebe zu erkennen, daß er aus seinem Fehlverhalten keinerlei Schlußfolgerungen gezogen habe.
2. Im Jahre 1991 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Rehabilitierung nach dem Rehabilitierungsgesetz/DDR. Zur Begründung wies er darauf hin, sein Verhalten sei von politischem Widerspruch zu den damaligen Verhältnissen in der DDR geprägt gewesen. Er habe von seinem Recht auf Wehrdienstverweigerung Gebrauch gemacht. Nachdem man ihm mitgeteilt habe, daß von einer Vernichtung seiner Strafakten auszugehen sei, trug er vor, schon aus dem vorliegenden Urteil des Militärgerichts ergebe sich, daß er sich dem Wehrdienst habe entziehen wollen und daß dies Ausdruck seiner inneren Überzeugung gewesen sei. Sein Verhalten habe seinen politischen Widerspruch mit gewaltlosen Mitteln zum Ausdruck gebracht. Außerdem sei die Strafe „gröblichst überhöht” gewesen, weil man nicht berücksichtigt habe, daß seine strafrechtliche Verantwortlichkeit aufgrund der besonderen Situation ausgeschlossen gewesen sei. Über Inhalt und Ergebnis seiner fachärztlichen Begutachtung im Militärkrankenhaus schweige sich das Urteil aus.
3. Das Landgericht Rostock lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf der Grundlage des am 4. November 1992 in Kraft getretenen Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes mit Beschluß vom 22. Februar 1994 ab.
Zur Begründung führte es aus: Weder die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 noch die des § 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG seien gegeben. Die Verurteilung des Beschwerdeführers habe nicht der politischen Verfolgung gedient. Der Sachverhalt, wie er der Verurteilung zugrunde liege, erfülle auch nach heutigen Maßstäben den vergleichbaren Tatbestand des § 16 Wehrstrafgesetz und sei zweifellos strafwürdig. Die angeordneten Rechtsfolgen stünden nicht in grobem Mißverhältnis zur Tat.
Das ergebe sich u. a. auch aus einem Vergleich der Strafrahmen von § 254 StGB/DDR und § 16 Wehrstrafgesetz. Nach dem damals geltenden Strafrahmen habe die Strafe keinesfalls im oberen Grenzbereich gelegen.
4. Mit seiner Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, er habe sich der Wehrpflicht entzogen, um nicht durch sein Verhalten zur Stärkung der DDR beizutragen. Schon die Begründung des militärgerichtlichen Urteils, die seine Einstellung, also sein Gewissen, als besonders negativ bewertet habe, belege deutlich die politische Zielrichtung der Entscheidung. Außerdem habe seine damalige Persönlichkeitsstruktur hinreichende Anhaltspunkte für eine Verminderung seiner Zurechnungsfähigkeit i. S. d. § 16 StGB/DDR gegeben. Dennoch sei ihm – entgegen § 63 Abs. 2 StPO/DDR – kein Verteidiger bestellt worden. Das Militärgericht sei ein unzulässiges Sondergericht gewesen. Außerdem beantragte er die Beiziehung des für das Militärstrafverfahren erstellten fachpsychiatrischen Gutachtens.
5. Mit Beschluß vom 20. Juni 1994 verwarf das Oberlandesgericht Rostock die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet.
Es führte aus: Der Straftatbestand der Fahnenflucht nach § 254 Abs. 1 StGB/DDR sei nicht in den abschließend formulierten Regelkatalog des § 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG aufgenommen worden. Eine Verurteilung wegen Fahnenflucht in einem nicht erschwerten Fall könne nur dann zur Rehabilitierung führen, wenn die Fahnenflucht aus politischen Gründen begangen worden sei. Wie sich aus der Rechtsprechung des Senats in Übereinstimmung mit der in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Auffassung ergebe, handele es sich bei den Strafdrohungen gegen Fahnenflucht im nicht erschwerten Fall nicht um „schlechthin rechtsstaatswidrige Gesetze”. Eine Rehabilitierung könne zwar im Einzelfall geboten sein. Hier sei jedoch nicht zu erkennen, daß der Beschwerdeführer vom Militärgericht als Gegner des Systems erkannt und deshalb mit Mitteln des Strafrechts politisch verfolgt worden sei. Zwar werde im Urteil angeführt, der Beschwerdeführer habe westliche Fernsehsendungen empfangen. Das sei aber nicht im Hinblick auf seine Haltung zum politischen System, sondern im Hinblick auf seine innere Haltung zur Ableistung des Wehrdienstes bewertet worden. Das Militärgericht habe angenommen, daß der Beschwerdeführer willensschwach, unausgeglichen und sehr eigensinnig sei.
Das Urteil weise zwar Verfahrensmängel auf. Die Entscheidung sei jedoch nicht mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar. Daß die Urteilsgründe sich nicht mit dem eingeholten nervenfachärztlichen Gutachten auseinandersetzten und den Begründungserfordernissen des § 242 StPO/DDR nicht in vollem Umfang entsprächen, begründe keinen Anspruch auf Rehabilitierung. Auch der Umstand, daß dem Beschwerdeführer kein Verteidiger beigeordnet worden sei, stelle keinen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar.
Die angeordneten Rechtsfolgen stünden nicht in grobem Mißverhältnis zur Tat. Das Urteil entspreche der damaligen Strafzumessungspraxis und enthalte – wenn auch knappe – Erwägungen zur Strafzumessung.
Der Einwand des Beschwerdeführers, seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zur Tatzeit sei aufgehoben oder vermindert gewesen, ziele auf die Beweiswürdigung des Militärgerichts, das sich ausweislich des Urteils aufgrund des vorliegenden fachärztlichen Gutachtens für die gegenteilige Annahme entschieden habe. Das Rehabilitierungsverfahren sei weder ein Rechtsmittelverfahren noch ein Wiederaufnahmeverfahren im Sinne der §§ 359 ff. StPO. Damit sei das Rehabilitierungsgericht an die Feststellungen des zugrundeliegenden Urteils gebunden und habe dieses nur daran zu messen, ob es mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung vereinbar sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats gingen Angriffe gegen die Beweiswürdigung des zugrundeliegenden Urteils im Rehabilitierungsverfahren grundsätzlich ins Leere.
III.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Rostock vom 20. Juni 1994. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 und Art. 3 GG.
Zur Begründung trägt der Beschwerdeführer vor, er habe sich aus politischer Motivation aufgrund seiner Ablehnung gegenüber den Verhältnissen in der DDR dem Wehrdienst entzogen. Die politische Zielsetzung seiner Verurteilung ergebe sich deutlich aus den Entscheidungsgründen, die an seine „negative Einstellung” anknüpften und diese auf den Empfang von Westfernsehen zurückführten. Der Wehrdienst in der NVA habe der Stärkung und Aufrechterhaltung eines Unrechts-Staats gedient. Ein Vergleich mit dem bundesdeutschen Straftatbestand der Fahnenflucht sei daher nicht möglich. Eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung – sei es durch Verweigerung oder durch Fahnenflucht – könne nach rechtsstaatlichen Maßstäben nicht nachträglich gebilligt werden. Ein rechtsstaatlich verbürgtes Wehrdienstverweigerungsrecht habe es in der DDR nicht gegeben. Auch während der Haft habe der Beschwerdeführer zu seiner politischen Haltung gestanden und deswegen Haftverschärfungen erdulden müssen. Endlich zeige der Umstand, daß eine Strafaussetzung auf Bewährung nicht erfolgt sei, daß die Verurteilung der politischen Verfolgung des Beschwerdeführers gedient habe.
IV.
Der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und alle Länderregierungen hatten Gelegenheit zur Stellungnahme, haben davon aber nicht Gebrauch gemacht.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
I.
§ 1 Abs. 1 StrRehaG, auf den sich die Entscheidung des Oberlandesgerichts stützt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. a) § 1 Abs. 1 StrRehaG verstößt nicht gegen Art. 1 Abs. 1 GG.
aa) Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgt die Unverletzlichkeit der Menschenwürde; Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Staat zu ihrem Schutz. Die Menschenwürde umfaßt den sozialen Wert- und Achtungsanspruch der Person (vgl. BVerfGE 30, 173 ≪195≫; 96, 245 ≪249≫). Jede strafgerichtliche Verurteilung enthält ein sozial-ethisches Unwerturteil (vgl. BVerfGE 22, 49 ≪79≫; 45, 272 ≪288≫; 95, 96 ≪140≫; 96, 245 ≪249≫), das den in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch des Verurteilten berührt (vgl. BVerfGE 96, 245 ≪249≫).
Im Gegensatz zur strafrechtlichen Verurteilung ist Gegenstand der Rehabilitierung nicht der Ausspruch eines sozial-ethischen Unwerturteils, sondern dessen Beseitigung. Auch wenn eine Rehabilitierung abgelehnt wird, bedeutet dies nicht den erneuten Ausspruch des Unwerturteils. Diese Besonderheiten prägen den Umfang der Verpflichtung des Staates zur strafrechtlichen Rehabilitierung aus dem Schutz der Menschenwürde.
bb) Artikel 18 des Einigungsvertrags ordnet an, daß Entscheidungen der Gerichte der DDR wirksam bleiben; er läßt Artikel 17 des Einigungsvertrags unberührt. Artikel 17 zielt auf die gesetzliche Grundlage einer Rehabilitierung aller Personen, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind. Der Einigungsvertrag verlangt also vom Gesetzgeber, aus der Menge fortgeltender gerichtlicher Entscheidungen diejenigen zu bezeichnen, die rechtsstaats- und verfassungswidrig sind. Es galt, in der historischen Umbruchsituation nach der Wiedervereinigung einen praktikablen Weg des Umgangs mit staatlichem Unrecht zu finden, das von der Justiz der DDR begründet worden war und das die Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung vorfand, ohne daß sie dafür verantwortlich ist oder dafür einzustehen hat (vgl. BVerfGE 84, 90 ≪122 f.≫).
cc) Bei strafrechtlichen Verurteilungen der DDR-Gerichte, die die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet haben, hat der Gesetzgeber eine Form der Rehabilitierung zur Verfügung gestellt, die den Strafmakel und seine Folgen im Rahmen des Möglichen beseitigt. Solches Unrecht kann unter der Wertordnung des Grundgesetzes keinen Bestand haben. Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Angehörigen der DDR-Grenztruppen wegen der Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze entschieden (vgl. BVerfGE 95, 96 ≪133≫; ebenso zur Rechtsbeugung BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluß vom 7. April 1998 – 2 BvR 2560/95 –, NJW 1998, S. 2585). Die dort formulierten Grundsätze gelten gleichermaßen für das Unrecht, um das es bei der strafrechtlichen Rehabilitierung geht. Den Fortbestand des Strafmakels aus einer Verurteilung, die die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet hat, müssen die Verurteilten nicht hinnehmen.
dd) Bei der Ausgestaltung der strafrechtlichen Rehabilitierung hatte der Gesetzgeber aus der ungeschiedenen Gesamtheit aller Entscheidungen der DDR-Strafgerichte die rehabilitierungswürdigen Judikate verläßlich herauszufiltern. Außerdem mußte er der im Rechtsstaatsprinzip verankerten Rechtssicherheit Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 6, 132 ≪198 f.≫).
Diese Schwierigkeiten eröffnen dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen einen weiten Gestaltungsraum. Erst dann, wenn die gesetzlichen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen (vgl. BVerfGE 79, 174 ≪202≫), kann das Bundesverfassungsgericht eine Pflichtverletzung feststellen.
b) Gemessen an diesen Maßstäben ist § 1 Abs. 1 StrRehaG nicht zu beanstanden. Die Regelung hält sich im Rahmen des Gestaltungsraums, der dem Gesetzgeber zukommt.
aa) § 1 Abs. 1 StrRehaG eröffnet dem für eine Rehabilitierung zuständigen Gericht die Möglichkeit, auf eine rechtsstaatswidrige Verurteilung dann zureichend zu antworten, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind: Es hebt die Verurteilung des DDR-Gerichts auf und stellt ihre Rechtsstaatswidrigkeit ausdrücklich fest. Dadurch wird das sozial-ethische Unwerturteil, das auf dem Verurteilten lastet, für die Öffentlichkeit aufgehoben. Das im Gesetz bestimmte Antragserfordernis eröffnet überdies dem Betroffenen die Möglichkeit, selbst für die Verwirklichung seines Anspruchs auf Achtung zu sorgen.
bb) Mit der Generalklausel, die auf die Unvereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung abstellt, hat die Norm einen weiten Anwendungsbereich bekommen. Dieser Anwendungsbereich wird strukturiert durch die Straftatbestände, die der Katalog des § 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG exemplarisch aufführt. Dadurch leitet der Gesetzgeber den für die Entscheidung über eine Rehabilitierung zuständigen Richter konkret an.
cc) Daß eine Rehabilitierung nicht bei sämtlichen rechtsstaatswidrigen Entscheidungen ermöglicht wird, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber durfte aus Gründen der Rechtssicherheit und Praktikabilität, insbesondere wegen der Unmöglichkeit, „Benachteiligungen aufgrund der über 40jährigen Entwicklung in der DDR rückwirkend vollständig zu korrigieren” (vgl. Leutheusser-Schnarrenberger, Bewältigung der rechtlichen Probleme der Wiedervereinigung, DtZ 1994, S. 290), rechtsstaatswidrige Entscheidungen geringeren Gewichts – die nicht vollstreckt und nicht in das Bundeszentralregister eingetragen werden (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 Buchstabe d des Einigungsvertrags; § 64a Abs. 3 Nrn. 1 und 2 Bundeszentralregistergesetz) – bestehen lassen. Seine Schutzpflicht hat er dadurch nicht verletzt. Entscheidungen der DDR-Gerichte hingegen, die die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet haben, sind auch im Sinne des § 1 Abs. 1 StrRehaG mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar und daher auch dann rehabilitierungsfähig, wenn die angewendeten Straftatbestände nicht im Regelkatalog enthalten sind.
dd) Der Gesetzgeber hat die Verfassung auch nicht dadurch verletzt, daß er die DDR-Straftatbestände der Fahnenflucht (§ 4 MStG; § 254 StGB/DDR) nicht in den Regelkatalog des § 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG aufgenommen hat. Verurteilungen der DDR-Gerichte wegen Fahnenflucht mißachteten in der Regel nicht die in der Völkergemeinschaft anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise: Die DDR war ein Staat im Sinne des Völkerrechts (vgl. BVerfGE 36, 1 ≪22≫) und hatte die Möglichkeit, eine Armee zu bilden und diese auch strafrechtlich abzusichern. Das Militärstrafrecht der DDR hielt sich im Rahmen militärstrafrechtlichen Herkommens (vgl. Busch, Das Militärstrafrecht der SBZ im Schnittpunkt von Rezeption und Tradition, ROW 1965, S. 156 ff. und 203 ff., 209) und zielte, wie für derartige Vorschriften allgemein üblich, jedenfalls auch darauf, die ständige Einsatzbereitschaft und Kampffähigkeit der Streitkräfte sicherzustellen (vgl. Rehm, Das Militärstrafrecht der DDR als ideologisches Instrument, ROW 1976, S. 121, 127). Die konkreten Aufgaben der einzelnen Soldaten waren nicht notwendig oder auch nur etwa regelmäßig menschenrechtswidrig. Besondere Fallkonstellationen, in denen sich Soldaten menschenrechtswidrigen Aufträgen durch Fahnenflucht zu entziehen versuchten und deshalb verurteilt wurden, können der Generalklausel des § 1 Abs. 1 StrRehaG subsumiert werden. Sie begründen jedoch nicht die Regel, daß DDR-Verurteilungen wegen Fahnenflucht schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen darstellten.
2. a) § 1 Abs. 1 StrRehaG verletzt nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz darf der Gesetzgeber nicht wesentlich Gleiches ohne rechtfertigenden Grund ungleich behandeln und entsprechend wesentlich Ungleiches nicht gleich (vgl. BVerfGE 4, 144 ≪155≫; 86, 81 ≪87≫). Dabei wird durch eine Gewichtung nach Verhältnismäßigkeit ermittelt, ob und inwieweit die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit rechtserheblich ist. Art. 3 Abs. 1 GG gestattet es dem Gesetzgeber nur dann, Personengruppen ungleich zu behandeln, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 65, 377 ≪384≫; 78, 232 ≪247≫; 79, 87 ≪98≫; 92, 277 ≪318≫). Die Bindung des Gesetzgebers ist umso enger, je mehr sich Merkmale personenbezogener Differenzierung den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern (vgl. BVerfGE 92, 26 ≪51≫). Zudem müssen sich die gesetzlichen Differenzierungen sachbereichsbezogen auf einen vernünftigen oder sonstwie einleuchtenden Grund zurückführen lassen (vgl. BVerfGE 75, 108 ≪157≫; 76, 256 ≪329≫).
b) Gemessen an diesen Maßstäben ist es nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber die DDR-Straftatbestände der Fahnenflucht nicht in den Regelkatalog des § 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG aufgenommen hat.
aa) Die Differenzierung zwischen Wehrdienstentziehung und -verweigerung einerseits, wo politische Verfolgung vermutet wird (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 g StrRehaG), und Fahnenflucht andererseits, wo eine Rehabilitierung nur im Einzelfall über die Generalklausel des § 1 Abs. 1 StrRehaG beim Nachweis entsprechender Umstände erlangt werden kann, verletzt den allgemeinen Gleichheitssatz nicht.
(1) Dem steht nicht entgegen, daß die Unterscheidung zunächst einem personenbezogenen Kriterium folgt, das die Betroffenen im Zeitpunkt der Rehabilitierung durch ihr Verhalten nicht mehr beeinflussen können, nämlich der Verurteilung aus einer bestimmten Strafvorschrift. Damit wird nicht an Merkmale angeknüpft, die den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten entsprechen oder nahekommen. Insbesondere sind die politischen Anschauungen der Betroffenen nicht – auch nicht mittelbar – Anknüpfungspunkt der Differenzierung des Gesetzes. Angeknüpft wird allein an die der Verurteilung zugrunde liegende Handlung: Während eine Verurteilung wegen Wehrdienstverweigerung politische Verfolgung indiziert, gilt dies für Verurteilungen wegen Fahnenflucht nicht. Das nach der Konzeption des Gesetzes letztlich entscheidende Kriterium – die politische Verfolgung – gilt jedoch für Fahnenflüchtige ebenso wie für Wehrdienstverweigerer. Ergibt sich nach den Umständen des Falles, daß ein Fahnenflüchtiger aus politischen Gründen verurteilt worden ist, so ist er ebenso wie ein wegen Wehrdienstverweigerung Verurteilter zu rehabilitieren; umgekehrt ist die Vermutung der politischen Verfolgung bei einer Verurteilung wegen Wehrdienstverweigerung widerlegbar. Die vom Gesetzgeber gewählte Technik der Regelbeispiele bindet die Gerichte nicht starr an die Unterscheidung zwischen Fahnenflüchtigen und Wehrdienstverweigerern, sondern läßt ihnen Raum, bei entsprechenden Umständen im Einzelfall von der gesetzlichen Vermutung abzuweichen.
(2) Der im Gesetz genannte Grund für die Differenzierung zwischen Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung und Verurteilungen wegen Fahnenflucht – die Verurteilung hat politischer Verfolgung gedient (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 1. Halbsatz StrRehaG) – ist, bezogen auf den betroffenen Sachbereich der Wiedergutmachung von Unrecht einer fremden Staatsgewalt, einleuchtend und hinreichend gewichtig. Der Tatsache der politischen Verfolgung durfte der Gesetzgeber beachtliches Gewicht beimessen. Die Rehabilitierung gerade der „Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme” war bereits im Einigungsvertrag angelegt (Art. 17). Das Grundgesetz mißt dem Schutz politisch Verfolgter besondere Bedeutung bei (Art. 16a GG). Mit dieser Wertung steht die Ausrichtung der Rehabilitierung auf politisch Verfolgte in Einklang.
(3) Auch die tatsächliche Einschätzung des Gesetzgebers, Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung hätten, anders als Verurteilungen wegen Fahnenflucht, in der Regel der politischen Verfolgung gedient, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Sie fußt auf einer Bewertung historischer Vorgänge, die sich nicht exakt messen oder nach Zahlen feststellen lassen. Daher steht dem Gesetzgeber hier ein weiter Einschätzungsraum zu (vgl. auch BVerfGE 98, 169 ≪203≫ – Gefangenenentlohnung), zumal die Gerichte in begründeten Einzelfällen die Möglichkeit haben, von der generellen Einschätzung des Gesetzes abzuweichen. Die Grenzen seines Beurteilungsraums hat der Gesetzgeber eingehalten.
Nach Berichten über die Situation von Wehrdienstentziehern und -verweigerern und unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens des Wehrdienstes in der DDR liegt der Schluß nicht fern, daß in der DDR mit der Bestrafung von Wehrdienstverweigerern anders als mit der Bestrafung von Fahnenflüchtigen typischerweise ein Verhalten sanktioniert werden sollte, das als regimefeindlich betrachtet wurde.
Ein Recht auf Wehrdienstverweigerung hat es in der DDR nicht gegeben. Auch die schlichte Weigerung, den Wehrdienst zu leisten, war strafbar (§ 256 Abs. 1 StGB/DDR). Zwar wurde 1964 die Möglichkeit eines waffenlosen Ersatzdienstes in den Baueinheiten geschaffen (Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 7. September 1964, GBl DDR I S. 129). Die Bausoldaten waren aber nach dieser Anordnung in die Armee integriert und konnten auch zum Ausbau von Verteidigungs- und sonstigen militärischen Anlagen eingesetzt werden. In der Literatur wird dazu ausgeführt, die Bausoldaten seien jedenfalls bis 1975 fast ausschließlich an militärischen Objekten eingesetzt worden (vgl. Garstecki, Verweigerung und demokratische Erneuerung in: Janning/Pokatzky/Röder/Tobiassen, Kriegs-/Ersatzdienstverweigerung in Ost und West, 1990, S. 234).
Danach ist die Einschätzung des Gesetzgebers nicht zu beanstanden, daß Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung in der Regel der politischen Verfolgung gedient hätten, während bei Verurteilungen wegen Fahnenflucht von einer solchen Verfolgung nur angesichts besonderer Umstände im Einzelfall auszugehen sei.
(4) Zwar erfaßt der Tatbestand der „Wehrdienstentziehung” gemäß § 256 Abs. 2 StGB/DDR – der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 g StrRehaG enthalten ist – jede Beeinträchtigung der Dienstfähigkeit durch körperliche Eingriffe, etwa auch durch Alkoholmißbrauch im Dienst; mit dem inkriminierten Verhalten mußte nicht die gänzliche Entziehung vom Wehrdienst bezweckt sein (vgl. Ministerium der Justiz, Strafrecht der DDR, Lehrkommentar, Band II 1969, Nr. 3 zu § 256). Bei der Aufnahme der Straftatbestände der Wehrdienstentziehung und -verweigerung in den Regelkatalog des § 1 Abs. 1 StrRehaG handelt es sich jedoch um eine Typisierung des Gesetzgebers, bei der in Kauf genommen wird, daß durch das Sieb der Typisierung ein mäßiger Prozentsatz solcher Personen gleitet, die bei individualisierendem Maßstab nach der Idee des Gesetzes nicht begünstigt würden (vgl. BVerfGE 17, 1 ≪24≫). Ihre Zahl ist nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers gering: In den Fällen, in denen feststeht, daß ein nach § 256 Abs. 2 StGB/DDR Verurteilter sich nicht grundsätzlich dem Wehrdienst entziehen wollte und seine Verurteilung auch sonst keinen politischen Hintergrund hatte, ist die Vermutung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 g StrRehaG widerlegt, und eine Rehabilitierung darf nicht erfolgen.
bb) Schließlich liegt ein Gleichheitsverstoß auch nicht darin, daß die bundesdeutsche Justiz die Leistung von Rechts- und Amtshilfe an die DDR-Behörden nach dem Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen vom 2. Mai 1953 – RHG – (BGBl I S. 161) bei Verurteilungen von Fahnenflucht regelmäßig abgelehnt hat (vgl. etwa nicht veröffentlichte Entscheidungen des OLG Koblenz vom 23. März 1978 und des OLG Düsseldorf vom 21. Januar 1983, in Auszügen zitiert bei LG Schwerin, Beschluß vom 23. September 1993, – BRh 891/91 –, VIZ 1994, S. 91, 93 f.; Pfister, Anmerkung zu Landgericht Schwerin, Beschluß vom 8. März 1993, – BRh 378/90 –, VIZ 1993, S. 317). Die Hilfeleistung bei der Vollstreckung, die nach dem Rechtshilfegesetz zu beurteilen war (§ 15 in Verbindung mit § 2 RHG), kann nicht mit einer Versagung der Rehabilitierung gleichgesetzt werden. Während die Vollstreckung einer DDR-Verurteilung mit Hilfe bundesdeutscher Behörden einen Eingriff der Bundesrepublik in Grundrechte des Betroffenen darstellte, betrifft die Rehabilitierung die Wiedergutmachung von Unrecht der DDR-Justiz, das die Bundesrepublik nicht zu verantworten hat.
II.
Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes.
1. Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält auch die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, der die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Verfahrensgegenstands ermöglichen muß (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪291≫). Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verleiht dem Einzelnen einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Dieses Grundrecht ist verletzt, wenn die Gerichte die prozeßrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, daß ihnen eine sachliche Prüfung derjenigen Fragen, die ihnen vorgelegt worden sind, nicht möglich ist (vgl. BVerfGE 53, 115 ≪127 f.≫) und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann (vgl. BVerfGE 78, 88 ≪98 f.≫).
Hält sich ein Rehabilitierungsgericht an die Tatsachenfeststellungen des DDR-Gerichts für gebunden und legt es diese seiner Entscheidung ungeprüft zugrunde, so mißachtet es seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG), und verfehlt schon im Ansatz das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, zur Rehabilitierung politisch Strafverfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der DDR-Gerichte zu durchbrechen. Nicht nur die Auslegung und Anwendung des Gesetzes, sondern auch die Feststellung der Tatsachen, welche die Gesetzesanwendung tragen, kann den Verurteilten in seinen Grundrechten verletzen.
Der Richter, der im Verfahren der Rehabilitierung dazu aufgerufen ist, Urteile auf ihre Vereinbarkeit mit wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen hin zu überprüfen, darf seinen Prüfungsauftrag nicht dadurch verengen, daß er die Feststellungen dieses Urteils schlicht übernimmt, obwohl der Vortrag politischer Verfolgung Anlaß zur Prüfung gegeben hätte.
2. Nach diesem Maßstab kann die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts keinen Bestand haben.
a) Eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle hat das Oberlandesgericht nicht durchgeführt, weil es ohne weiteres angenommen hat, es sei an die Feststellungen des Militärgerichts gebunden. Damit hat es den Amtsermittlungsgrundsatz vernachlässigt, den der Gesetzgeber im Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des Rehabilitierungsgerichts gegenüber den Antragstellern und im Hinblick auf die Schwierigkeiten vorgesehen hat, die sich gerade mit der Aufklärung von Sachverhalten stellen, die häufig in fernerer Vergangenheit liegen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks 12/1608, S. 21).
Die Frage, ob die Entscheidung des Militärgerichts der politischen Verfolgung des Beschwerdeführers gedient hat, hat das Oberlandesgericht allein aufgrund der Feststellungen des militärgerichtlichen Urteils verneint, ohne zu prüfen, ob im Hinblick auf das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe sich aus Widerspruch gegen die herrschenden politischen Verhältnisse dem Wehrdienst entzogen und sei mit politischer Zielsetzung verurteilt worden, Anlaß zu weiterer Sachaufklärung bestand. Auch den Einwand des Beschwerdeführers, das Militärgericht habe eine grob überhöhte Strafe ausgesprochen, weil es aus politischen Gründen der Minderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers nicht Rechnung getragen habe, hat das Oberlandesgericht allein unter Hinweis auf die Feststellung der vollen strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch das Militärgericht übergangen. Auch hier hat es nicht geprüft, ob Anlaß zu weiteren Ermittlungen bestand, etwa durch eine Vernehmung des Verurteilten oder von Zeugen. Es hat nur darauf verwiesen, Angriffe gegen die Beweiswürdigung des zugrundeliegenden Urteils gingen im Rehabilitierungsverfahren grundsätzlich ins Leere, weil das Rehabilitierungsgericht an die Feststellungen des zugrundeliegenden Urteils gebunden sei.
b) Auf diesem Verstoß beruht die angegriffene Entscheidung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Gericht bei der von Verfassungs wegen gebotenen Beachtung seiner gesetzlichen Amtsermittlungspflicht den Vortrag des Beschwerdeführers zum Anlaß weiterer Ermittlungen genommen und dies dem Rehabilitierungsantrag des Beschwerdeführers im Ergebnis zum Erfolg verholfen hätte. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, daß bereits die schriftlichen Urteilsgründe des Militärgerichts, die dem Beschwerdeführer seine „hartnäckige” Weigerung, den Wehrdienst abzuleisten, und den Empfang westlichen Fernsehens angelastet hatten, ihn in die Nähe eines nach dem Regelkatalog zu rehabilitierenden Wehrdienstverweigerers rückten.
Auch eine mögliche Klärung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers hätte im Ergebnis zu einer ihm günstigeren Entscheidung führen können. Denn wenn seine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen seiner Persönlichkeitsentwicklung gemindert gewesen wäre, hätte die Strafe nach §§ 16 Abs. 2, 62 StGB/DDR gemildert werden können, so daß das Oberlandesgericht zu prüfen gehabt hätte, ob unter Berücksichtigung dieses Umstands die vom Militärgericht angeordneten Rechtsfolgen nicht in grobem Mißverhältnis zu der zugrundeliegenden Tat gestanden haben (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG).
III.
Weil die Entscheidung des Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt, ist sie aufzuheben und das Verfahren an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
Gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG hat das Land Mecklenburg-Vorpommern dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu ersetzen.
Unterschriften
Limbach, Kirchhof, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 07.12.1999 durch Frik Angestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 565437 |
NJ 2000, 22 |